Der Klassik-CD-Tipp I-2023: Ernest Ansermet – The Stereo Years

Geschrieben von:
Michael Boldhaus
Veröffentlicht am:
23. Juli 2023
Abgelegt unter:
CD, Hören, Klassik, Sampler

Am 30. September 1952 startete am Broadway Theatre in New York mit This is Cinerama in den USA die Breitwandrevolution, aber nicht nur das. Auch die Stereophonie hielt (abgesehen vom einsamen Disney-Experiment mit Fantasia im Jahr 1940) nun endgültig ihren Einzug in die Kinos. Voraussetzung für den sieben-kanaligen Cinerama-Stereosound war die im Jahr 1940 in Deutschland entscheidend verbesserte Magnetbandaufnahmetechnik im Verbund mit experimentellen Stereoaufnahmen ab 1943. Und das hatte, freilich mit einigen Jahren zeitlicher Verzögerung, auch auf die heimische Musikwiedergabe nachhaltig ausstrahlende Wirkung – siehe dazu „Kleine Klassikwanderung 4: Living Stereo“. Dabei darf man freilich nicht übersehen, dass Schallplatte oder gar Magnettonbandgerät in jenen Tagen noch nicht vergleichbar mit Massenprodukten unserer Tage, sondern eher sehr teure Hobbys für Besserverdienende waren. Das galt abgemildert auch für High-Tech-Kino-Erlebnisse, die selbst in den USA keineswegs annähernd flächendeckend, sondern auch in den besten Tagen nur an zahlenmäßig begrenzten Abspielstätten überhaupt angeboten worden sind. So blieb This is Cinerama geraume Zeit auf New York beschränkt. Mit Ablauf des Jahres 1954 wies die Cinerama Corporation in den USA insgesamt 14 Abspielstätten sowie noch fünf weitere in Montreal, Tokio, Osaka, London und Mailand aus. Die Uraufführung der zweiten Cineramaproduktion, Cinerama Holiday, erfolgte am 8. Februar 1955 wiederum in New York.

Ein europäischer Pionier des Stereo-Klanges für daheim: Die britische „Decca“

In Europa war es die britische Decca welche sich als erste nachhaltig für die neuartige Technik interessierte und zum entscheidenden Schrittmacher für stereophone Aufnahmetechnik avancierte. Bereits im Herbst des Jahres 1953 erfolgten erste Testaufnahmen. Im Juni 1954 sorgten die Decca-Techniker um den Toningenieur Roy Wallace in der ehrwürdigen Genfer Victoria Hall, wo Ernest Ansermet mit dem Orchestre de la Suisse Romande (OSR) residierte, dann für ein Schlüsselerlebnis. Der im Gegensatz zu manchen seiner Kollegen dem technischen Fortschritt in der Aufnahmetechnik besonders offene Ansermet begeisterte sich beim Anhören eines experimentellen Stereo-Mitschnitts von Rimski-Korsakows „Antar“ nachhaltig für die neue Aufnahmetechnologie. Und besagter, auch nach heutigen Maßstäben sowohl klanglich wie auch interpretatorisch immer noch sehr beindruckender Mittschnitt, bildet zeitchronologisch gesehen zugleich den Einstieg in das hier vorgestellte, mit 88 CDs üppige Box-Set. Im alphabetisch nach Komponisten geordneten Box-Set ist „Antar“ freilich erst im hinteren Drittel, als CD 65 in einem dreier CD-Set zu finden. Die Erstveröffentlichung in Stereo erfolgte übrigens erst im Jahr 2002 auf CD.

Die entscheidenden Vorarbeiten für die nun vorliegenden „Stereo Years“ lieferte Universal-Music-Australia, wo bereits seit den späten 2000er-Jahren die Wiederveröffentlichung des Vermächtnisses der Ansermet-Decca-Einspielungen in Einzelausgaben in Angriff genommen worden ist. In den Jahren 2014–16 erschienen daraus dann bei Universal-Music-Italy bereits drei zwar nicht komplette, aber schon sehr umfangreiche Ansermet-CD-Box-Sets: „French Music“, „Russian Music“ und „The Great European Tradition“. Diese enthalten jeweils 30+ Datenträger, insgesamt 96 CDs, wobei sowohl Mono- als auch Stereoaufnahmen vertreten sind. Allerding sind diese Boxen editorisch nicht voll befriedigend ausgefallen und sollen darüber hinaus auch eine Reihe kleinerer akustischer Mängel aufweisen. Gegenüber „The Stereo Years“ sind sie zudem insgesamt erheblich einfacher, fast schon spartanisch schlicht ausgestattet und aufgemacht.

