Kleine Klassikwanderung 37

Geschrieben von:
Michael Boldhaus
Veröffentlicht am:
2. Oktober 2007
Abgelegt unter:
Special

Von den Bayreuther Festspielen 1955: Der erste „Ring“ in Stereo!

Spricht man von Wagners Ring-Opern in der ersten Stereo-Einspielung auf Tonträger (damals noch LP), dann wurde bislang der 1958 in den Wiener Sofiensälen, mit ihrer vorzüglichen Akustik, begonnene Solti-Decca-Zyklus genannt. Seit dem Jahr 2006 ist dies anders, kommt der ebenfalls von der Decca bereits drei Jahre zuvor, im Sommer 1955, während der Bayreuther Festspiele erstellte Stereo-Mitschnitt zu seinem historischen Recht.

An dieser Stelle sei ein kleiner historisch-technischer Rückblick gestattet: In Deutschland wurde im Jahr 1940 durch die Entdeckung des Effekts der Hochfrequenz-Vormagnetisierung die zwar schon seit einigen Jahren gebräuchliche, aber technisch noch äußerst bescheidene Magnettonbandtechnik auf den richtigen Weg hin zum Hi-Fi-Sound gebracht. Bereits ab 1943 wurde diese bahnbrechende Verbesserung in Frequenzgang und Dynamik durch den Reichsrundfunk zu einer beachtlichen Anzahl früher Stereoaufnahmen eingesetzt, von denen allerdings leider nur wenige Fragmente erhalten geblieben sind. Als Kriegsbeute wurde damit das deutsche Magnettonbandgerät zur Basis der berühmten frühen, anfänglich amerikanischen, Stereo-Ära der 1950er. Was zuerst im Kino im Herbst 1952 durch Cinerama und 1953 durch Cinemascope mit mehrkanaligem Stereoton eingeläutet wurde, zog auf dem Sektor Musik ab 1954 erste kommerzielle Stereoaufzeichnungen nach sich. Bis zur Einführung der anfänglich ebenfalls teuren Stereo-LP im Jahr 1958 waren davon übrigens allein aufwändig angefertigte Tonbandkopien und insbesondere die ebenfalls erforderlichen Stereo-Wiedergabegeräte zu nur für Besserverdienende erschwinglichen Preisen erwerbbar – siehe dazu auch die Kleine Klassikwanderung 18: „MERCURY LIVING PRESENCE“ und „LIVING STEREO“, jetzt auch auf SACDs.

Die Europäer zogen zuerst über die britische Decca nach, die im besagten Jahr 1955 in Bayreuth mit Stereo experimentierte. Neben einem Mitschnitt von „Der fliegende Holländer“ wurde der komplette Ring-Zyklus aufgezeichnet. Während der Holländer 1970 zum ersten Mal in Stereo veröffentlicht worden ist, galten die Aufzeichnungen der vier Ring-Opern lange Zeit als in weiten Teilen verschollen. Im vergangenen Jahr hat das Label Testament nun alle vier Ring-Opern erstmalig zusammen auf LP und auf CD veröffentlicht.

Das damalige Team der Decca-Tontechniker wurde von Kenneth Wilkinson geleitet. An seiner Seite waren Roy Wallace sowie Gordon Parry als Assistenten beteiligt. Mit Hilfe eines von Roy Wallace entworfenen neuartigen Sechs-Kanal-Mischpults wurden sowohl Stereo- als auch Mono-Abmischungen erstellt. Drei der angeschlossenen Mikrofone waren im versenkten Orchestergraben platziert, und drei weitere an einer Beleuchtungsbrücke etwa 6 m oberhalb der Bühne abgehängt. Der rüstige Peter Andry, damals Produzent der Aufnahmen, erinnert sich an die vielfältigen zu überwindenden Schwierigkeiten in einem Artikel, der im jeder Box beiliegenden Begleitheft vertreten ist.

