Zemlinsky: Die Seejungfrau

Geschrieben von:
Michael Boldhaus
Veröffentlicht am:
18. März 2001
Abgelegt unter:
CD, Hören, Klassik

Alexander von Zemlinsky

Alexander von Zemlinsky (1871-1942) war ein österreichischer Komponist zwischen so genannter Spätromantik (besser Moderne) und Neuer Musik, ein wichtiges Bindeglied zwischen Gustav Mahler und Arnold Schönberg. Letzterer hat ihn zeitlebens als Lehrer und Freund sehr verehrt: „… Alexander von Zemlinsky ist derjenige, dem ich all mein Wissen um die Technik und die Probleme des Komponierens verdanke …“ Der Komponist war also der Lehrer des Begründers (und der späteren wichtigsten Repräsentanten Alban Berg und Anton Webern) der bedeutenden „Neuen Wiener Schule“. Alexander von Zemlinsky vermittelte Arnold Schönberg die Tradition, auf die dieser später als Lehrer so großen Wert legte. Zemlinsky lernte dabei aber auch, manches mit den Augen seines Schülers zu sehen und er erkannte neue Ausdrucksmöglichkeiten im musikalischen Terrain, das jener erschlossen hatte. Er nutzte diese Möglichkeiten; und indem er half, das in kühnem Zugriff Eroberte, aber nicht Bebaute abzusichern, begründete er neue Tradition – freilich ohne dabei den letzten Schritt zur Atonalität und Zwölfton-Technik zu vollziehen.

Unglücklicherweise ist die Musik-Rezeption dieses – lange Zeit übersehenen und fast vergessenen – Komponisten auch heute noch beeinträchtigt vom Vorurteil, ein bloßer Nachahmer (Eklektiker) großer Vorbilder gewesen zu sein: von Johannes Brahms, Richard Wagner über Gustav Mahler und Franz Schreker bis Richard Strauss. Bei näherem Hinsehen erweist sich dies allerdings rasch als eine zu einfache Sichtweise: Alexander von Zemlinsky ist vielmehr eine markante Figur zwischen Jugendstil und Fin-de-siècle, ein musikalisches Multitalent, bei dem es viel Hörenswertes gibt.

Der Kölner Generalmusikdirektor James Conlon bezeichnet Zemlinsky, der auch Lehrer Erich Wolfgang Korngolds war, sogar als den Großvater Hollywoods. Hierfür steht besonders die farbige und facettenreiche Tondichtung nach Andersens Märchen „Die Seejungfrau“, welche ihre Uraufführung 1905 erlebte. Diese bietet in der Tat sehr bildhafte und dabei quasi filmisch wirkende Passagen. Einflüsse von Wagner und Strauss sind spürbar, daneben tritt aber ebenfalls der für Zemlinskys Tonsprache charakteristische ungemein lyrisch-zarte und tiefe Ausdruck der Empfindung klar hervor. Das in rauschend-sinnliche Orchesterfarben gekleidete Märchen der unglücklichen Meerjungfrau ist nicht nur eine Bereicherung für jeden aufgeschlossenen Hörer, sondern überhaupt ein idealer Einstieg in das reizvolle Œuvre dieses entdeckenswerten Komponisten.

Die „Der Seejungfrau“ als zweites Werk beigegebene „Sinfonietta op. 23“ entstand 1934. Diese bildet zur romantisch geprägten Tondichtung einen deutlich herberen, kantigen Kontrast. Das Stück ist kühler, sparsamer und weniger ausladend. Trotzdem, auch wenn kein unmittelbarer Ohrwurm, präsentiert sich auch hier wichtige und hörenswerte Musik; geprägt vom Stil ihrer Zeit, zugleich aber auch von der Abgrenzung zur Neuen Wiener Schule: Hier erforscht und „bebaut“ Alexander von Zemlinsky mit viel Phantasie und Individualität das Gebiet der erweiterten Tonalität. Mit etwas Geduld gibt es auch hier Schönes und Meisterhaftes zu erschließen.

Die Alexander von Zemlinsky angeborene, schon schamhaft zu nennende Zurückhaltung im Promoten seiner Werke, führte durch weitere unglückliche Umstände dazu, dass „Die Seejungfrau“ (fast) vergessen worden ist – und lange als verloren galt. James Conlon entdeckte diese Tondichtung zufällig. Eine Begegnung mit Folgen: Der Dirigent ist seit 1996 im Rahmen einer ausgiebigen Retrospektive dabei, einen Zemlinsky-Zyklus auf Tonträger bei EMI zu veröffentlichen.