Die den „Stereo-Years“ vorausgegangenen „Mono Years“ werden von Universal Music in einer sehr ähnlich aufgemachten, im Umfang deutlich kleineren Box mittelfristig noch nachgereicht. Die ursprünglich für das Frühjahr 2021 angekündigten „Stereo-Years“ haben sich ja um immerhin rund zwei Jahre verzögert. Ein verbindliches Datum für die das Ansermet-Decca-Projekt abschließenden „Mono-Years“ ist derzeit nicht zu bekommen. Ich denke mal, dass es im Laufe des kommenden Jahres soweit sein wird.

Der Dirigent Ernest Ansermet (1883–1969)

Ernest Ansermet zählt zu den Taktstockmaestri alter Schule, die insbesondere jüngeren Klassikfreunden wohl eher wenig bis gar nicht mehr geläufig sind. Der Rezensent ist erstmalig um 1968 mit Ansermet-Dirigaten in Berührung gekommen, in Form der auch heutzutage noch absolut ansprechenden Stereo-Gesamtaufnahme des Nussknacker-Balletts, erstklassig aufgenommen bereits im Oktober 1956.

Ernest Ansermet erblickte am 11.11.1883 das Licht der Welt im schweizerischen Vevey, gelegen am Genfer See. Im der Musik gegenüber aufgeschlossenen Elternhaus erhielt der Junge bereits von seiner Mutter ersten Klavierunterricht. Bevor die Musik jedoch endgültig seine Profession wurde, begann er als Naturwissenschaftler, studierte in Lausanne Mathematik und Physik bis zum Diplom (1903) und arbeitete zunächst als Lehrer. 1905 ging er nach Paris, ursprünglich um an der Sorbonne zu promovieren. Allerdings zog ihn das musikalische Leben der Seine-Metropole rasch erheblich mehr in seinen Bann. Zurück in der Schweiz nahm er eine Stelle als Mathematiklehrer in Lausanne an. Ab 1909 widmete er sich verstärkt der Musik und ging nun für ein Jahr nach Berlin. Dort sammelte er nicht nur erste Erfahrungen im Orchesterspiel. Insbesondere die Orchesterproben der Großen dieser Zeit hinterließen tiefe Eindrücke: Felix Mottl, Karl Muck, Arthur Nikisch und Richard Strauss. Sein von der Kritik hochgelobtes Debut als Dirigent gab er im März 1911 beim Orchestre symphonique de Lausanne. Ende 1911 vertrat er den erkrankten Francisco de Lacarda in drei der Kursaal-Konzerte in Montreux und wurde wenig später dessen Nachfolger.

Das Orchester von Montreux wurde zu Beginn des 1. Weltkriegs leider aufgelöst. Ansermet begründete daraufhin das allerdings nur kurzlebige Orchestre Symphonique Romand (OR), das in den letzten drei Monaten des Jahres 1914 immerhin 12 Konzerte gab. Nach einem letztmaligen Zwischenspiel als Lehrer in Lausanne trug man ihm nach einem Probekonzert in Genf Ende Januar 1915 die Nachfolge des verstorbenen Bernhard Stavenhagen an. Ansermet hatte sich da allerdings bereits bei Sergej Djagilew für die musikalische Leitung der „Ballets Russes“ (in Monte Carlo) verpflichtet. Er ersetzte damit den zum Kriegsdienst verpflichteten Pierre Monteux. Dies eröffnete ihm in den Jahren 1915 bis 1923 neben tiefen Einblicken in russische Musik auch die Möglichkeit internationaler Reisen. 1922 begründete er dabei etwa das Argentinische National-Orchester (Orquesta Sinfónica Argentina) in Buenos Aires und verbrachte über rund eine Dekade die Wintermonate in Genf und die Sommer in Argentinien. Trotz dieser Engagements blieb er seiner Schweizer Heimat eng verbunden. So gründete er im Jahr 1918 das mit seinem Namen in ganz besonderem Maße verbunden gebliebene Orchestre de La Suisse Romand (OSR). Mit dem Abonnementskonzert vom 30. November 1918 nahm die schon legendäre, rund 50 Jahre währende Zusammenarbeit ihren Anfang. Dabei liegt ein Teil des Reizes auch darin, dass, während sich heutzutage die regionalen Unterschiede im Klang der Orchester weitgehend ausnivelliert haben, das OSR seinerzeit noch unüberhörbar in der französischen Orchestertradition stand. Das steht für ein betont luftiges, weiches Klangbild. Wobei die so typische romanische Durchsichtigkeit des Klanges auf der Spielweise und auch auf zurückhaltendem Einsatz von Vibrato beruhte.