Der Eindruck, den diese Aufnahmen hinterlassen, ist in mehrerer Hinsicht vorzüglich. Da ist zum einen der volle, auch in der Tiefe säuberlich räumlich gestaffelte (Stereo-)Klang und zum anderen natürlich ebenso die hohe künstlerische Qualität des beteiligten „unwiederbringlichen“ Ensembles. Joseph Keilberths (1908-1968) Dirigat ist von straffen Tempi und schlankem Klang charakterisiert. Unter seiner Leitung agiert ein vergleichbar erstklassiges Sänger-Ensemble wie im wenige Jahre später begonnenen Solti-Culshaw-Ring. Hier hört man übrigens ebenfalls Hans Hotter als Wotan, aber einen, der in der „Götterdämmerung“ immerhin knapp 10 Jahre jünger ist als in der legendären Solti-Einspielung, die zu Recht als „Jahrhundert-Ring“ angesehen wird. Das gilt auch für den im Zenit seines technischen Könnens befindlichen Wolfgang Windgassen als Siegfried. Weiterhin sind zu hören: Astrid Varnay (Brünnhilde), Ramon Vinay (Siegmund), Josef Greindl (Hagen), Paul Kuen (Mime) sowie Rudolf Lustig (Loge).

Zur Einspielung von „Das Rheingold“ findet sich in den Anmerkungen ein origineller Hinweis. Offenbar diente das Mixtur-Trautonium Oskar Salas zum Erzeugen der benötigten naturalistischen Geräuscheffekte (z. B. im Gewitterzauber). Vom Mixtur-Trautonium rührt aber offenbar auch ein in Teilen der Nibelheim-Sequenz vernehmbares Rauschen her. Weitere aufführungstechnische Neben- und Saalgeräusche halten sich durchweg im sehr akzeptablen Rahmen, wobei zugleich auch die Atmosphäre sowie die Begeisterung des Publikums besonders überzeugend spürbar werden.

Zusammen mit der einzigartigen Akustik des Bayreuther Festspielhauses mit seinem in spezieller Sitzordnung positionierten Mitgliedern (!) des „versenkten Orchester(s)“ werden diese jetzt erstmals vollständig zugänglichen Mitschnitte zu einem Dokument ersten Ranges; eines, das den Solti-Ring zwar gewiss nicht ablösen soll/wird, ihm aber zur Seite gestellt zu werden verdient.

Jeder Box ist ein informatives (in weiten Teilen allerdings identisches) Begleitheft mit Libretto in solider Aufmachung beigegeben. Die CDs befinden sich in einfachen, aber stabilen Papphüllen. Der dadurch gegenüber dem klassischen Format der eingesparten Kunststoffboxen gewonnene Raum bleibt allerdings leider ungenutzt. Jede der vier gleichmäßig dicken Papp-Boxen verschenkt somit unnötigerweise etwa 50 Prozent des Volumens an die Umgebungsluft. Das ist zwar nun kein entscheidendes Manko der Edition, aber so mancher Sammler dürfte ob des in unnötiger Fülle beanspruchten Platzes (zumindest zuerst) etwas vergrätzt sein.

Alles in allem liegt hier ein Tondokument vor, das nicht nur eingefleischte Wagnerianer und Bayreuth-Enthusiasten interessieren und auch begeistern dürfte. Aus dem Bayreuth der 1950er gibt es klangtechnisch nichts Vergleichbares und künstlerisch wohl kaum etwas Besseres. Hinzu kommt die Tatsache, dass vom einstigen Bayerischen Generalmusikdirektor Joseph Keilberth keine weiteren offiziellen Ring-Einspielungen verfügbar sind. Dies alles macht diese Veröffentlichung zur editorischen Topleistung.

„Der Ring“ — An Organ Transcription

Die berühmten Orchesterstücke aus dem Wagner-Ring einmal ganz anders: vom Organisten Hansjörg Albrecht transkribiert als eine sinfonische Suite für die „Königin der Instrumente“. Neben der schon ungewöhnlichen klanglichen Konstellation, der verwendeten Orgel, kommen noch die besonderen Gegebenheiten des Aufnahmeortes in der Kieler Nikolaikirche zum Tragen. Die unterschiedliche räumliche Anordnung von Hauptorgel und Chororgel ermöglichte räumliche Effekte, die nur mittels des SACD-Formates überzeugend wiedergegeben werden können.

Die von einem Generalspieltisch zusammen oder wechselseitig bespielbaren beiden Orgeln ermöglichten im Verbund mit dem abmischungstechnischen Übereinanderlegen von Passagen (Overdub) in unterschiedlichen Klangeinstellungen ein überraschend vielseitiges klangliches Experiment, das so live nicht zu realisieren ist. Eines, das die klangliche Vielfalt des Orgelklanges den Dimensionen des Wagnerischen Orchesters annähert, wodurch die geläufige Bezeichnung von der „Königin der Instrumente“ eindrucksvoll bestätigt wird.

