Einleitung
Der Filmmusiksammler an sich ist ein seltsames, für seine Mitmenschen oft schwer zu durchschauendes Wesen. Zu dessen Merkwürdigkeiten zählt der Umstand, dass es sich nicht selten mit Tonträgern zu längst vergessenen Filmen alter Tage versorgt, die es häufig selbst nicht einmal kennt. Hinzu kommt, dass verdiente Filmmusik-Labels wie Intrada, Varèse Sarabande, Film Score Monthly (FSM) und einige andere Filmmusik aus Hollywoods Golden Age und nachfolgenden „Epochen“ in so strengen Limitierungen veröffentlichen, dass häufig ein (auch durch Ebay-Spekulanten) induzierter Run einsetzt. Entsprechend ist der interessierte Sammler gezwungen, seine Kaufentscheidung mitunter innerhalb weniger Tage — zuweilen auch Stunden — zu treffen, ansonsten droht er beim schnellen Ausverkauf eines Titels leer auszugehen. Ein tiefes Loch in des Sammlers Geldbörse droht ohnehin, denn mit dem Tempo, in welchem die Labels ihre Titel auf den Markt bringen (bei Intrada z. B. im Durchschnitt zwei Titel alle zwei Wochen) können die wenigsten mithalten. Das gilt selbst dann, obwohl viele Titel musikalisch gerade mal von durchschnittlicher Qualität sind. Besagter Run wird zusätzlich in einschlägigen Internet-Sammlerforen durch gezielte Ankündigungen inklusive Ratespiel, der so genannten Clues, noch verstärkt. Mit dem Resultat, dass sich manche europäische Sammler tatsächlich nachts den Wecker setzen, um eine US-Veröffentlichung eines derart beworbenen Titels nicht zu verpassen.
Ob sich die Labels mit dieser Veröffentlichungsstrategie in der weltweit doch recht überschaubaren Sammlerszene langfristig einen Gefallen tun, erscheint eher zweifelhaft. Hierbei einfach nur Profitgier zu unterstellen, ist jedoch falsch: Lizenzgebühren und weitere Kosten für Pressung, Booklet-Erstellung und Vertrieb lassen keinen Raum für üppige Gewinne. Reich wird damit keiner. Vielmehr — und das muss einmal mehr gesagt werden — handelt es sich bei den Verantwortlichen um wahre Überzeugungstäter, die aus Liebe zur Musik tätig sind, allen voran Lukas Kendall (FSM) und Douglass Fake (Intrada), oder in Deutschland das kleine Team von Alhambra Records.
In den vergangenen zwei Jahren erblickten verschiedene Filmmusik-Perlen aus dem Archiv der 20th Century Fox das Licht der Sammlerwelt, von denen nachfolgend drei des Intrada-Labels vorgestellt werden, von denen zwei allerdings regulär längst ausverkauft sind.
Hilda Crane / The Revolt of Mamie Stover (1956)
Im Zentrum der Filme des ersten Albums stehen zwei Heroinen im gesellschaftlichen Umfeld ihrer Zeit. Bei den hier vertretenen Komponisten Hugo Friedhofer und David Raksin handelt es nicht nur um zwei Männer, die eine persönliche Freundschaft verband, sondern auch um Vertreter einer ausgeprägter amerikanisch gefärbten Tonsprache, etwas, das gegenüber der Mehrzahl ihrer stilistisch eher europäisch geprägten Komponistenkollegen in jener Zeit noch eine Rarität darstellte. Neben den obligatorischen europäischen Einflüssen werden Elemente von der Copland-Americana bis zum Jazz aufgegriffen und ebenso wenig moderne, harschere Klangstrukturen außer Acht gelassen. David Raksins Musik zu Laura (1944) und Hugo Friedhofers Oscar-prämierter Americana-Score zu The Best Years Of Our Lives • Die schönsten Jahre unseres Lebens (1946) stehen hierfür exemplarisch. Informationen zur Biografie von David Raksin finden Sie im Cinemusic-Artikel von Michael Boldhaus zum FSM-Album Two Weeks in Another Town • Zwei Wochen in einer anderen Stadt. Marko Ikonic hat das Leben und Werk von Hugo Friedhofer bereits ausführlich in einem großen Cinemusic-Special gewürdigt: „Ein Gigant im Schatten von Zwergen: Der Filmkomponist Hugo Friedhofer“ (Teil 1 und Teil 2).
