Tim Burtons Ausflug ins Wunderland in 3-D
Kommentar zum Film
Die absurden Erlebnisse der Alice im Wunderland und Tim Burtons traditionell bizarre Kinowelten stehen einander bereits sehr nahe. Da konnte es eigentlich nur eine Frage der Zeit sein, bis der Regisseur besagte in seinen Werkkatalog integrierte. Seine jetzt für Disney produzierte Leinwandadaption orientiert sich allerdings nur lose an Lewis Carrolls viktorianischem Kinderbuchklassiker und hat auch sonst mit den früheren Verfilmungen des Stoffes kaum etwas gemein — Carroll ist das Pseudonym des Pfarrers Charles Lutwidge Dodgson, der als Tutor für Mathematik an der Christchurch-Universität im britischen Oxford tätig war. Linda Woolverton, die für Disney z. B. die Drehbücher zu Der König der Löwen und Die Schöne und das Biest verfasste, hat die in der 1865 erschienenen Buchvorlage eher willkürlich anmutende Odyssee der Protagonistin durch das Wunderland nicht nur in einen stringenten Handlungsablauf integriert, sondern ebenso überzeugend aus dem Märchen für Kinder eines für Erwachsene gemacht.
Aus dem kleinen Mädchen der Vorlage ist hier nämlich eine junge Frau von 19 Jahren an der Schwelle des Erwachsenwerdens geworden, die gegen die rigiden gesellschaftlichen Konventionen der Viktorianischen Ära aufbegehrt und ein selbstbestimmtes Leben führen will. Stattdessen soll Alice auf einem Gartenfest mit dem zwar wohlhabenden, aber völlig witz- wie farblosen Lord Hamish (Leo Bill) verehelicht und damit versorgt werden. Mit diesem, von Ihrer Mutter eingefädelten Vorhaben erst unmittelbar vor dem Eintreffen auf besagtem Fest konfrontiert, folgt die irritierte und unsichere Alice McTwisp dem sonderbaren weißen Kaninchen im Frack, das immer in Eile ist und so bedeutungsschwanger auf die Taschenuhr zeigt. Damit nehmen die Dinge ihren Lauf.
Aber auch das nun Folgende ist eben nicht so, wie aus dem Roman von Lewis Carroll gewohnt. Alice war nämlich 13 Jahre zuvor schon einmal in dieser Parallelwelt der bizarren Merkwürdigkeiten, in der nichts ist wie es scheint. Ein Ort, der anstatt Wunderland in Wirklichkeit „Unterland“ heißt, was das Kind offenbar seinerzeit schlichtweg falsch verstanden hatte. Dieses Mal wird sie allerdings sehnlich erwartet: als prophezeite Erlöserin von der Schreckensherrschaft der auf rollende Köpfe und damit Hinrichtungen versessenen, unbarmherzigen roten Königin. Im Unterland riecht es nach Verschwörung, und Revolution liegt in der Luft.
Burtons Film ist eine zwar von skurrilen Figuren und entsprechenden Einfällen in Serie bestimmte, dafür aber linear und stringent erzählte Fantasy-Märchenstory. Der klar erkennbare Handlungsfaden ist etwas, was es dem Zuschauer erheblich erleichtert, dem Ablauf zu folgen, ohne dass dafür der Nonsens-Charme des Carrollschen Absurdistans komplett geopfert wird. Da ist z. B. die Rede davon, dass Unmögliches zu glauben nur eine Frage der Übung sei. Als Alice schließlich Abschied vom Wunderland nimmt, wird das Verwirrende in Carrolls Vorlage gar mit einem liebevollen Augenzwinkern versehen, indem sie dem Hutmacher seine frühere Rätselfrage „Was haben ein Rabe und ein Tisch gemeinsam?“ zurückgibt und von ihm lächelnd die entlarvende Antwort erhält: „Ich habe keine Ahnung!“
Tim Burton hat in einem Interview angemerkt, es sei für ihn nicht der Sinn gewesen, sich allzu sklavisch an die Originalvorlage zu halten, sondern vielmehr das umzusetzen, was ihm an Alice stets als das Entscheidende erschien, nämlich durch Einbeziehen von Träumen und Fantasie die Probleme des wahren Lebens in Angriff zu nehmen. Bei ihm (und natürlich der Drehbuchautorin Linda Woolverton) ist Alice eben nicht mehr eine typische Maid der Viktorianischen Zeit. Sie ist vielmehr eine Rebellin, die durch ihre fantastischen Abenteuer reift, indem sie lernt sich zu entscheiden, selbständig zu handeln und sich nicht mehr bevormunden zu lassen. Alices Handlungen werden damit letztlich auch zur Motivation für andere und führen zum Gelingen der Revolution.