Der Hörer der SACD-Version wird zudem in ein faszinierendes musikalisches Kreuzfeuer beider Instrumente genommen, das als eine hochinteressante Alternative und Ergänzung zur ebenfalls überzeugenden zweikanaligen Stereo-Abmischung fungiert. Damit gehört diese SACD-Produktion zu den besonders interessanten ihrer Gattung und besitzt zugleich Demonstrationsqualität.

„The Golden Ring“: BBC-Doku zum Solti-Ring auf DVD

Lebendige Erinnerung an den Solti-Ring der Decca vermittelt die 1964 von der BBC produzierte rund 90-minütige Dokumentation zu den Aufnahmesitzungen der „Götterdämmerung“. Heute ist das nichts Besonderes mehr, aber damals betrat man mit dem „Making Of“ einer Musikproduktion praktisch Neuland.

In Zusammenarbeit mit dem ORF entstanden eine hochinteressante Sammlung von Impressionen von den Aufnahmesitzungen sowie einige Eindrücke vom Wiener- und Künstler-Alltag drumherum.

Hier kann man z. B. die nachgebauten drei Stierhörner live erleben, mit deren rauem archaischen Klang Hagen die Gibichungen am Ufer des Rheins zusammenruft — bei Aufführungen werden die Stierhörner in der Regel durch Posaunen imitiert. Intervieweinschübe vermitteln Teile der Philosophie der Macher, z. B. Georg Soltis Verhältnis zu Wagners Musik und seine Technik, bei Schallplattenaufnahmen mit relativ langen Takes von zehn bis zwölf Minuten zu arbeiten, um Verluste der musikalischen Intensität zu vermeiden.

Man erlebt die berühmte alte Sängergarde bei der Arbeit: z. B. Gottlob Frick als dämonischen Hagen, Wolfgang Windgassen als Siegfried und Birgit Nilsson, die schwedische Sopranistin mit Stahl in der Stimme, als Verkörperung der Brünnhilde. Dabei wird der Zuschauer auch Zeuge eines Gags während der Proben von Brünnhildes dramatischem Schlussgesang. Als die ehemalige Walküre nach ihrem Ross Grane ruft, um sich auf diesem in den brennenden Scheiterhaufen mit der Leiche Siegfrieds zu stürzen, wurde auf Stichwort zum Amüsement aller ein echtes Pferd hereingeführt.

Auch die sorgfältig beachteten, d. h. detailliert räumlich-akustisch umgesetzten Wagner’schen Regieanweisungen werden bewusst gemacht, etwas, das für das außergewöhnliche Flair dieses Ringzyklus entscheidend mitverantwortlich ist.

Im Begleitheft zur DVD findet sich als Einführung zur Doku ein die Ereignisse von damals in Erinnerung rufender Artikel des damaligen Produzenten Humphrey Burton, „Hinter den Kulissen der Götterdämmerung“. Burton vermittelt dabei auch einen Eindruck vom immensen Aufwand, aus der Fülle des aufgezeichneten Materials die endgültige Dokumentarfassung zu montieren. Eine rund 70-minütige Zusammenstellung von Höhepunkten aus den vier Ring-Opern (behutsam in Surround-Sound aufbereitet) ist Ergänzung und zugleich (erneute) Werbung für dieses berühmte Schlachtross des Decca-Klassikrepertoires.

Die im Jahr 1965 erstmalig gesendete Videoaufzeichnung kann allerdings besonders beim Bild ihr Alter nicht verleugnen. Offenbar konnte man nicht auf das ursprüngliche 16-mm-Filmmaterial zurückgreifen, nur ein (vermutlich mehrfach umkopiertes) Videomaster stand zur Verfügung. Das Schwarz-Weiß-Bild ist von entsprechend deutlich eingeschränktem Umfang bei Konstrast, Schärfe und Auflösung charakterisiert. Hinzu kommen diverse Bildmängel wie Dropouts, Zittern und gelegentlich merkliche optische Verzerrungen im Bild, z. B. wellenförmig erscheinende senkrechte und gerade Linien. Das ziemlich bescheidene, weiche Bild ist vergleichbar mit etwa zeitgleichen Aufzeichnungen von Volksstücken aus dem Ohnsorgtheater Hamburg, wie man sie regelmäßig zu sehen bekommt.