Im Drama Hilda Crane (1956) verkörpert Jean Simmons eine aus der Sicht der 1950er Jahre moderne Frau, welche durch Scheidung in ihrer heimatlichen Kleinstadt gesellschaftlichen Zwängen und Problemen ausgesetzt ist. Der Fox-Film unter der Regie von Philip Dunne entstand nach dem gleichnamigen Schauspiel von Sam Raphaelson und dürfte in seinen moralischen Konventionen mittlerweile als zeitlich überkommen angesehen werden. Zu seiner Zeit war er wenig erfolgreich und hat es daher auch nie in die deutschen Kinos geschafft. Im US-Fernsehen wird er jedoch noch gelegentlich gezeigt. Dieser Filmtitel wird dann eher dem interessierten Filmmusiksammler im Bewusstsein haften bleiben, denn die Musik von David Raksin ist gerade auch in der ca. 31-minütigen Intrada-Veröffentlichung besonders reizvoll und alles andere als überholt.
Ähnlich wie für Laura entwickelt Raksin das musikalische Material fast vollständig aus dem bereits im Main Title vorgestellten, breiten Hauptthema, aus dem er weitere Nebenthemen gekonnt ableitet. Der Main Title ist ein quirliges, virtuoses Americana-Setpiece, welches das geschäftige Stadtleben in Töne fasst. Im weiteren Verlauf nimmt Raksin die Musik merklich zugunsten der Dialogszenen zurück. Streicher und superbe Soli des Tenorsaxophons bestimmen weite Teile der harmonisch dicht gearbeiteten, anspruchsvollen Partitur. Das fordert anfänglich etwas Einhörarbeit ab; die Schönheiten und Details des Raksin-Scores erschließen sich nicht sofort, dafür aber nachhaltig. Einen dramatischen Höhepunkt erreicht die Musik in Track 11 („What Are You?“). Die Hauptaufgabe des Scores liegt hier in der psychologisch stimmigen Kommentierung der Dialoge und der zwischenmenschlichen Konflikte, wirkt jedoch dabei nicht düster-brodelnd, wie es für Noir-Vertonungen die Regel war. Die Grundstimmung bleibt weitestgehend optimistisch, und die Musik verlässt den vorgegebenen melodischen Pfad nicht. Vielmehr ist nach mehrmaligem Hören festzustellen, wie subtil Raksin das Hauptthema nuanciert und modelliert. Hierin liegt eindeutig der Reiz dieser Musik. Eine musikalische Einordnung des Scores bereitet Schwierigkeiten. Als entfernter Vergleich kommt Alfred Newmans Musik zu All About Eve • Alles über Eva (1950) in den Sinn. Alfred Newman ist nicht nur als Komponist eine Legende. Als langjähriger Chef des 20th-Century-Fox-Music-Departments war er auch für die Überwachung sämtlicher Musikprojekte des Studios verantwortlich und verfügte daher nicht nur über ein hervorragendes Orchester, sondern auch über einen ganzen Stab an Komponisten und Orchestratoren. So galt er auch als Mentor vieler jüngerer Kollegen, denen er filmmusikalische Projekte übertrug. David Raksin war einer seiner Schützlinge. Alfred Newman war außerdem ein leidenschaftlicher Dirigent, sodass er neben dem Komponieren regelmäßig die Stabführung bei den Musikaufnahmen Dritter übernahm, wie hier bei Hilda Crane.
Die diskografische Aufarbeitung des umfangreichen Schaffens David Raksins steckt noch in den Kinderschuhen, sodass jede Veröffentlichung willkommen ist und gemessen am Rang des Komponisten einen hohen Repertoire-Wert besitzt. Für Hilda Crane halte ich vier Sterne für angemessen.