Wer auf den Geschmack gekommen ist, sollte sich den beiden Opern „Der Zwerg“ (nach Oscar Wildes Märchen „Der Geburtstag der Infantin“) und „Der Traumgörge“ zuwenden. Beide zählen für mich zum Schönsten und auch Eingängigsten in Zemlinskys Opernschaffen. Die Werke zeichnen sich über weite Strecken durch wundervolle Poesie und Lyrik aus. Es gibt darin viele Momente, die vom wärmsten, zärtlichsten und innigsten Ausdruck, und dazu von irisierend-schillernden Klängen außerordentlich großer Schönheit geprägt sind.

„Der Zwerg“ ist ein packendes Musikdrama – die Tragödie des hässlichen Menschen versinnbildlichend – in märchenhaft stilisiertem Gewand. Es geht um einen Außenseiter, der, von seiner Umgebung verspottet und um ehrliche Zuneigung betrogen, schließlich an gebrochenem Herzen stirbt. Auch bei „Der Traumgörge“ handelt es sich um eine Märchenoper – und damit um ein typisches Produkt des beginnenden 20sten Jahrhunderts -, in der eine spezifische Form eines Künstler-Dramas des Jugendstils, eine Geschichte aus Traum und Wirklichkeit, thematisiert wird. In die Vorbereitungen der Uraufführung von „Der Traumgörge“ platzte Schicksalhaftes. Gustav Mahler, bis dahin Leiter der Wiener Hofoper, demissionierte (infolge von Intrigen), und sein Nachfolger, Felix Weingartner, setzte die Oper ab, ohne sich den Klavierauszug überhaupt angesehen zu haben. Anschließend verschwand das Werk im wahren Wortsinn förmlich aus der Musikgeschichte: Zemlinsky hat nie einen weiteren Versuch unternommen, das Stück dem Publikum vorzustellen.

Erst 1980, rund 73 Jahre nach Fertigstellung der Partitur, wurde dieses Versäumnis am Nürnberger Musiktheater nachgeholt: den Beteiligten wurde rasch bewusst, dass es sich hier um ein Schlüsselwerk im Schaffen des österreichischen Komponisten handelt. Nicht ausschließlich für diese beiden Opernwerke gilt das, was Arnold Schönberg 1949 in seinem Nachruf auf den Freund formuliert hat: „… ich kenne keinen nach-wagnerischen Komponisten, der das, was das Theater verlangt, mit edlerer musikalischer Substanz erfüllen konnte, als er …“.

Bereits in den frühen 80er Jahren wurde für diese so lange übersehene Musik verdienst- und wertvolle Pionierarbeit geleistet. Gerd Albrecht realisierte in Hamburg eine – allerdings textlich bearbeitete – gekürzte Fassung von „Der Zwerg“ unter dem Titel „Der Geburtstag der Infantin“. 1987 erlebte dann auch „Der Traumgörge“ ebenfalls unter Gerd Albrecht (in Frankfurt) weitere Aufführungen – allerdings ebenfalls unvollständig. Die jeweilige Fassung wurde seinerzeit auch auf CD (auf CAPRICCIO) veröffentlicht. Dank sorgfältiger Recherchen liegen jetzt beide Opern erstmals komplett und auch ohne Text-Retuschen auf Tonträger vor. Wer vielleicht nur unwesentliche Ergänzungen vermutet, irrt: geht es bei „Der Zwerg“ (nur) um knapp 15 Minuten, so zeigt sich „Der Traumgörge“ jetzt sogar um rund 45 Minuten verlängert!

James Conlon ist hörbar ein guter Sachwalter von Zemlinskys Musik. Die vorliegenden Einspielungen sind sowohl aufnahmetechnisch als auch interpretatorisch auf sehr gutem bis ausgezeichnetem Niveau. Sowohl das Gürzenich-Orchester Kölner Philharmoniker als auch die Solisten der Opern-Einspielungen befinden sich in Bestform. Da erfreulicherweise auch die Live-Atmosphäre dieser Einspielungen nicht durch übermäßige Bühnen- und Publikumsgeräusche getrübt wird, steht anregenden musikalischen Entdeckungen nichts im Wege.

Erschienen:
1996
Gesamtspielzeit:
67:07 Minuten
Sampler:
EMI Classics
Kennung:
5 55515 28

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