Seit 2007 steht der Name „Hollywood in Vienna“ für Filmmusik-Konzerte mit erstklassigen Orchesterdarbietungen, Stargästen aus der Traumfabrik und einer Prise österreichischem Charme. Wie bereits im Vorjahr leitete der energische Texaner John Axelrod am 16.9.2010 das ORF Radio-Symphonieorchester Wien im ausverkauften Konzerthaus in einem bunten Programm aus Filmmusik-Perlen älteren und neueren Datums. Erstmals war mit der renommierten Wiener Singakademie auch ein 70-köpfiger Chor eingebunden. Das abendliche Galakonzert stellt dabei traditionell den glanzvollen Höhepunkt einer ganzen Reihe von filmmusikbezogenen Ereignissen in der Weltstadt der Musik dar. So fand auch dieses Jahr ein kleines internationales Filmmusik-Symposium statt, bei dem unter anderem der heurige Max-Steiner-Preisträger Howard Shore, Klaus Badelt, Christian Kolonovits, Herr-der-Ringe-Produzent Rick Porras und der Filmmusik-Journalist und Shore-Intimus Doug Adams (mit seinem lange erwarteten, nun endlich erschienenen Buch „The Music of the Lord of the Rings Films“ im Gepäck) auftraten.
In der ersten Konzerthälfte lotsten Moderator Gedeon Burkhard und Maestro Axelrod die Hörer durch unterschiedliche „Abenteuer-Welten“. Zwischen den sieben Weltmeeren (The Sea Hawk, Pirates of the Caribbean) und berüchtigten Bergen (Nordwand), zwischen historischen Stoffen (Ben-Hur) und fantasievollen Zukunftsvisionen (Avatar, Jurassic Park) und bis hin zu klassischen Abenteurer-Franchises (Raiders of the Lost Ark, The Rocketeer) entfaltete der Dirigent mit dem bestens aufgelegten Orchester ein unterhaltsames Klangpanorama des Hollywood-Mainstreams der vergangenen 70 Jahre. Mit seinen teilweise sehr straffen Tempi — so etwa beim Indiana-Jones-Marsch — motivierte er den bekannt superben Klangkörper allgemein zu Glanzleistungen, bei denen kleinere Probleme wie vereinzelt unsaubere Blecheinsätze oder ein dynamisch völlig außer Rand und Band geratenes Glockenspiel bei Jurassic Park nicht allzu sehr ins Gewicht fielen. Die in diesem Jahr bis zur letzten Minute der Generalprobe besonders intensive, da unter hohem Zeitdruck geleistete Probenarbeit trug also genau im richtigen Moment Früchte.
Die größte Publikumsreaktion war wohl der von Erich Hofmann und Gottfried Rabl kompilierten und großteils neu orchestrierten Suite aus Klaus Badelts Fluch-der-Karibik-Score beschieden, die tatsächlich eine außerordentlich feurig-mitreißende Darbietung erfuhr. So hat man diese Musik bisher noch nicht gehört: Das 9-minütige Feuerwerk aus eingängig rockigen Melodien im bewährten Media-Ventures-Modus, die hier im Gegensatz zur synthesizer-durchtränkten, breiigen Filmeinspielung detailreich ausorchestriert und umso druckvoller erklangen, ließ das Badelt-Opus in einem ungewohnt guten Licht erscheinen. Während der Komponist beim Symposium noch durchblicken ließ, dass er selbst Pirates of the Caribbean eher unter seine vom Mentor Zimmer überschatteten Jugendsünden einreiht und er lieber über andere Arbeiten referieren würde, zeigte er sich am Konzertabend von der orchestralen Neuschöpfung überaus angetan und ließ sich gerne auf die Bühne bitten. Als im besten Sinne altmodischen Gegenpol zur brachialen Action-Filmmusik der jungen Generation möchte ich die feine Suite aus dem Bergsteiger-Drama Nordwand (2008) anführen. Der hauptsächlich als Pop-Musiker geläufige Österreicher Christian Kolonovits dirigierte selbst eine hörenswerte Zusammenstellung aus Streicherepilog, Eiger-Thema und Liebesthema. Mochte letzteres auch auf den späten John Barry verweisen, indem es vielleicht ein- oder zweimal zu oft kaum variiert wiederkehrte, so handelt es sich insgesamt doch um eine sehr klangschöne klassisch gearbeitete Filmmusik der letzten Jahre, die eine weitere erstaunliche Facette des sympathischen Tausendsassas Kolonovits offenbart.