Nun, wem der Bourton-Touch liegt, der kommt hier sicher auf seine Kosten. Der wird über den sich im Wunderland auftuenden Erfindungsreichtum überrascht sein und gut unterhalten werden. Helena Bonham Carter (übrigens Lebensgefährtin Tim Burtons) ist die mit ihrem überdimensioniertem Ballonkopf sowie Kussmündchen auf den ersten Blick eher harmlos verschroben wirkende kleinwüchsige rote (Herz-)Königin. Sobald sie sich über jemanden ärgert, was häufig vorkommt, entlarvt sie sich allerdings durch den fordernden Schreckensruf: „Kopf ab“. Zu ihren eher harmloseren Marotten zählen die Liebe zum Cricket-Spiel, bei dem ihr ein Flamingo als Schläger und ein zusammengerollter Igel als Ball dient, oder wenn sie auf ihrem Thron sitzend einem willig herbei eilenden und sich auf den Rücken legenden Schweinchen ihre kleinen schmerzenden Füßchen auf dessen warmen Bauch parkt. Dazu bildet der ultragroßwüchsige, als Ritter der roten Königin fungierende, verschlagene Herz-Bube (Crispin Glover) einen markanten Kontrast. Er ist ein rechter Finsterling mit herzförmiger Augenklappe. Die Gegenspielerin der roten Königin ist übrigens zugleich ihre Schwester, die von Anne Hathaway verkörperte weiße Königin. Deren so dunkel geschminkter Mund und Liedschatten lassen allerdings auch eine dunklere Seite ihres Charakters vermuten. Umso Drolligeres hat dafür das vom britischen Komiker Matt Lucas verkörperte rundliche Zwillingsbrüderpaar Diedeldum und Diedeldei im Gepäck. Ständig liegen sich die zwei in den Haaren und geben dabei nur verwirrendes Zeug von sich. Dem Zuschauer begegnet aber auch die listig geheimnisvolle Grinsekatze Chessur, die es vermag, sich aus dem Nichts zu materialisieren und wieder in eine Rauchfahne aufzulösen. Sie ist versehen mit meergrünen Kulleräuglein und besitzt ein sehr verführerisches Lächeln, das durch die entblößten spitzen weißen Zähne zudem hintergründig wirkt. Und nicht zu vergessen die weise blaue Raupe Absolem, die selbst im Disney-Film ihre Wasserpfeife rauchen darf. Und da ist natürlich auch noch Johnny Depp, dessen Rolle als verrückter Hutmacher deutlich breiter und auch gewichtiger angelegt ist als in Carrolls Romanvorlage. Ihm begegnet Alice relativ zu Beginn an seiner Tee-Tafel, als er wohl wieder einmal „Nichtgeburtstag“ feiert — den man ja praktischerweise gegenüber dem Geburtstag im Jahr mindestens 364-mal begehen kann. Aber nicht nur der Hutmacher und die in ihren Reiterhosen wie ein kleiner Musketier wirkende mutige Haselmaus Mallymkun werden wichtige Gefährten im Kampf gegen das Böse. Als ebenso nützlich erweisen sich unerwartet zwei Diener der roten Königin. Nicht nur der im Geheimen bereits zuvor mit dem Untergrund kooperierende Bluthund Bayard hilft, sondern selbst die zähnefletschende Bestie Bandersnatch schlägt sich im entscheidenden Moment auf Alices Seite.