Hugo Friedhofers Musik zu The Revolt of Mamie Stover • Bungalow der Frauen entstand im selben Jahr (1956) wie der Raksin-Score für 20th Century Fox, Regie führte Raoul Walsh. Im Mittelpunkt der Handlung steht eine toughe Prostituierte (Jane Russell), die auf Hawaii am Vorabend des Ausbruchs des Pazifikkrieges ihr Glück sucht. Der Prüderie der Entstehungszeit entsprechend wird die Prostituierte als Animiermädchen verharmlost, das in den Hafenbars eines Stützpunktes der amerikanischen Pazifikflotte den Soldaten den Kopf verdreht. Der Film gesellt sich damit zu einer ganzen Reihe von Weltkrieg-II-Abenteuern. Viele davon sind nicht mehr als mittelprächtig und tendenziös geraten und benutzen den historischen Rahmen lediglich als exotische Kulisse für soapige Romanzen (siehe dazu auch Never So Few • Wenn das Blut kocht (1958) oder Battle Cry • Urlaub bis zum Wecken (1955).
Hugo Friedhofers Musikbeitrag fällt in eine für ihn arbeitsreiche Zeit und gehört bestimmt nicht zum Stärksten im Œuvre des Komponisten. Eine gewisse handwerkliche Routine ist hier sicherlich erkennbar, diese bewegt sich jedoch auf gehobenem Niveau und zeigt eindrucksvoll, wie stilsicher Friedhofer verschiedenste musikalische Genres zu bedienen wusste. Entsprechend der Filmhandlung und des Schauplatzes in hawaiianischen Bars steht Friedhofers Musik sowohl der Big-Band-Ära als auch einer jazzig-schwülen Tonsprache nahe, wie sie für derartige Filmsujets in den 1950ern prägend und typisch war und außerdem Elemente zeittypischer Unterhaltungsmusik mit symphonischer Untermalung vermischt. Bereits der Main Title ist eine ohrwurmartige, schmissige Big-Band-Blues-Nummer. Das hier vorgestellte Hauptthema „Walking Home with the Blues“ verwendet Friedhofer in verschiedenen Arrangements, wobei der Übergang von Score zu Source-Musik häufig fließend verläuft. Damit ist Friedhofers The Revolt of Mamie Stover auch in gewisser Weise ein Artverwandter der Filmmusicals dieser Zeit. Friedhofers Beitrag ist somit schon merklich dem Zeitgeschmack verpflichtet und deutet damit auch die in jenen Jahren immer stärker in Hollywood Einzug haltende Pop-Musik an. Letztlich ist die Mamie-Stover-Musik dann doch zu versiert und stilsicher ausgeführt, um einfach nur als belanglos abgetan zu werden. Dabei hat das fantastisch aufspielende Fox-Orchester unter der Leitung von Lionel Newman, Alfreds Bruder, klaren Anteil. Besonderes Lob gilt den Trompetern in den Big-Band-Nummern mit ihrem herrlich „dreckigen“ Sound. Dass die alten Musikaufnahmen außerdem noch in sehr guter Qualität vorliegen, ist dabei umso erfreulicher. Allerdings bleiben dem Hörer einige zwischen Kitsch und Klischee stehende Nummern nicht erspart, insbesondere „Sing Me a Song of the Island“ mit jaulend-schmalzigen Hawaii-Gitarren oder die eine oder andere der Gesangsnummern, welche nicht aus der Feder Friedhofers, sondern aus der des Songwriter-Teams Sammy Fain/Paul Francis Webster stammen.
Letztlich ist der Score in den sinfonischen Momenten am stärksten. Für die maritimen Stimmungen arbeitet Friedhofer mit dezent impressionistischen Klangfarben („The Voyage“, „Dreaming and Scheming“). In den wenigen Szenen, die das Kriegsgeschehen kommentieren, wird die Tonsprache schroffer und erinnert an Vergleichbares aus seiner Musik zu Between Heaven and Hell • Feuertaufe (1956) oder an In Love and War • Hölle, wo ist dein Schrecken? (1958).