Besonders bemerkenswert ist dabei auch sein über lange Jahre intensives, freundschaftliches Verhältnis zu Igor Strawinskij, der nicht nur zeitweilig bei Ansermet gewohnt hat und ihm die Uraufführung diverser Werke anvertraute: „L’Histoire du Soldat“ (1918), „The Song of the Nightingale“ und „Pulcinella“ (beide 1920), „Bajka“ (1922) und „Svadebka“ (1923) sowie das „Capriccio for piano and orchestra“ (1929) sowie „Mass“ (1948). Beim berühmten Skandalstück, „Le Sacre du printemps“, leitete Ansermet zwar nicht die Welturaufführung (welche 1913 in Paris unter Pierre Monteux stattfand), aber immerhin die deutsche Uraufführung im Jahr 1922 in Berlin. Darüber hinaus hat er auch viele weitere zeitgenössische Werke uraufgeführt, darunter Eric Saties „Parade“ (1917), „Der Dreispitz“ von Manuel de Falla (1919) oder Sergei Prokofjews „Chout“ (1923). Er galt auch als Spezialist für französische Komponisten, nicht zuletzt Debussy und Ravel. Wobei ja auch Ravel zu denen zählte, die Ansermets Dirigate seiner Musik außerordentlich hoch geschätzt haben.

Im Jahr 1938 wurde er auch noch Mitbegründer des inzwischen längst hoch renommierten „Lucerne Festivals“ und setzte sich dabei auch für zeitgenössische Schweizer Komponisten ein, wie Frank Martin und Arthur Honegger. Bereits kurz nach dem zweiten Weltkrieg begründete Ansermet dann seinen unter Kennern bis heute ungebrochen vorzüglichen Ruf durch einen langfristigen Vertrag mit dem britischen Label Decca Records. Und (nicht ganz) an diesem Punkt beginnt das, was das vorliegende umfangreiche Box-Set beinhaltet. Auch die musiktheoretischen Schriften von Ansermet sind beachtlich. In seinem Buch „Die Grundlagen der Musik im menschlichen Bewusstsein“ (Les Fondements de la musique dans la conscience humaine) finden sich neben viel Wertvollem allerdings bei der Beurteilung der Antonalität Schönbergs und damit ebenso zu Strawinskys Spätwerk auch eine Reihe peinlicher antisemitisch angehauchter Formulierungen. Diese werfen zwar zweifellos ein schlechtes Licht, sie beruhen allerdings eindeutig auf tradierten antisemitischen Denkfiguren in der Musikbetrachtung, die bis ins 19. Jahrhundert und darüber hinaus zurückreichen. Insofern sollte man auch hier nicht das Kind mit dem Bade ausschütten. Diese Entgleisungen sind keinesfalls zu beschönigen, bleiben schlichtweg unakzeptabel. Sie sind aber kein wie auch immer gearteter Beleg dafür, dass Ansermet generell ein verkappter Antisemit gewesen sei. Ebenso wenig gibt es Hinweise darauf, dass der Dirigent jemals Sympathien für Hitler, die Nazis oder deren Ideologie geäußert hätte.

Das letzte Mal dirigierte er sein OSR am 18. Dezember 1968 und ist am 20. Februar 1969 im Alter von 85 Jahren verstorben.

