Kleine Klassikwanderung 4: Living Stereo

Geschrieben von:
Michael Boldhaus
Veröffentlicht am:
22. Juli 2001
Abgelegt unter:
Klassik

Was wäre das Kino ohne seine Mythen und Legenden? Alle Liebhaber derselben dürften wohl auch Verständnis für eine, auf den ersten Blick, vielleicht etwas blumige Präsentation einer „Hifi-Legende“ auf Cinemusic.de haben: nämlich durch das Deckblatt einer Werbe-Broschüre.

Zuerst ein kurzer historischer Rückblick: Pionierarbeiten und erste Patentschriften zur Stereo-Aufnahmetechnik stammen aus den frühen 30er Jahren des vergangenen Jahrhunderts und gehen auf den britischen Ingenieur Alan Dower Blumlein zurück. Durch ihn war die Electrical and Music Industries (EMI) 1934 imstande, Mozarts Jupiter-Sinfonie unter dem Dirigat von Sir Thomas Beecham in überraschend guter Stereo-Qualität als Direktschnitt aufzunehmen. Zwar spielte bereits Ende 1931 der Technik-Freak Leopold Stokowski (siehe auch Fantasia 2000) mit dem Philadelphia Orchestra ebenfalls stereophon ein – die 1934er Resultate der EMI waren jedoch überzeugender. Letztlich verlangsamte der zweite Weltkrieg die Entwicklung auf breiter Front. Dass in jener Zeit auch in Deutschland die Audio-Technik rasante Fortschritte machte, sei, da letztlich von entscheidender Bedeutung angemerkt: Das Magnettonband, entwickelt durch die IG-Farben (heute BASF), war in der zweiten Hälfte der 1930er einsatzbereit, aber klangtechnisch noch äußerst unzulänglich. Zu Beginn des 2. Weltkriegs gelang im Jahre 1940 mit der Entdeckung des Effekts der Hochfrequenz-Vormagnetisierung durch Walter Weber der Durchbruch auf dem Weg zur technisch vollendeten Tonaufzeichnung. Und bereits ab 1943 haben Helmut Krüger und seine Kollegen beim Reichsrundfunk in Berlin mit Hilfe einer brandneu entwickelten AEG-Tonbandmaschine eine Vielzahl technisch überraschend hochwertiger experimenteller Stereo-Aufnahmen gemacht – von denen allerdings leider nicht einmal eine handvoll überlebt hat.

Es ist heutzutage kaum mehr nachvollziehbar, wie groß die Startschwierigkeiten der Stereo-Aufnahmetechnik gewesen sind. Die Musikindustrie war zuerst keineswegs einhellig von der Marktakzeptanz überzeugt. Neben einem diffusen Misstrauen gegenüber dem „Neuen“ an sich, war es zum einen der Marktpreis von rund 6 $ für die ersten Stereo-LPs und zum anderen der erforderliche Kauf neuer Abspielgeräte. Heute sind 6 $ nicht viel, damals entsprachen sie einer Kaufkraft, die einem Essen für zwei Personen in guter Gastronomie gleichkam! Die Stereo-Schallplatte war also zu Beginn ein sehr teures und damit elitäres Hobby und kein Massen-Konsum-Produkt wie die CD unserer Tage.

Grundsätzlich muss man sich vor Augen halten, dass gerade in den Gründerjahren der Stereofonie fast alles noch im Experimentier-Stadium war, also mehr intuitiv als durch Wissen abgesichert geschah. In der Mehrzahl gingen die Toningenieure mit viel Akribie und Liebe zum Detail zu Werke, und das wohl auch in dem Bewusstsein, dass ihre Arbeit unwiederbringliche Ton-Dokumente für spätere Generationen in bis dahin unerreichter technischer Qualität sicherte. Die ersten Aufnahmen entstanden zweikanalig; Standard wurde dann dreikanalige Technik mit wenig Mikrofonen – etwa 5 bis 7 –, die übrigens in der Regel aus deutscher Produktion stammten. Diese frühen Stereo-Aufnahmen erzeugen so ein noch weitgehend realitätsnahes Klangbild und heben sich wohltuend ab, vom etwas später – dank verbesserter Elektronik – in Mode gekommenen „Multi-Miking“, bei dem mit vielen Stützmikrofonen gearbeitet wurde. Multi-Miking liefert (im Verbund mit entsprechender Abmisch-Technik) mitunter extrem hervorgehobene Einzel-Instrumente oder Gruppen und starke Rechts-, Links-Effekte, die mit dem eher räumlichen Mischklang des Live-Erlebnisses (Konzertaufführung) nur wenig gemein haben.