Eine Bewertung von drei Sternen mit Tendenz zu dreieinhalb steht für etwas mehr als die solide, kleine Empfehlung.
Der Sound der Originalbänder ist hier trotz des gleichen Entstehungsjahres unterschiedlich, im Ergebnis jedoch zufriedenstellend, wobei Hilda Crane zuweilen etwas topfig klingt. Wahrscheinlich war für die Restauratoren klanglich nicht mehr herauszuholen. Beim Friedhofer-Score ist der Klang gut bis sehr gut, besonders die einleitende Big-Band-Nummer kommt kraftvoll, frisch und dynamisch daher. Für die Albumwertung muss jedoch der besondere Repertoire-Wert der Raksin-Musik stärker berücksichtigt werden, sodass vier Sterne sicher nicht zu hoch gegriffen sind.
In Love and War / Woman Obsessed
Das Intrada-Album aus dem Jahr 2007 war mit einer kleinen Auflage von 1200 Kopien auf den Sammlermarkt gekommen und bereits recht früh ausverkauft. Hierfür ist sicherlich in erster Linie die Zugkraft des zweiten Filmtitels des Albums, In Love and War • Hölle, wo ist dein Schrecken? (1958), verantwortlich, eines in den USA noch heute in dortigen Fernsehprogrammen gelegentlich gezeigten Filmes. Im deutschsprachigen Raum ist der Streifen nahezu unbekannt. Der Film von Regisseur Philip Dunne (Hilda Crane) erzählt die Geschichte von drei aus unterschiedlichem Milieu stammenden US-Marines. Ein kompositorisch geschliffener, eher nüchterner, von militärisch anmutenden Fanfaren und Snare-Drums durchsetzter Kriegsmarsch steht zu Beginn des Films und verweist gleichzeitig ein wenig auf Jerry Goldsmiths berühmten Marsch aus Patton (1971).
Der Film thematisiert neben den Kriegserlebnissen auch das private Schicksal der Soldaten an der US-Heimatfront. Hier gibt es ein Déjà-vu mit Friedhofers „Walking Home with the Blues“ aus The Revolt of Mamie Stover, das dieser in dem Track „Sue and Alan“ fast 1:1 wiederverwendet. Diese Art der musikalischen Wiederverwertung war in Hollywood nicht unüblich und wurde auch von den prominenten Komponisten häufig praktiziert (beispielsweise verwendete Alfred Newman ein heroisches Thema aus The Hunchback of Notre Dame • Der Glöckner von Notre Dame (1939) in The Robe • Das Gewand (1953). Ebenso belieh Newman seine Musik zu Keys of the Kingdom • Die Schlüssel zum Himmelreich (1944) für seine Musik zur Hongkong-Romanze Love is a Many-Splendored Thing • Alle Herrlichkeit auf Erden (1955).)
In den lyrischen Momenten des Films greift Friedhofer auf warme Americana-Klänge zurück, die ein wenig an vergleichbare Passagen aus The Best Years of Our Lives (1946) erinnern. In den Teilen für das Kriegsgeschehen wird Friedhofers Musik grimmiger und greift auf das herbere tonsprachliche Vokabular seiner anderen Kriegsfilmvertonungen zurück. Rund acht Minuten der Musik, bestehend aus Main Title und Requiem, wurden bereits im Jahr 1987 von Fred Steiner mit dem National Philharmonic Orchestra neu eingespielt. Die rund 25 Minuten des Intrada-Albums liefern darüber hinaus noch weiteres thematisches Material. Gerade im Requiem zeigt sich Friedhofer wiederholt als besonders versierter Klangschöpfer: Das zuvor pathetische Hauptthema wird im Angesicht des Todes zweier der drei Protagonisten durch schroffe Bläserpassagen und spröde Streicherlinien ins Gegenteil verkehrt und ruft so die musikalische Illustration einer traumatischen Vision eines der Kriegsheimkehrer aus The Best Years of Our Lives (1946) in Erinnerung. In Gänze gehört fließt die Musik überaus gut und ist auch in der Albumkonzeption abwechslungsreich gestaltet.