Anmerkungen zum Box-Set

Das betont solide ausgestattete Box-Set macht bereits auf den ersten Blick einiges her. Es wartet mit 88 CDs in besonders dicken und stabilen Papptaschen auf – so dick, dass der daraus resultierende etwas breitere Rücken den Aufdruck von Alben-Infos ermöglicht –, versehen mit originalen Frontcovern. Hinzu kommt ein umfangreiches Begleitheft, in dem sämtliche Decca-Einspielungen Ansermets, also sowohl die Stereo- als auch die Mono-Einspielungen, übersichtlich gelistet sind. Erfreulicherweise sind die CDs auf eine möglichst gute bis exzellente Ausnutzung der verfügbaren Spieldauer angelegt, ohne dass dabei infolge übertriebenen Sparzwangs unschöne Kopplungen und Zerreißungen resultieren, etwa dass man sich die Weber-Ouvertüren verteilt auf diverse CDs heraussuchen müsste. Wo geboten, hat man auch mal ein LP-Programm 1:1 auf CD übernommen, etwa bei Ansermets einzigem Wagner-Album oder bei „The Royal Ballet: Gala Performances“. Der Löwenanteil der CDs wartet jedoch mit sehr gut genutzten Spielzeiten von 60+/70+ Minuten auf. Eine handvoll CDs  überschreitet dabei auch locker die 80-Minutenmarke um bis zu 5 Minuten. Das ist m.E. erheblich sinnvoller und damit besser gelöst als die insbesondere bei Universal Australia derzeit überhand nehmenden Wiederveröffentlichungen bei denen jede CD nur noch das Programm einer einzelnen LP enthält. Auch wenn so jede der CD-Hüllen ein (großes) Original-Cover schmückt, ist die nur scheinbare Fülle speicherplatzmäßig schlecht genutzter, dafür zahlenmäßig künstlich aufgeblähter Datenträger mit ultrakurzen Spielzeiten zwischen gerade mal 30 und 40 Minuten in der praktischen Handhabung letztlich eher nervig.

Durchweg bildet das Gebotene quasi eine Leistungsshow der vorzüglichen stereophonen Decca-Aufnahmetechnik, wobei dank sorgfältigen und zugleich behutsamen Remasterings auch das typische analoge Bandrauschen minimiert worden ist, ohne dabei den Klang zu beeinträchtigen: Rauschen ist also selbst bei den Aufnahmen ältesten Datums nicht wirklich ein Thema. Dass man hier sowohl der nach und nach noch dezent gesteigerten Leistungsfähigkeit der Stereotechnik als auch den kleineren Schwächen in einigen der frühen Aufnahmen besonders gut nachzuspüren vermag, liegt auf der Hand: ist doch die Masse der Einspielungen am identischen Aufnahmeort, der Genfer Victoria Hall, entstanden. (Daneben gibt es auch einige wenige mit dem Pariser Conservatoire Orchestra sowie Ausflüge zu Londoner Orchestern, etwa  mit dem Orchestra of the Royal Opera House, Covent Garden.)

Der Hörer geht hier auf eine faszinierende musikalische Reise bei der man natürlich zwangsläufig viel bereits anderweitig Vertrautem begegnet. Dabei zählen etwa die ehedem weniger geschätzten Einspielungen der Beethoven-Sinfonien und der Pariser Sinfonien Haydns allerdings durchaus zu dem, was mittlerweile dezent aufhorchen lässt. Die betont flüssigen Tempi und die eher unpathetischen Darstellungen in Kombination mit dem so transparent luftigen Klang rücken die Interpretationen für den heutigen Hörer in die Nähe der musikhistorisch informierten Aufführungspraxis. Ähnlich überzeugend schneiden der Brahms-Zyklus (nicht zuletzt „Ein deutsches Requiem“) und ebenso Schumanns 2. Sinfonie ab. Die Einspielungen der Musik von Debussy und Ravel waren schon von jeher sehr renommiert, und ähnlich hochkarätigen Ruf genossen die Aufnahmen zu russischen Komponisten, in erster Linie von Tschaikowski, Borodin, Rimski-Korsakow und natürlich Strawinsky. An dieser Stelle muss noch Edouard Lalo erwähnt sein. Nicht allein wegen Ansermets gelungener Einspielung der Symphony espagnole, sondern auch wegen der mitreißend dargebotenen, besonders selten zu hörenden Suite aus dem Ballett Namouna. Inwieweit manches davon auch heutzutage noch den seinerzeitig häufiger bescheinigten Referenzcharakter für sich reklamieren kann, darüber lässt sich sicher diskutieren. Hoch ambitioniert, edel eingespielt und damit in jedem Falle hörenswerte, aufschlussreiche Zeugnisse sind die Einspielungen durchweg allemal. Die drei Tschaikowski-Ballette etwa zählen unbedingt zu den besonders gelungenen, zeitlos schönen Interpretationen. Leider ist Schwanensee um rund ein Drittel gekürzt.