„Living Stereo“ war ein Werbe-Slogan von vielen („Mercury Living Presence“ war z.B. ein vergleichbarer), die in den Kindertagen der LP-Stereofonie – Einführung der Stereo-LP 1958 – üblich waren und erst einmal wenig besagten. Heutzutage, wo Stereo-Klang etwas völlig Selbstverständliches ist, wirken derartige Slogans – auch in Zusammenhang mit der heute deutlich anderen Cover-Gestaltung eben schnell nostalgisch. Bevor jetzt aber einer kleineren „Nostalgiewelle“ allzu sehr Vorschub geleistet wird, hier noch einige sachliche Anmerkungen zur RCA-Hifi-Stereofonie der 50er Jahre. Die „Radio Corporation of America Victor Company“ (RCA) gehörte nicht zu den Schrittmachern in Sachen Stereo-Aufnahmetechnik, auch wenn bereits Ende 1953 die ersten Aufnahmen erfolgten; vielmehr lehnte sich das RCA-Team weitgehend an die Erfahrungen der Mercury-Ingenieure an. Auch sind Jack Pfeiffers Verdienste um diese RCA-Aufnahmen in der Werbung – für die seit 1995 in mehreren Schüben veröffentlichten Living-Stereo-CD-Reissues – faktisch überhöht dargestellt worden. Pfeiffer war seinerzeit als Produzent und nicht als Techniker tätig. Als wohl letzter noch lebender Zeitzeuge dieser „legendären“ Ära bietet er sich natürlich für Interviews und andere PR-Aktionen ganz besonders an…

Teile der hier vorgestellten Aufnahmen erschienen bereits vor 1995 auf dem RCA-Label „Gold-Seal“. Die klanglichen Resultate der Living-Stereo-Edition sind aber durchweg noch klarer und damit überzeugender gelungen. Sicher ist aber auch: Selbst die besten LP-Pressungen der 50er und frühen 60er Jahre klangen zweifellos deutlich weniger brillant als die vorliegenden CD-Reissues. Bei letzteren handelt es sich um neu gemixte High-Tech-Editionen der 90er Jahre mit (weitgehend) originalen Cover-Art-Works. Die klanglichen Resultate der CD-Reissues sind also deutlich besser als das, was vor mehr als 40 Jahren gemixt und von den Interpreten zur Veröffentlichung freigegeben worden ist. Ob man dies nun als Verfälschung oder vielmehr als willkommene Verbesserung ansehen will, muss jeder für sich selbst entscheiden. Mag ein Audiophiler, der sich eventuell hierher verirrt hat, jetzt die Stirn in Falten ziehen, ich meine: das Entscheidende, das Dirigat, ist unangetastet und damit auch der Wert der Interpretationen unbeeinträchtigt geblieben.

Trotz großer technischer Probleme vermögen viele dieser Aufnahmen auch heute noch stark zu beeindrucken. Dies liegt zum Teil natürlich an der schon verblüffenden Räumlichkeit und Transparenz des Klanges der alten Schätzchen; mitentscheidenden Anteil daran haben ebenso die durchweg sehr guten, oft brillant zu nennenden Interpretationen und damit die musikalischen Qualitäten. Hier präsentiert sich dem Hörer die letzte Garde großer Dirigenten – in der Schlussphase ihrer Karriere –, die noch in der romantischen Tradition des ausgehenden 19ten Jahrhunderts ausgebildet worden sind. Diesen Interpreten waren viele der Komponisten, deren Werke sie aufführten, nicht nur persönlich bekannt, sie hatten teilweise sogar mit ihnen zusammengearbeitet. Sie hatten damit noch Kenntnisse aus „erster Hand“ wie ein bestimmtes Werk intoniert werden muss. Insofern halte ich diese CDs auch für den Klassik-Einsteiger als besonders attraktiv. Der Käufer befindet sich quasi immer auf der richtigen Seite, da weder klanglich noch interpretatorisch ein Flop dabei ist.