Woman Obsessed • Ungebändigt (1959) ist ein Beziehungs- und Psychodrama vor der Naturkulisse Nordamerikas. Susan Hayward verkörpert eine junge Witwe, die mit ihrem Sohn versucht, eine Farm zunächst alleine weiter zu führen. Stephen Boyd (bekannt aus Ben-Hur) spielt den groben Landburschen, der auf der Farm aushilft. Nach der Hochzeit der Protagonisten kommt es zu Verhaltensänderungen und einer Zuspitzung der Beziehung bis hin zur Vergewaltigung.
Friedhofers Score unterstreicht die psychologischen Aspekte der Handlung genauso wie die Naturkulisse. Beides wird im kraftvollen Main Title nebeneinander gestellt: Ein absteigendes, kraftvoll-düsteres Acht-Noten-Motiv eröffnet den Score und signalisiert Gefahr. Es wird abgelöst durch ein breit ausschwingendes, episches Thema, welches mit der grandiosen Naturkulisse assoziiert werden kann. Wie häufig bei Friedhofer hat dieses Thema eine bitter-melancholische Einfärbung. Im weiteren Verlauf werden weitere, sehr reizende Nebenthemen vorgestellt, wie das für den Sohn „Robbie“ in Track 2. Überhaupt blühen immer wieder herrliche Melodielinien auf: In diesen lyrischen Momenten steht Friedhofers Filmmusik Alfred Newman nahe, aber ohne dabei ihre Eigenständigkeit zu verlieren. In den düsteren Spannungsmomenten arbeitet Friedhofer herber und schroffer. Durch die konsequente Verwendung und Variation des reichhaltigen thematischen Materials, inklusive des Gefahrenmotivs, verleiht Friedhofer dem Score Zusammenhalt. Daraus resultiert über die knapp 49 Minuten Spielzeit ein guter Hörfluss ohne Durchhänger. Vier Sterne mit Tendenz zu viereinhalb für diesen abwechslungsreichen wie auch inspiriert gefertigten Score halte ich für angebracht.
Klanglich ist das Album in Teilen durchwachsen. Zu beiden Scores lagen die Stereobänder in befriedigender bis guter Verfassung vor. Das präsentierte Klangbild ist sauber und transparent. Lediglich bei In Love and War sind in Teilen deutliche Schwankungen hörbar. Das Originalmaterial ist in Teilen unrettbar beschädigt und daher unvollständig. Die von Intrada vorgelegte Albumfassung ist jedoch gelungen und hinterlässt insgesamt einen starken Gesamteindruck.
Gemessen an seiner hohen Stellung innerhalb der Riege der großen Filmkomponisten ist Hugo Friedhofer diskografisch längst nicht so gut erschlossen wie beispielsweise Alfred Newman oder Miklós Rózsa. Daher besitzt dieses vorzügliche Album einen besonders hohen Repertoire-Wert. Es ist darüber hinaus auch eines, das nicht nur dem Freund des Golden Age der Filmmusik beträchtliche Hörfreude bereitet, sondern auch jüngeren Hörern empfohlen werden kann. Eine Wertung von fünf Sternen erscheint angemessen.
Boy on a Dolphin • Der Knabe auf dem Delphin (1957)
Um es vorweg zu nehmen: Das dritte Album dieser Besprechung und gleichzeitig die jüngste Friedhofer-Veröffentlichung hat es besonders in sich! Nicht nur, dass Friedhofer hier ein außerordentlich inspirierter und hochsolide ausgeführter Melodramenscore mit Klangexotik und Abenteuerflair gelungen ist. Dieser sorgt auch als Höralbum über die 50 Minuten Spielzeit nachhaltig für beträchtliche Freude. Da verwundert es kaum, dass Friedhofer 1957 gleich zweimal für den Oscar nominiert war: Für besagten Knaben auf dem Delphin und für An Affair to Remember • Die große Liebe meines Lebens. Die begehrte Trophäe ging in jenem Jahr jedoch an den Briten Malcolm Arnold für The Bridge on the River Kwai • Die Brücke am Kwai.
