Bernard Herrmann: The Film Scores

Geschrieben von:
Michael Boldhaus
Veröffentlicht am:
18. Juni 2000
Abgelegt unter:
CD, Hören, Sampler, Score

Score

(5.5/6)

Der überwiegende Teil der Filmmusiken aus dem ŒŒuvre des Hollywood-Maestros Bernard Herrmann wirkt beim Hören gelöst vom Film nicht ausschließlich in Komplettfassungen: In der Hörpraxis dürfte, sowohl für den Herrmann-Einsteiger als auch für den Hörerfahrenen, eine gekonnt erstellte Kurzfassung in der Regel die am häufigsten gehörte Version sein.

Direkt vorneweg: Sonys Version ist zwar ein Nachzügler unter den Herrmann-Filmmusik-Samplern, aber ihm gebührt der Spitzenplatz! Seinerzeit habe ich nach Überfliegen des Tracklistings die CD wieder ins Regal zurückgestellt – allein die damals wie heute (noch) einzige Nachspielung der berühmten „Jagd-Sequenz“ aus Marnie erschien mir nicht ausreichend für einen Kauf. Nun: ein Fehler, wie sich erst kürzlich zeigte. Auf Besuch bei einem neuen Bekannten, bin ich im Gespräch wieder auf die Sony-Version aufmerksam gemacht worden und habe sie mir nach ein paar Probe-Hörstücken jetzt doch noch besorgt.

Sonys Herrmann-Kompilation unter dem Dirigenten Esa-Pekka Salonen erschien erst 1996 und war damit der letzte in einer Reihe interessant zusammengestellter und generell gut interpretierter Sampler der Neunziger zu Herrmanns Filmmusik. Besonders erwähnenswert sind hier Elmer Bernsteins bereits 1993 auf Milan erschienener Exkurs mit dem Royal Philharmonic Orchestra, gefolgt 1995 von McNeelys leider arg kurz geratener (37 Minuten!) Zusammenstellung mit dem Scottish National Orchestra auf Varèse und Silvas Kompilation mit den Prager Philharmonikern unter Paul Bateman – hier lag mir allerdings nicht die im Vorjahr mit zusätzlichem Material ergänzte Doppel-CD-Version vor. Bis auf Varèses Version, die ausschließlich mit bis dahin unveröffentlichtem Musikmaterial bestückt ist, gibt es bei jedem dieser Sampler neben Überschneidungen auch individuelle Ersteinspielungs-Raritäten – z. B. The Bride Wore Black • Die Braut trug schwarz auf Milan, eine gänzlich aus neuem Material bestehende Suite aus On Dangerous Ground auf Silva sowie eine hervorragend gespielte Kurzfassung von Anna and the King of Siam • Anna und der König von Siam auf Varèse. Der Vollständigkeit halber seien hier auch Herrmanns historisch bedeutende Londoner Einspielungen auf dem britischen Decca-(London)-Label aus den siebziger Jahren erwähnt, die zur Zeit aber nur schwer und zu horrenden Preisen zu beschaffen sind. Gleiches gilt für den hervorragenden Citizen-Kane-Sampler, den Charles Gerhardt 1974 für die RCA Classic-Film-Scores-Series produzierte. Der vorliegende Text beschränkt sich daher auch auf die zur Zeit problemlos erhältlichen CDs der letzten Dekade.