Nach der Pause stand natürlich Howard Shore im Mittelpunkt. Dem Publikum zuliebe wurde der 63-Jährige Kanadier in Wien vor allem als Komponist Mittelerdes gefeiert, wobei auch andere Aspekte seines reichen Schaffens zumindest auszugsweise beleuchtet wurden. Als eine Art Vorspann fungierte der grundsätzlich eindrucksvolle Main Title aus Die Fliege, bei dem Axelrod allerdings eine leicht unterkühlte Lesart wählte, die weder die irisierenden Orchestrations-Finessen noch die dramatische Kraft der melodischen Ausbrüche voll auskostete. Die Zuhörer reagierten dementsprechend mit dezenter Ratlosigkeit, so als ob nicht ganz klar wäre, ob das soeben Gehörte schon ein vollwertiger, applauswürdiger Programmpunkt gewesen sei. Wie dem auch sei, das folgende, gefühlvoll interpretierte Medley mit ausschließlich ruhigen melodischen Auszügen aus Ed Wood, Eastern Promises, The Aviator und Big wusste uneingeschränkt zu gefallen. Freilich erschien die Bezeichnung „Best of Howard Shore“ dafür etwas gewagt, blieb doch des Tonsetzers ureigenste Spezialität, die klanglich oft kompromisslos experimentelle Ausdeutung menschlicher Abgründe, darin vollständig ausgespart. Ein wenig vom „echten“ Howard Shore konnte man immerhin in den stürmischeren Momenten der eigens für diesen Anlass erstellten, knapp 25-minütigen „Grand Suite“ mit Highlights aus den drei Herr-der-Ringe-Musiken erleben. Hier war insbesondere der Chor gefordert, der die zum Teil extrem schwierigen, langgezogenen Fortissimo-Passagen in hohen Stimmlagen bravourös meisterte. Zwar nicht gerade bravourös, aber doch ganz achtbar fiel schließlich Rebekka Bakkens Interpretation von „Into the West“ aus.
Anschließend folgte die Preisverleihung. Im Beisein der „Hollywood-in-Vienna“-Organisatorin Sandra Tomek und des US-Botschafters überreichte Wiens Kulturstadtrat den „Max Steiner Film Music Achievement Award“ an Howard Shore. Dieser war sichtlich gerührt und lobte in seiner warmherzigen Dankesrede das geschichtsträchtige Wien und dessen grundlegende Bedeutung für die Ästhetik der Hollywood-Filmmusik bis zum heutigen Tage. Als er im Anschluss nach einer ersten Runde stehender Ovationen selbst das Podium betrat, um die Zugabe „In Dreams“ zu spendieren, ließ er seinen Emotionen freien Lauf. Wer nahe genug und etwas seitlich der Bühne saß, konnte mitverfolgen, wie sich Mimik und Gestik des sonst so zurückhaltenden, scheuen Mannes zunehmend lockerten und er beim Dirigieren der einfachen Auenland-Melodie geradezu in Verzückung zu geraten schien. Als dann auch noch alles glatt lief und der Knabensopran — nach diversen Zitterpartien in der Probenphase — eine makellose Performance lieferte, strahlte Shore überglücklich in die jubelnde, sich erneut erhebende Menge — welch wunderbarer, zutiefst rührender Moment!
Als krönenden Schlusspunkt präsentierte das RSO Wien unter John Axelrod die nun schon traditionelle zweite Zugabe Gone with the Wind. Noch einmal kam die Wiener Singakademie zum Zug, denn erstmals ertönte zur letzten Wiederholung des unsterblichen Tara-Themas im End Title auch die triumphale Chorbegleitung. Der Steiner-Klassiker erfüllte das Wiener Konzerthaus ein letztes Mal an diesem Abend mit der herrlichen Klangpracht des „Golden Age“ — so berauschend schön kann „Hollywood in Vienna“ klingen.