Der Film hingegen scheint heute allein noch dadurch bemerkenswert, weil er Sophia Lorens erste große Rolle in einer US-Produktion und zugleich ihr internationaler Durchbruch war. Die Loren spielt eine Schwammtaucherin auf der griechischen Ägäisinsel Hydra, die in einem Wrack eine antike Statue findet, welche einen auf einem Delphin reitenden Knaben zeigt. Zur Bergung sucht sie die Hilfe amerikanischer Geldgeber: Ein Archäologe (Alan Ladd) und ein Kunstsammler buhlen gleichsam um Statue und Loren, welche in den für ihre Zeit doch recht freizügigen Aufnahmen (auch aus heutiger Sicht noch) eine gute Figur macht.
Drollig ist eine Anekdote im Zusammenhang mit den Dreharbeiten: Hauptdarsteller Alan Ladd litt wohl unter den Sticheleien der griechischen Filmcrew, die sich immer wieder über seine Körpergröße lustig machte: Er war kleiner als Sophia Loren, sodass die Loren in den gemeinsamen Filmeinstellungen entweder in einem eigens für sie ausgehobenen Graben laufen musste oder Ladd auf einer Kiste stand, um ihn größer wirken zu lassen.
Die Stärke von Hugo Friedhofers Musik liegt in der klangsinnlichen Illustration der Tauch- und Unterwasserszenen sowie in der Verwendung von Lokalkolorit, wo er Elemente griechischer Folklore in seine Musik einbindet: Dafür ist ein Ensemble aus Klarinette, Trommel und Zupfinstrument eingebettet in den Klang des spätromantischen Orchesters. Die einleitende, aufsteigende Linie der Klarinette erinnert dabei ein wenig an Klezmer-Musik. Die Untermalung der Unterwasserszenen ruft Bernard Herrmanns wegweisende Musik zum Taucherfilm Beneath the 12-Mile Reef • Das Höllenriff (1953) hervor. Wo Herrmann die Meeresstimmungen durch ein massives Aufgebot von insgesamt neun Harfen und einen raffiniert instrumentierten Orchestersatz erzeugt, verzichtet Friedhofer zwar auf die Extravaganzen der Orchestration, setzt aber vergleichbar auf impressionistisches und spätromantisches Vokabular: Da schillert und schimmert es durch die ganze Partitur. In den Szenen mit der Titel gebenden Statue setzt er eine sirenenartige Sopran-Vokalise ein, welche der Musik einen fast unwirklichen, märchenhaften Charakter verleiht (vgl. auch Claude Debussys „Trois Nocturnes“). Aber auch über Wasser geht es in Friedhofers Musik äußerst markant zur Sache: Die Tracks „On the Road“ und „Frustration“ sind Friedhofer vom Feinsten, dessen musikalische Mittel von Broken Arrow • Der gebrochene Pfeil (1950) bis The Seven Cities of Gold • Die sieben goldenen Städte (1955) hier auf eigene Art Verwendung finden.