Von den oben genannten, uraufgeführten Strawinsky-Stücken ist im Box-Set einiges enthalten. Insbesondere „Le Sacre du printemps“ erklingt hier in einer überraschend gemäßigt erscheinenden Darstellung, die von heutigen Einspielungen und deren kaum mehr zu überbietender Wildheit und rhythmischen Extase deutlich absticht. Auch wenn viele Hörer hier wohl eher enttäuscht sein mögen, sollte einem die Tatsache zu denken geben, dass Strawinsky Ansermets Interpretationen seiner Werke hoch geschätzt hat, ihm ja auch die Berliner Uraufführung des Sacre anvertraute. Der Feuervogel ist zweimal anzutreffen, in der 1955er Version mit dem OSR und als die letzte Aufnahme Ansermets überhaupt, realisiert im Jahr 1968 mit dem New Philharmonia Orchestra. Auch wenn die spätere Einspielung in den Tempi ein klein wenig zurückhaltender ausfällt, ist sie von absolut tadelloser Gesamtwirkung. Zusätzlich reizvoll sind dazu die rund 50 Minuten umfassenden Auszüge aus den Orchesterproben.

Häufiger ist zu Ansermet lesen, dass die früheren Einspielungen desselben Werks auch dank ihrer flotteren Tempi die besseren seien. Ich kann das keineswegs derart pauschal bestätigen. So gefällt mir etwa die 1960er Version von Rimski-Korsakows Sheherazade mit dem OSR obwohl in den Tempi  marginal – nämlich um insgesamt nur rund 80 sec (!) – langsamer, gerade durch eine Tatsache doch noch einen Tick besser als die ansonsten sehr ähnliche und ebenfalls klangschöne Fassung von 1954 mit dem Orchestre des concerts du conservatoire. In der 1960er Version überzeugt mich der Schluss, das Zerschellen des Schiffs am Magnetberg, erheblich mehr, da Ansermet hier einen Tam-Tam-Schlag eingefügt hat, wie es späterhin auch Leopold Stokowski in seiner punktuell vielleicht noch etwas fulminanteren Decca-Einspielung von 1964 getan hat.

Darüber hinaus seien noch kurz erwähnt: Die exzellente, auf einer CD mit 77 Minuten zusammengefasste Kompilation „French Ouvertures“, Mussorgskys in prachtvollen Orchesterfarben dargebotenen „Bilder einer Ausstellung“ sowie die ungemein rhythmisch pointierten, leuchtkräftig schimmernden Einspielungen von De Fallas „Der Dreispitz“, Albéniz’ „Iberia“ und  Turinas „Danzas fantásticas“.

Neben dem Vertrauten finden sich auch einige Raritäten, etwa die äußerst selten zu hörende dritte Sinfonie von Albéric Magnard oder in der „eidgenössischen Rubrik“ die „Cantate de Noël“ von Arthur Honegger sowie Frank Martins Oratorium „In Terra Pax“. Besonders reizend ist aber auch in der „Ballet-Ecke“ Schumanns Klavierzyklus „Carnaval“, umgestaltet zum Ballett und instrumentiert von Glasunow, Rimski-Korsakow, Liadow und Tscherepnin. Vier der insgesamt 20 Nummern dieses knapp halbstündigen Ballets finden sich nochmals in der edlen Kompilation „The Royal Ballet Gala Performances“. Interessanterweise erschien diese Zusammenstellung berühmter Balletmusik-Highlights im Jahr 2009 in den USA nochmals als ein betont nostalgisches High-End-Produkt. Das rund 95 minütige Gesamtprogramm gepresst auf insgesamt 9 (nur einseitig bespielten!) LPs mit 45rpm, als LP-Box-Set. Die systemimmanenten Schwächen der LP sind beim CD-Standard natürlich längst kein Thema mehr und auch hier gilt: Zwar kennt man die meisten Stücke rauf wie runter, aber es so mitreißend interpretiert und brillant aufgenommen präsentiert zu bekommen, bereitet immer auf’s Neue sehr viel Spaß.