Bei Neueinspielungen nehmen sich die Dirigenten gegenüber den Originalen häufig gewisse Freiheiten, die sich zum Teil aufführungstechnisch begründen lassen und das Hörerlebnis nicht unbedingt nachteilig beeinflussen müssen; allerdings gibt es auch Ausrutscher. Die vom Komponisten selbst geleiteten Nachspielungen aus seinen späten Londoner Jahren sind zwar spieltechnisch tadellos, leiden aber unter dem die Wirkung mehr oder weniger stark beeinträchtigenden „Herrmann-typischen Zeitlupeneffekt“. Dadurch wird für mich z. B. das „Duell mit dem Skelett“ aus 7th Voyage of Sinbad • Sinbads siebte Reise um seine Wirkung praktisch betrogen. Primär in der „Liebesszene“ aus Vertigo • Aus dem Reich der Toten kann ich mich durchaus mit einer in deutlich langsamerem Zeitmaß gespielten, abseits vom Film vielleicht sogar dramatischer wirkenden Fassung anfreunden, wie sie auch Elmer Bernstein und Esa-Pekka Salonen präsentieren. Warum allerdings Bernstein in seinem ansonsten durchaus gelungenen Sampler, im Finale von Fahrenheit 451 die wichtigen, den fallenden Schnee symbolisierenden Harfen weglassen konnte, bleibt unbegreiflich: Die Musik wirkt im Vergleich zur Salonen- und ebenfalls sehr guten McNeely-Fassung geradezu wie kastriert! Dagegen ist Bernsteins Einspielung des Main-Title aus North by Northwest • Der unsichtbare Dritte schon besser, den Schmiss und die Power von Salonens Version erreicht sie aber doch nicht. Hier ist das LA Philharmonic Orchestra gegenüber dem Original auch nur etwa 25 Sekunden zu langsam, was sich aber nicht nachteilig auswirkt. Im Gegenteil: im Hörvergleich wirkt das Originaltempo sogar etwas arg gehetzt, und klangtechnisch ist diese Version dem Original turmhoch überlegen. Sonys Sampler präsentiert unter anderem eine faszinierende Suite aus der Psycho-Musik, welche mich trotz ihrer Länge stark in den Bann gezogen hat, und geradezu fantastisch ist die Einspielung der Marnie-Jagdszene gelungen. Die überaus schwierig zu spielenden Hörnereinsätze klingen hier exemplarisch sauber – das hat Herrmann bei den originalen Recording-Sessions mit dem zur Verfügung stehenden Orchester lange nicht so gut realisieren können, die Patzer sind auch für ungeübte Hörer deutlich spürbar! Hier macht die Aufnahme auch umso neugieriger auf die von Varèse angekündigte Marnie-Gesamteinspielung unter McNeely. Superb gelungen ist auch die düstere Suite aus The Torn Curtain • Der zerrissene Vorhang. Überhaupt zeigt sich das LA Philharmonic Orchestra hier als erstklassiger Klangkörper unter einem Spitzendirigenten und als ein Team, das diese ungewöhnliche Musik sehr ernst genommen hat. Zwar hält sich auch Salonen nicht sklavisch an die Original-Tempi, aber die Wirkung ohne Bildbezug ist überzeugend. Insgesamt zeigen die Einspielungen des Sony-Samplers ohne Ausnahme ein hohes Maß an spielerischer und auch klangtechnischer Präzision. Damit stellt sich, speziell bei vollständigem Durchhören, auf den Hörer eine Brillanz der Wirkung ein, welche die anderen ebenfalls gelungenen Sampler nicht ganz erreichen. Zweifellos macht die Sony-Kompilation ihre Mitstreiter aber nicht überflüssig, sondern überragt diese um eine Nasenlänge und sollte daher in jeder Herrmann-Kollektion Ihren Platz haben.

Fazit: Zum Thema Herrmann-Filmmusik liefern sich die derzeit auf dem regulären Markt befindlichen Kompilationen ein Kopf-an-Kopf-Rennen. Neben den primär historisch interessanten (zur Zeit nicht erhältlichen), recht behäbig dirigierten Versionen des Maestros aus den Siebzigern rangieren die Sampler von Milan (Elmer Bernstein), Varèse (McNeely), Silva (Paul Bateman), Esa-Pekka Salonen (Sony) und auch die zur Zeit leider ebenfalls vergriffene Version von Charles Gerhardt (Classic-Film-Score-Series) vorne. Jeder Sampler ist auf hohem Niveau produziert worden und hat, da die jeweils eingespielte Musikauswahl nicht identisch ist, seine individuellen Meriten. Sonys Version unter Esa-Pekka Salonen überzeugt dazu besonders durch seine herausragende spiel- und klangtechnische Brillanz – gleiches gilt auch für die 22 Jahre ältere Gerhardt-Kompilation. Insgesamt stellt sich also weniger die Frage, welchen Sampler man sich überhaupt zulegen soll, sondern eher, in welcher Reihenfolge.

Komponist:
Herrmann, Bernard

Erschienen:
1996
Gesamtspielzeit:
76:45 Minuten
Sampler:
Sony Classical
Kennung:
SK 62700
Zusatzinformationen:
Los Angeles PO, E.-P. Salonen

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