Einzig der Titelsong und die Verwendung des Songthemas, welches sich als romantisch-melancholisches Liebesthema durch den gesamten Score hindurchzieht, wirft einige Fragen auf, denn dieses scheint nicht von Friedhofer zu stammen. Wie akribische Recherchen des Cinemusic-Redakteurs Marko Ikonic ergeben haben, liegt die Urheberschaft des Liedes bei dem griechischen Komponisten Takis Morakis. Dessen ohrwurmhaftes Lied „Ti ein afto pou to lene agapi“ („Was ist das, was wir Liebe nennen?“) stammt aus dem Jahr 1954 und wurde von Friedhofer für Boy on a Dolphin adaptiert. Bei der seinerzeit erschienen Decca-LP wurde Morakis zumindest auf dem Cover erwähnt. Inwieweit Morakis weitere Teile der Musik beisteuerte oder ob er möglicherweise Friedhofer in Sachen griechischer Folklore beratend zur Seite stand, bleibt im Dunkeln. Dies sind Informationen, die man sehr gerne in einem fundierten CD-Booklet-Text gelesen hätte, doch hier zeigt sich wieder einmal das Manko sämtlicher Booklet-Texte dieser CD-Besprechung: Schön bebildert sind sie allemal, aber von Julie Kirgo, der Autorin zu allen vier CD-Begleittexten, erfährt man leider nicht wirklich viel zur Musik und ihrer Entstehung. Dass im Booklet zu Boy on a Dolphin aber überhaupt nichts zur Herkunft des Liedes gesagt wird, ist schon ein Fall von besonderer Schlamperei im eher üblichen Intrada-Booklet-Mittelmaß, welches offenbar nur für besonders prestigeträchtige Titel, wie jüngst bei Jerry Goldsmiths The Boys from Brazil (1978), überschritten wird.
Für die bereits erwähnte Decca-LP verfasste Friedhofer selbst den Covertext, welcher im Intrada-Booklet noch einmal mit abgedruckt wird. Auch hier findet die Urheberschaft des Liedes keine Erwähnung. Dafür äußert sich Friedhofer (allzu) sehr bescheiden über seine doch sehr fein gemachte und überzeugend wirkende Einbindung der griechischen Folklore. Nichtsdestotrotz wird das schöne Liedthema überaus kompetent in die Musik integriert. Vielfältige Stimmungen in Kombination mit ansprechenden Variationen wirken im Ergebnis, ähnlich wie Alfred Newmans Umgang mit Sammy Fains berühmter Titelmelodie zu Love Is a Many-Splendored Thing • Alle Herrlichkeit auf Erden (1955). Wie Newman reichert Friedhofer seine Filmmusik zusätzlich mit eigenen thematischen Einfällen an und verarbeitet alles handwerklich meisterhaft. Das lässt die Frage der Urheberschaft letztlich in den Hintergrund rücken und schmälert auch den Hörspaß an dieser wunderbaren Musik in keinster Weise.
Zum Song noch ein Paar Worte: Im Film wird er von Julie London auf einen englischen Text von Paul Francis Webster gesungen. Für die LP-Veröffentlichung durfte diese Version aus rechtlichen Gründen nicht übernommen werden. Entsprechend ist das Lied für das Album von Mary Kaye — ebenfalls sehr überzeugend — neu aufgenommen worden. Kayes Interpretation besticht durch ihr dunkles, warmes Stimmtimbre. Marko Ikonics Web-Recherche förderte schließlich auch ein drolliges Kuriosum zutage: Eine Aufnahme des Liedes mit Sophia Loren für eine LP mit dem Titel „Secrets of Rome“.
Der Klang des Boy-on-a-Dolphin-Albums ist gemessen an seinen 51 Lenzen sehr gut. War die auf CD erhältliche ursprüngliche LP-Präsentation mit 41 Minuten Spielzeit in Mono, so bekommt der Käufer der jüngsten Intrada-CD einen sauberen und weitgehend transparenten Stereoklang geboten — der für den Klang der Magnettonaufnahmen der Fox jener Jahre typische Schleier ist nur leicht zu spüren.
Gegenüber dem LP-Schnitt enthält die CD gut zehn Minuten mehr Musik plus eine Demo-Version des Titelsongs. Einziger Wermutstropfen ist das dürftige Begleitheft (s. o.). Friedhofers Musikbeitrag ist jedoch so stark und versiert ausgeführt, dass man in der Wertung volle fünf Sterne guten Gewissens vergeben mag.
Dieser Artikel ist Teil unseres Spezialprogramms zu Ostern 2009.
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