Zwar kann man mit den visuellen Beeinträchtigungen durchaus leben, wird auch so von diesem wertvollen historischen Dokumentarfilmmaterial zweifellos beeindruckt. In Anbetracht der Mängel und der mit dieser Dokumentation verbundenen Werbung für einen für die Decca über die Jahre wahrhaft zu Gold gewordenen Ring (!) erscheint mir allerdings der Verkaufspreis dieser DVD als deutlich überhöht.

Wiener Philharmoniker — Karajan — Decca

Weitere klingende Einblicke in die vorzügliche frühe Stereoaufnahmetechnik der Decca vermitteln zwei in der Reihe „The Originals“ erschienene Wiederveröffentlichungen: die 1961 entstandene Einspielung des berühmten Zyklus sinfonischer Dichtungen „Die Planeten“ von Gustav Holst, gekoppelt mit dem „Don Juan“ von Richard Strauss sowie die 1959 produzierte Gesamteinspielung von Verdis berühmter Oper „Aida“. Produzent war hier, wie schon beim Solti-Ring, John Culshaw.

Am Pult der Wiener Philharmoniker steht jeweils Herbert von Karajan. Karajan liefert eine detailfreudig ausmusizierte, den wechselnden Stimmungen der Holst’schen Tondichtungen angemessene und zugleich wuchtige Interpretation. Alle Einspielungen erfolgten übrigens (wie auch die des Solti-Rings) in den im August 2001 abgebrannten Sofiensälen.

Karajans Einspielung der „Aida“ gehört wie der Solti-Ring zu den Glanzstücken des Decca-Katalogs. Nicht nur ein durchweg tadelloses Ensemble, mit Carlo Bergonzi als Radames und Renata Tebaldi in der Titelrolle, sowie die vorzüglich disponierten Wiener Philharmoniker nebst Chor garantieren für ein besonderes Hörerlebnis. Herbert von Karajan zeigt hier einmal mehr seine bei Operneinspielungen oftmals besonders glückliche Hand.

John Culshaw war auch hier vergleichbar erfolgreich, durch eine virtuos räumlich agierende Stereo-Klangregie der Aufnahme ein außergewöhnliches, von Akt zu Akt ausdruckssmäßig charakteristisches Flair zu verleihen. Und außerdem: Dass die Stereo-Aufnahmetechnik der britischen Decca im Europa jener Jahre absolut führend war, hier kann man es sich eindringlich verdeutlichen.

Leopold Stokowski (Rafael Kubelik) conducts

Zum Abschluss dieser Klassikwanderung noch ein Blick auf früheste amerikanische Magnettonband-Stereoaufnahmen, entstanden 1952. Die CD des US-Labels „Music & Arts“ — Vertrieb über NOTE-1 — macht erstmals einige der Stereo-Experimente des Audio-Pioniers Bert Whyte zugänglich. Da gibt’s den teilweisen Mittschnitt eines Live-Konzerts des Detroit Symphony Orchestras vom November 1952 zu hören. Stokowski dirigiert Tschaikowskys fünfte Sinfonie sowie „The Taking of T’ung Kuan“ vom 1919 im chinesischen Tsingtau als Sohn einer amerikanischen Mutter und eines russischen Vaters geborenen Jacob Avshalomov. Bert Whyte war aber auch bei den Mercury-(Mono-)Aufnahmen von Rafael Kubeliks Einspielung des kompletten Zyklus „Mein Vaterland“ von Bedřich Smetana mit dem Chicago Symphony Orchestra im Dezember 1952 zugegen.

Das Klangbild ist nicht perfekt, aber besonders bei den beiden Stokowski-Dirigaten den Zuhörerraum schon recht voll und natürlich abbildend (inkl. einiger Nebengeräusche), während Whyte die Kubelik-Interpretation von „Tábor“ offenbar mit etwas weit entfernt positionierten Mikrofonen mitgeschnitten hat. Daraus resultiert ein zwar merklich distanzierter, aber schon noch spürbar verräumlichter akustischer Blick auf das Orchester.

Das Begleitheft wartet mit ausführlichen wertvollen Hintergrund-Infos auf, wobei erfreulicherweise auch der Avshalomov-Rarität, einer modern-dissonanten Vertonung einer Schlacht aus der frühen chinesischen Historie, breiterer Raum gewidmet ist.

Dieser Artikel ist Teil unseres Spezialprogramms zum 3. Oktober 2007.

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