Rathaus: Der letzte Pierrot 2/Symphonie Nr. 1

Geschrieben von:
Michael Boldhaus
Veröffentlicht am:
8. Juni 2003
Abgelegt unter:
Sampler

Karol Rathaus: „Der letzte Pierrot“/Symphonie Nr. 1

Auch Karol Rathaus galt in den „roaring twenties“ als vielversprechendes neues Gestirn am musikalischen Firmament. 1895 im polnischen Tarnopol geboren, begann er schon im Kindesalter Klavierstücke zu komponieren. Seine Studien betrieb er zuerst in Wien, dann ab 1919 bei Franz Schreker in Berlin. Die Aufführungen seiner Werke erregten stets einiges Aufsehen, wenn auch nicht immer im positiven Sinne. Was für uns heutige Hörer im Kontext der Entstehungszeit gemäßigt modern klingt (etwa die beiden ersten Symphonien), erschien Presse und Publikum damals als radikal und stieß teilweise auf heftige Ablehnung. Auf der anderen Seite konnte Rathaus auch große Erfolge verbuchen, so beispielsweise mit dem 1927 uraufgeführten Ballett „Der letzte Pierrot“ und seiner erstmals 1930 in Berlin gegebenen Oper „Fremde Erde“.

Unter anderem machte sich Rathaus auch als Film- und Bühnenkomponist einen Namen. Seine dramaturgisch stimmige, und in Teilen mutig-experimentelle Musik zu Fjodor Ozeps „Der Mörder Dimitri Karamasoff“ von 1931 beeindruckte auch Bernard Herrmann tief, der sie später sogar zu einer der besten Filmmusiken erklärte, die er je gehört habe. Rathaus erkannte früher als viele, welch grundlegende Veränderungen sich in seiner Heimat vollzogen. 1932 emigrierte er über die Zwischenstationen Paris und London, wo er jeweils einige Jahre lebte und arbeitete, in die USA. Zwei weitere Jahre nach seiner Ankunft in Amerika im Jahr 1938 trat er in den Lehrkörper der noch sehr jungen Musikfakultät des New Yorker Queens College ein. Dort wirkte er bis zu seinem Tod 1954 als überaus beliebter und angesehener Kompositionslehrer und half, den ausgezeichneten Ruf des jetzt „Aaron Copland School of Music“ genannten College mitzubegründen.

Rathaus blieb unterdessen sehr produktiv, schrieb Auftragswerke und die eine oder andere Filmmusik und wurde bei prestigeträchtigen Projekten zu Rate gezogen (1952 z. B. wurde er mit der Aufgabe betraut, für die New Yorker Met eine näher am Original liegende Neufassung des „Boris Godunow“ von Mussorgsky zu erstellen). Auch manche seiner noch in Europa komponierten frühen Werke wurden hin und wieder aufgeführt; die einem Künstler seines Ranges wirklich gebührende Anerkennung blieb ihm jedoch versagt.

Es ist kaum zu glauben, aber die Einspielung der Symphonie Nr. 1 auf der Karol Rathaus gewidmeten CD der Decca-Reihe „Entartete Musik“ markiert die allererste Aufführung dieses Werkes seit der Premiere im Jahr 1926 (!). Gewisse Anlaufschwierigkeiten hatte die Symphonie schon zur Zeit ihrer Entstehung, denn fünf Jahre lang fand sich niemand, der das noch in der Berliner Studienzeit bei Schreker begonnene Stück aus der Taufe heben wollte. Das Risiko, mit einem schon bezüglich des geforderten Orchesterapparates riesenhaften Werk eines praktisch unbekannten Studenten möglicherweise durchzufallen, wollte niemand eingehen. Nach der skandalträchtigen Uraufführung der zweiten Symphonie 1925 lagen die Dinge etwas anders, doch mit seinem düster-expressiven und kraftvollen symphonischen Erstling traf der Komponist offenbar nicht den Publikumsgeschmack. Die Darmstädter Premiere endete in einem Pfeifkonzert, der sehr sensible Rathaus verwarf das Stück und vollzog eine Stilwende hin zu einem weniger schroff dissonanten Idiom, in dem sich Spätestromantik und moderne Elemente die Waage halten.

Ein echter musikalischer Leckerbissen ist das 1925/26 entstandene Ballett „Der letzte Pierrot“: Ein Pierrot aus dem 16. Jahrhundert wird in die 20er Jahre des 20. Jahrhunderts verfrachtet und versucht vergeblich, sich in der unendlich fremd erscheinenden, von Industrie, Kommerz und Unterhaltung geprägten Welt zurechtzufinden. Zu diesem Libretto schrieb Rathaus eine fabelhaft instrumentierte, abwechslungsreiche (sogar gewitzt in Orchestergewand gekleideten Jazz gibt es da zu hören) und sehr bildhafte – also stark in Richtung Filmmusik tendierende – Partitur für großes Orchester, die auch Gelegenheits-Klassikhörer auf Anhieb überzeugen dürfte.

Völlig zurecht ist diese rundum gelungene, auch klanglich herausragende Produktion mit dem „Preis der Deutschen Schallplattenkritik“ bedacht worden. Der israelische Dirigent Israel Yinon, hier am Pult des auf höchstem Niveau musizierenden Deutschen Symphonie-Orchesters Berlin, erweist sich als idealer Anwalt für diese Musik. (Ich habe Yinon vor allem als forsch zupackenden und zugleich feinsten Nuancen nachspürenden Chefdirigenten des Grazer Symphonischen Orchesters kennen und schätzen gelernt. Im Rahmen der „Europäischen Kulturhauptstadt Graz 2003“ gibt es als Teil des Abonnements-Zyklus des GSO auch eine Reihe namens „Aus der Tiefe des Vergessens“, in der vergessene Werke von Goldschmidt, Schulhoff, Rathaus, Viktor Ullmann, Heinz Tiessen, Alexandre Tansman, Emil Bohnke u. a. zur Aufführung gelangen. Yinons Verdienste um vergessene und „entartete“ Musik belegen auch zahlreiche weitere erstklassige CD-Einspielungen auf Koch-Schwann und anderen Labels.)

Lesen Sie hierzu in der Reihe „Im Dritten Reich verboten: Entartete Musik“:

Folge 1: Werke von Krenek, Korngold, Weill und Schreker

Folge 3: Werke von Eisler, Ullmann und Hindemith

Komponist:
Rathaus, Karol

Erschienen:
2003
Sampler:
Decca
Kennung:
455 315-2
Zusatzinformationen:
DSO Berlin, Israel Yinon

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