Zwölf Living-Stereo-CDs

Selbst in dieser Klassik-CD-Serie kann ich der „Tradition“ mit einer Filmmusik zu beginnen, treu bleiben. Sergej Prokofjew Kantate aus der Filmmusik zu Sergej Eisensteins 1938er Film Alexander Newsky gehört zu den frühen Konzertsaal-Bearbeitungen von Filmmusik. Die im Film dargestellte vernichtende Niederlage deutscher Ordensritter in der Schlacht auf dem zugefrorenen Peipus-See ist jedoch reine Propaganda und Geschichtsfälschung und auch die patriotisch-pathetische Tendenz des Films ist triefend. Trotzdem, speziell im Zusammenwirken von Bild- und Musik-Montage ist dem Duo Regisseur-Komponist hier ein zeitloses Meisterwerk gelungen – ebenso wie einige Jahre später bei Iwan der Schreckliche. Prokofjew hat übrigens ausschließlich für die Konzertversion (!) den filmischen Höhepunkt – das Eis bricht und die Ritter-Streitmacht versinkt – dramatisch höchst wirkungsvoll breit auskomponiert. Fritz Reiner und das Chicagoer Sinfonieorchester gehen herzhaft zupackend zur Sache. Ebensolches gilt für die klangprächtigen und kraftvollen Tondichtungen Ottorino Respighis: „Römische Brunnen“ und „Römische Pinien“.

Die eher sanften, schillernd-diffusen Klangfarben in „La Mer“ hingegen führen den Hörer zum Begründer des Impressionismus: Claude Debussy. Auch Maurice Ravels äußerst stimmungsvolle und traumhaft schwebende Ballettmusik „Daphnis und Cloe“ sollte sich niemand entgehen lassen. Hier finden sich wichtige Vorbilder für die Kinomusik vom Golden Age bis heute, wobei Hook von John Williams nur eines von unzähligen Beispielen liefert. Der Dirigent Charles Munch, ein Spezialist für die französische Musik, leitet hier das Boston Sinfonie Orchester. „The French Touch“ präsentiert eine Reihe klangschöner und auch für die Filmmusik ebenfalls unentbehrlicher Stücke, wie „Der Zauberlehrling“ von Paul Dukas, das z.B. in Disneys Fantasia direkt eingesetzt worden ist. Herrlich ist auch Maurice Ravels zart und sinnlich klingender Ausflug in die Welt der Märchen: „Mutter Gans“. Auf einer weiteren Kompilation mit französischer Musik erklingt weitere berühmte Musik Ravels: „Bolero“, „La Valse“ und die folkloristische „Rhapsodie Espagnole“. Daneben kann der Interessierte seine Debussy-Kenntnisse mit den weniger häufig aufgeführten „Images“ vertiefen.

Die Leopold-Stokowski-Kompilation „Rhapsodies“ bietet mitreißende Interpretationen bekannter, sehr eingängiger Orchesterstücke, wie der „2. Ungarischen Rhapsodie“ von Franz Liszt, der „1. Rumänischen Rhapsodie“ von George Enescu, Smetanas (bildhafter Ton-Dichtung) „Die Moldau“ sowie Auszüge aus „Die verkaufte Braut“, Wagners „Tannhäuser“ und „Tristan und Isolde“. Stokowski erweist sich bei diesen fast schon zu Evergreens des Konzertsaals zählenden, effektvollen Werken als Klangzauberer und zupackend agierender Meister des Taktstocks – dies ist auch eines der klanglich besten Alben der Serie.