Darüber hinaus ist das Fantasy-Märchen-Spektakel bereits durch seine vielfältigen und dabei sehr fantasievoll gestalteten Landschaften visuell sehr ansehnlich. So manches erinnert dabei an Sleepy Hollow (1999), wobei die nächtlichen Szenen am Hofe der weißen Königin von der Bildästhetik der Filmtrilogie Der Herr der Ringe bestimmt sind. Die finale Konfrontation zwischen den Armeen der weißen und der roten Königin findet auf einem riesigen Schachbrett statt, eine Idee, die aus Carrols Nachfolgeband „Alice hinter den Spiegeln“ entlehnt ist. Das Erwachen des drachenartigen Reptils Jabberwocky erinnert an die Sequenz „Die Nacht auf dem kahlen Berge“ aus Fantasia (1940). Der Kampf Alices mit dem übrigens im Original von Christopher Lee gesprochenen Jabberwocky ist wiederum eine Hommage, sowohl an Disneys Dornröschen (1959) als auch an Ray Harryhausens Fantasyspektakel Sindbads siebte Reise (1958).
So weit entfernt und doch zum Greifen nah: Das 3-dimensionale Wunderland
Tim Burton hat bemerkenswerter Weise den Film nicht mit speziellen 3-D-Kameras aufgenommen, sondern mit den erheblich kompakteren 2-D-Kameras gearbeitet und nachträglich per Computer in 3-D konvertieren lassen. Zwangsläufig erlauben die zwar sehr tief wirkenden, jedoch fast ausschließlich aus dem Computer stammenden Ansichten des wunderhaften Unterlandes kaum eine sinnvolle Aussage in Bezug auf Natürlichkeit. Allerdings erschienen mir jedoch verschiedentlich ganz vorn im Bild platzierte Figuren eher zweidimensional flächig als wirklich zum Greifen nah. Derartiges habe ich von Avatar — Aufbruch nach Pandora und auch von Pixars Oben insgesamt doch überzeugender in Erinnerung. Ob dies nun etwa auf eine Schwäche des virtuell erzeugten 3-D-Effekts zurückzuführen ist oder aber doch andere Ursachen hat, lässt sich derzeit nicht eindeutig klären. Das Verpuppen der Raupe Absolem hingegen wirkt in 3-D wiederum exzellent — Absolem erhält dann im Schlussbild nochmals einen Auftritt als schöner blauer Schmetterling.
Das dreidimensionale Gesamtresultat ist in meinen Augen also schon gut bis sehr gut geraten. Entsprechend lohnend ist es, sich auch für diesen Film die Spezialbrille aufzusetzen, zumal Digital-3D vom Betrachter kaum als anstrengend empfunden wird. Und selbst der Abspann hält noch Originelles bereit: Er läuft vor dem Himmel im Wunderland als Hintergrund, in Form eines Blicks über einen Balkon ab, wobei dieser langsam von fantastisch erscheinenden Blumen, Pilzen und weiteren Gewächsen überwuchert wird, welche nicht nur pflückbar, sondern bei einbrechender Dunkelheit, auch illuminiert erscheinen. Das wiederum verweist ein wenig auf die nächtlich leuchtenden Dschungelregionen Pandoras in Avatar.
Danny Elfman: Musik für Tim Burtons Wunder(Unter-)land
Danny Elfman kann man durchaus als Burtons Hauskomponisten betrachten. Immerhin unterstützt er seit einem Vierteljahrhundert die filmischen Fantasien des Regisseurs mit seiner Musik. Alice im Wunderland ist übrigens die 13. Zusammenarbeit zwischen Komponist und Regisseur — der so markante The Nightmare Before Christmas (1993, Regie: Henry Selik) ist hier mitgerechnet, obwohl Burton nur das Drehbuch verfasste.
