Die Geschichte der jungen viktorianischen Offizierswitwe Anna Leonnowens, die fünf Jahre lang (von 1862-1867) im Königreich Siam (heute Thailand) gelebt und dort als Lehrerin speziell des jungen Kronprinzen gewirkt hat, ist bis heute viermal für das Kino verfilmt worden. Vielen Kinogängern und Filmmusikfreunden ist sicherlich Andy Tennants zur Zeit noch in den Kinos anzutreffende aktuelle Version Anna und der König mit der Musik von George Fenton ein Begriff. Varèse präsentiert nun als Teil 3 seiner CD-Serie „Bernard Herrmann at Fox“ die vollständige Musik zur Kino-Erstversion des Stoffes aus dem Jahr 1946: Hier spielen der Brite Rex Harrison und Irene Dunn die Hauptrollen. Manchen Lesern dürfte allerdings die 1956er Musical-Fassung The King and I • Der König und Ich, mit Yul Brynner als König Mongkut und Deborah Kerr als Anna geläufiger sein.
Alfred Newman gewann 1946 Bernard Herrmann für die Komposition der Musik. Herrmann hatte bis zu diesem Zeitpunkt erst 5 Filmmusiken komponiert: Citizen Kane (1941), All that Money can Buy (1941), The Magnificent Ambersons • Der Glanz des Hauses Amberson (1942), Jane Eyre • Die Waise von Lowood (1944) und Hangover Square (1945). Der Komponist war durch den recht bescheidenen Erfolg seiner beiden filmmusikalischen Erstlinge enttäuscht und zögerte, sich stärker im Metier Filmkomposition zu engagieren. Er arbeitete zunächst weiterhin für das Radio und pflegte besonders seine Karriere als Dirigent des CBS-Symphony-Orchester in New York (zu Bernard Herrmann siehe auch The 7th Voyage of Sinbad • Sinbads siebte Reise). Erst Anfang der fünfziger Jahre übersiedelte der Komponist ganz nach Los Angeles, und damit begann seine Hollywood-Glanzzeit.
Auch Herrmanns Arbeit zu Anna and the King of Siam gehört zu seinen hervorragenden Filmmusiken. Für 20th-Century-Fox war es seine dritte Komposition. Herrmanns hat zu dieser Schöpfung einmal angemerkt, sie solle „nur“ als musikalische Szenerie dienen, also gewissermaßen als reiner Bilderrahmen fungieren. Nun, die Bedeutung dieser Musik dürfte über eine Rahmenfunktion deutlich hinausgehen. Der Komponist erarbeitete die rund 60-minütige Partitur unter Verwendung Siamesischer Tonleitern und arbeitete auch Original-Themenfragmente ein. Interessanterweise bewirkte er ein sehr exotisches Klangkolorit völlig ohne Einsatz ethnischer Instrumente; er erzeugte sein musikalisches Siam-Bild ausschließlich mit Hilfe des konventionellen Orchesters. Hier liegt der Komponist in deutlichem Gegensatz zur musikalischen Lösung George Fentons in Anna und der König. Herrmanns Musik ist auch weitgehend kühler angelegt: Erst in der zweiten Hälfte des Scores treten vermehrt Streicher zu der sich bis dahin weitgehend auf Holzbläser und Schlagwerk beschränkenden Besetzung. Während Fentons Musik auf breit auskomponierten Melodiebögen basiert und recht breit angelegt in üppigem Streicherklang schwelgt, trifft man bei Herrmann verstärkt auf die für seine Kompositionen typische kammermusikalische Transparenz, die ausgeprägte minimalistische Grundtendenz und im übrigen auf eine insgesamt eher sparsame Musik-Untermalung. Die durchschnittliche Spieldauer der insgesamt 47 Score-Tracks (!) liegt bei wenig über einer Minute. Überraschenderweise wird das Tutti kaum eingesetzt – eigentlich nur zweimal: in der „Main-Title-Musik“ sowie der finalen „Krönungsszene“.
Varèses Edition der vollständigen Anna and the King of Siam-Musik präsentiert auch noch einen kleinen Anhang von 4 Bonus-Tracks: 2 exotische, aber trotzdem in Englisch intonierte Zeremonie-Gesänge sowie zwei originelle „Roh-Stücke“ von den Aufnahmesitzungen. Alles in sehr guter, in Anbetracht der fast 55 Jahre alten Studio-Lichtton-Master sogar fantastischer Tonqualität! Da erfreulicherweise wohl sämtliche Einzelmaster der ursprünglich quasi-zweikanalig angelegten Einspielung noch in (hörbar) gutem Zustand existieren, konnte auf echtes Stereo gemixt werden: Das Resultat ist einfach Klasse. Hoffentlich lässt es Varèse nicht bei diesen drei Veröffentlichungen bewenden!
Fazit: Varèses Volume 3 der „Herrmann-at-Fox-Kollektion“ ist eine besonders wichtige Ergänzung für jede ernsthafte, sinfonisch orientierte Filmmusik-Sammlung und für Herrmann-Fans ein Muss. Wer Ohrwürmer sucht, dürfte enttäuscht werden; wer aber für raffinierte Instrumentierung und Klangeffekte offen ist, wird hingegen begeistert sein.