César Francks 1888 vollendete D-Moll-Sinfonie gehört zu den bedeutenden Schöpfungen des ausgehenden 19ten Jahrhunderts. Pierre Monteux gelang eine zeitlose, maßstabsetzende Interpretation von seltener Geschlossenheit des teilweise düster grüblerischen, aber auch herrlich melodisch-eingängigen hochromantischen Werkes. Das seltener zu hörende sinfonische Gedicht „Le Chasseur modif“ (Der wilde Jäger) – auf der CD „The French Touch“ – ist hierzu eine sehr frisch und glutvoll klingende Ergänzung. Igor Strawinskis mitreißende, grotesk und auch heutzutage modern und feurig wirkende Ballett-Musik „Petruschka“ wurde von Pierre Monteux im Jahre 1911 sogar uraufgeführt. Die wilden, bizarren Sprünge der Puppe Petruschka, die vom Orchester mit drohenden Fanfaren und mickey-mousinghaften Klängen begleitet werden, wirken teilweise fast schon wie Cartoon-Filmmusik. Monteuxs temperamentvolle Einspielung mit dem Boston Symphony Orchester von 1961 macht die CD zu einem weiteren Highlight der Living-Stereo-Serie.

Die weiteren Titel werden bis auf das Schlusslicht von Fritz Reiner interpretiert. Grundsätzlich in keiner Sammlung fehlen sollten Modest Mussorgskijs „Bilder einer Ausstellung“ und Nikolai Rimski-Korsakows „Scheherazade“. Beide Stücke sind in ihrem programmatischem Ausdruck geradezu Paradebeispiele für Filmmusik-Vorbilder und gehören zum Besten der Gattung Programm-Musik. Maurice Ravel hat den schon eindringlichen Klavierstücken Mussorgskijs – durch eine äußerst ausgefeilte Instrumentierung – ein mehr an Kraft und Klangreichtum verliehen: Sowohl von den Bildern eingefangene Stimmungen als auch meisterhaft und üppig im großen Rahmen gestaltete Tonmalereien sind vertreten und lassen das jeweilige Bild mitunter förmlich zum Leben erwachen. Die groß angelegte Tondichtung „Scheherazade“ ist bis heute ein Vorbild für orientalische Klang-Exotik geblieben. Es handelt sich um ein sehr klangsinnliches, von hinreißend-schönen Melodien geprägtes Werk. In der Meeresepisode im letzten Satz wird das Zerschellen eines Schiffs am Magnet-Berg eindrucksvoll vom Orchester illustriert. Zwar ist die Themenvielfalt nicht übergroß, Rimski-Korsakow gewinnt ihnen aber durch ständig wechselnde Klangkombinationen immer wieder neue Reize ab. Dies ist (entfernt) vergleichbar mit dem berühmten Ravelschen Bolero, in dem sogar nur ein Thema durch permanente Klangverschiebungen – das Thema selbst bleibt unverändert – nie monoton wird. Die CD mit „Bilder einer Ausstellung“ enthält noch ein Mischprogramm effektvoller Konzertminiaturen russischer Komponisten; „Scheherazade“ wird durch die Suite aus Strawinskys Oper „Gesang der Nachtigall“ auf die Gesamtspieldauer ergänzt.

In „Vienna“, einer Kompilation bekannter Strauss-Walzer, beweist der Reiner Fritz aus Budapest, dass ihm diese tänzerische Musik der k.u.k.-Epoche im Blut lag. Gustav Mahlers Sinfonien gehören zum klanglich bombastischsten der abendländischen Musikliteratur. Besonders die erste und vierte Sinfonie sind, da sehr eingängig und nicht zu komplex gestaltet, zum Einstieg besonders geeignet. Die eher klassizistisch und weniger ausladend gehaltene durchsichtige 4. Sinfonie liegt hier in einer gelungenen, zeitlos-schönen Interpretation vor.

Einen feurig-schmissigen Abschluss dieser Wanderung durch Teile einer HiFi-Legende bildet ein Album mit dem berühmten Dirigenten Arthur Fiedler und seinen Boston Pops: Ein Arrangement der schönsten Melodien des berühmten Operetten-Komponisten der „Belle-Epoche“ Jacques Offenbach ist „Gaîté parisienne“. Ähnlich forsch und melodieselig geht es in „Der Zauberladen“ zu, in dem Ottorino Respighi Themen Rossinis adaptierte (siehe auch Klassikwanderung I). Beide Musiken werden federleicht und sehr beschwingt dargeboten. Ein eingängiger und auch klanglich überaus farbiger Hörspaß.

Weiterführende Links:

Kleine Klassikwanderung: Teil I
Kleine Klassikwanderung: Teil II
Kleine Klassikwanderung: Teil III

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Komponist:
Diverse

Erschienen:
2000
Sampler:
RCA BMG

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