Mit seinen frühen Vertonungen für Burtons Fantasyfilme hat sich Danny Elfman gerade unter den jüngeren Filmmusikfreunden einen Namen gemacht. Für diese Klientel gelten besonders die frühen Burton-Elfman-Scores wie Beetlejuice, Batman, Edward Scissorhands oder auch Mars Attacks zu den besonderen Favoriten. Mit seiner aktuellen Filmkomposition für Alice im Wunderland hat sich Danny Elfman nun unüberhörbar wieder an diese, seine mittlerweile fast schon „klassischen“ Arbeiten erinnert. Als Bezugspunkt für seine wiederum fantastischen Klangdispositionen für das Wunder(Unter-)land dient seine besonders ausgereifte Komposition für Sleepy Hollow (1999). Dafür steht der eng verwandte, auch dieses Mal häufig herrmanesque wirkende, mit einer zusätzlichen Prise Minimal-Music gewürzte, typische Mischklang, der Orchester (inkl. Orgel) und gemischten Chor mit dezent eingesetzter Klangsynthetik vereint. In den Actionteilen ist Alice im Wunderland zwar durchaus vergleichbar kraftvoll wie die genannte Referenz, aber die Musik des Wunderlandes ist nicht durchweg entsprechend dunkel gehalten. Insgesamt ist es trotz seiner Schrecken ein insgesamt lichterer Ort als das von viel Nebel umwaberte, düstere Städtchen Sleepy Hollow. Durch den Einsatz von Celesta und Xylophon wird die Stimmung häufiger glitzernd aufgehellt.
Die Alice-Musik wird durch das zumindest in variierten Bruchstücken allgegenwärtige, besonders eingängige Hauptthema charakterisiert, welches spätestens nach mehrmaligem Hören zum Ohrwurm tendiert. Dabei arbeitet Elfman mit der eingängigen Melodie derart geschickt, dass es beim Hörer nicht zu Ermüdungserscheinungen kommt. Hinzu kommt noch, dass der ohnehin vielfältig agierende Chor dieses Mal nicht nur vokalisierend in Aktion tritt, sondern außerdem verschiedentlich eine Alice-Ballade intoniert. Wobei die letzten beiden Noten des Hauptthemas dazu dienen, den Namen der Protagonistin vom Chor quasi ausrufen zu lassen: „A-Lice“. Elfman hat der Titelheldin aber zusätzlich noch zwei Seitenthemen zugeordnet: das feenhaft schimmernde, leicht melancholische „Little Alice“ (Track 2) sowie den graziösen, ein wenig viktorianisch angehauchten Walzer im ersten Teil von Track 3 „Proposal“. Die beiden Seitenhemen stehen für die noch unentschlossene, kindliche Alice. Zusammen mit dem heroischen Hauptthema wird mit diesen der Reifeprozess der Protagonistin auch musikalisch ausgedrückt. Besonders „Little Alice“ — welches übrigens atmosphärisch sehr Black Beauty (1994) in Erinnerung ruft — taucht späterhin verschiedentlich wieder auf, z. B. in „The White Queen“ und schließlich in „Alice Returns“. Dabei erscheint die fortwährend, mitunter auch bruchstückhaft verarbeitete Hauptmelodie gelegentlich in vergleichbar kindlichem Klanggewand wie „Little Alice“. In „Alice Decides“ hingegen erklingt das Hauptthema heroisch-wuchtig, wird das Signal zum Aufbruch zur finalen Schlacht gegen die rote Königin und den Jabberwocky. Wertungsmäßig erscheint mir dafür ein Osterei, bemalt mit „fetten“ vier Cinemusic.de-Sternen, in jedem Fall als angemessen.
Zusammen mit dem Filmmusikalbum ist übrigens ebenfalls auf Disney-Records die „vom Film inspirierte“ Songkompilation „Almost Alice“ erschienen. Diese ist eventuell zusätzlich etwas für diejenigen, die den zu Beginn des Abspanns von der kanadischen Rock-Popsängerin Avril Lavigne vorgetragenen Song „Alice (Underground)“ nicht als unsäglichen Stilbruch und kalte Dusche empfinden.
Fazit: Insgesamt ist Alice im Wunderland ein sehr unterhaltsamer, den Besuch lohnender Film und zugleich einer, bei dem man sich das Elfman-Album direkt dazu gönnen mag. Es bietet nämlich eine sehr gelungene, an die mittlerweile schon „klassischen“ Vormilleniumskompositionen des Komponisten erinnernde Filmmusik. Dass diese außerdem gut ins Ohr geht, ist etwas, das ihren Reiz noch verstärkt.
Die 3D-Blu-ray-Edition von Tim Burtons Alice im Wunderland wird „hier“ vorgestellt.
Dieser Artikel ist Teil unseres Spezialprogramms zu Ostern 2010.
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