Die letzten vier Datenträger im Set sind wertvolle Boni in Form von Dokumentarmaterial zum Dirigenten, das man sich durchaus auch späterhin erneut anhören mag. Drei CDs enthalten die von Ansermet gegen Ende seiner Karriere produzierte und in allen drei Sprachfassungen selbst vorgetragene, bemerkenswerte Einführung „Was jeder über Musik wissen sollte“ – in Französisch, Englisch und auch in Deutsch. CD 88 enthält die speziell für das vorliegende Box-Set produzierte, in Teilen mit neuem Material versehene Audio-Dokumentation: „Ernest Ansermet Pioneer & Pacesetter“ (Ernest Ansermet: Pionier und Schrittmacher). Hier kommen auch Zeitzeugen zu Wort, etwa der Komponist Berthold Goldschmidt, der interessant zur Berliner Uraufführung des „Sacre“ zu berichten weiß.

Fazit: Ernest Ansermet, der sich für viele der jüngeren und jungen Klassikfreunde bislang eher im toten Winkel befunden habe dürfte, lohnt das Entdecken unbedingt. Zählt er doch zu den großen und auch aufgrund seines intensiven Einsatzes für die Moderne des 20. Jahrhunderts zugleich auch zu den historisch besonders bedeutenden Taktstockmaestri. Auch wenn längst nicht derart bekannt geworden wie der sich ja fortlaufend selbst geradezu perfekt medial inszenierende Herbert von Karajan, so weisen beide durchaus Berührungspunkte auf. So war der aus der romanischen Schweiz stammende etwa ein vergleichbarer Klangmagier wie sein österreichischer Kollege. Sich Ansermets klingendes Vermächtnis auf einer auf verschiedenen Ebenen aufschlussreichen und dabei faszinierenden Entdeckungsreise jetzt in derart vorzüglicher Qualität erschließen zu können, das ist zum einen ein Verdienst der heutzutage geradezu spektakulären Decca-Aufnahmetechnik der Nachkriegsära. Es ist zum anderen aber auch das Verdienst der Toningenieure unserer Tage, welche das in den Archiven verfügbare, recht betagte Material mit Hilfe modernster Technik behutsam klangtechnisch aufbereitet haben. In meinen Augen zählt das Ansermet-Projekt daher, alles in allem, zu den besonders herausragenden Vertretern der in Box-Sets preiswert zusammengefassten Wiederveröffentlichungen.

Hinweis auf Produktionsfehler

Zwei CDs im Box-Set sind fehlerhaft:

CD 20, Brahms, EIN DEUTSCHES REQUIEM, weißt am Ende des Schlusstracks Störgeräusche auf.
CD 37, dupliziert die 1957er LA-MER-Version von CD 40.

Dagegen sind zwei nachfolgende Setzfehler Marginalien und werden nur der Vollständigkeit halber genannt: Auf dem Coverrücken von CD 81, sind fälschlich die Angaben zu CD 7 der Zoltan-Kocsis-Complete-Box von Philips aufgedruckt: „Wagner/Liszt, Wagner/Kocsiz: Transcriptions from operas“. Und schließlich im Begleitheft auf Seite 19, wo es zum 1. Satz des Brahms-Requiems heißt „Selig sind, die da Lied [richtig: Leid] tragen“.

In Deutschland ansässige Käufer können sich an den Customer-Service von Universal Music wenden und erhalten für die beiden genannten CDs problemlos Ersatz: info@deutschegrammophon.com

© aller Logos und Abbildungen bei Universal Music. (All pictures, trademarks and logos are protected by Universal Music.)

Originaltitel:
Ernest Ansermet - THE STEREO YEARS

Erschienen:
2023/05
Land:
Deutschland
Sampler:
Universal Music
Zusatzinformationen:
88 CDs im Box-Set

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