Am 17. April 2007 wäre Miklós Rózsa 100 Jahre alt geworden. Dem Andenken an den großen Vertreter des Golden Age hat das britische Tadlow-Label, gegründet von James Fitzpatrick, eine Neueinspielung der Musik zu Billy Wilders The Private Life of Sherlock Holmes • Das Privatleben des Sherlock Holmes (1970) gewidmet. Biographische Infos zu Rózsa finden sich hier.
Erfreulicherweise stand das Projekt dieser Neueinspielung komplett unter einem günstigen Stern. Neben wohlwollender Unterstützung von Seiten der Rechteinhaber — was keineswegs selbstverständlich ist — erwies sich die Materiallage als nahezu optimal: Die das Rózsa-Archiv verwaltende Syracuse University des US-Bundesstaats New York stellte nicht nur die vollständige Original-Partitur zur Verfügung, auch einige nicht verwendete Alternativ-Stücke sind erhalten und wurden eingespielt. So beschert diese Initiative dem Filmmusikmarkt jetzt erstmals die vollständige Musik zu Wilders komödiantisch-ironischer Betrachtung des Mythos’ des berühmten Detektivs.
Regisseur Billy Wilders Sherlock-Holmes-Filmprojekt entstand seinerzeit unter deutlich weniger günstigen Bedingungen als die nun erfolgte Neueinspielung der Musik. Wilder schwebte ein rund dreistündiges, groß angelegtes episodenhaftes Filmopus vor, das er als „Sinfonie in vier Sätzen bezeichnete“. Produziert wurde für United Artists in den britischen Shepperton Studios. Die erste Schnittfassung von rund 200 Minuten führte zur Forderung nach drastischen Kürzungen, aus denen in mehreren Schritten schließlich der heutzutage geläufige Torso mit nur noch rund 125 Minuten Lauflänge resultierte. Miklós Rózsa schreibt dazu in seiner Autobiografie mit dem sinnigen Titel „A Double Life“: „Der arg beschnittene Film, wie man ihn heutzutage sieht, ist eine traurige Entstellung des Originals und für alle daran Beteiligten eine große Enttäuschung.“ Wie Steve Vertlieb, Verfasser des vorzüglichen Begleithefttextes, dazu anmerkt, trifft dies auf Rózsas Musik gewiss nicht zu: diese ist alles andere als enttäuschend. Mit spürbarem Herzblut hat der ehemalige Hollywood-Maestro seine Komposition gefertigt und dabei auch bereitwillig Teile seines Violinkonzerts aus dem Jahr 1956 eingearbeitet, das ein persönlicher Favorit von Billy Wilder war.
Miklós Rózsa war in jenen Jahren längst freischaffender Komponist, pendelnd zwischen dem italienischen Rapallo (im Sommer) und Hollywood (im Winter). Seine rund 14 Jahre währende wahrlich große Phase bei MGM war bereits 1962 eher bescheiden schlicht, von einem Tag zum nächsten, einfach zu Ende gegangen, sein Kontrakt nicht mehr verlängert worden. So sehr hatte sich Hollywood verändert, waren die Mitglieder der bewährten alten (Komponisten-)Garde aus der Mode gekommen, dass das Ende einer solchen Ära ohne angemessene Verabschiedung erfolgte, was neben anderen unerfreulichen Vorkommnissen einige Verbitterung hervorrief. Mit Billy Wilder hatte die Zusammenarbeit in besseren, wenn auch in Kriegstagen begonnen: im Jahr 1943 mit dem raffinierten Propaganda-Spionageepos Five Graves to Kairo. Darauf folgten die Vertonungen zum ansehnlichen Noir-Streifen Double Indemnity (1944) sowie die zur auch heutzutage noch packenden Studie zum Thema Alkoholismus, The Lost Weekend (1945). Nach dem Sherlock-Holmes-Projekt arbeiteten die miteinander befreundeten Künstler letztmalig 1978 bei Fedora zusammen.
Als ein Blick zurück in die goldene Kinoära der 1940er und 1950er Jahre präsentiert sich Rózsas üppige und zugleich einfallsreiche Musikuntermalung zum Privatleben des Sherlock Holmes. Holmes, der im Film zwecks Entspannung zwischendurch selbst zur Geige greift, erhält das melancholische und zugleich etwas unterkühlt anmutende Thema des ersten Satzes des Violinkonzerts zugeordnet. Dieses erschien Regisseur Wilder als treffender Reflex auf Holmes zwiespältigen Charakter und seine unter polierter Oberfläche verborgene Drogensucht. Das lyrische Thema des „Lento cantabile“ fungiert als Liebesthema für die Liaison des Meisterdetektivs mit der deutschen Meisterspionin Ilse von Hoffmanstal („Gabrielle“). Und zur Illustration der Aktivitäten des Loch-Ness-Monsters dient eine Passage der Eröffnung des Finalsatzes in „The Monster Strikes“, gehalten im schroffen Noir-Stil der 1940er.
Für die lyrischen Szenen bei Loch Ness präsentiert Rózsa dem Hörer in „Castles of Scotland/Urquhart Castle“ geschickt eingefangenes, teilweise auf alten Volksliedern (wie dem fein arrangierten „Loch Lomond“) basierendes schottisches Flair, das besonders gut ins Ohr geht. Zu diesem Stück gibt es im Anhang übrigens noch zwei von Wilder als unpassend empfundene Alternativ-Versionen, die weiteren Hörspaß bereiten. Eine davon, ein herrlicher, typischer Rózsa-Walzer trägt dabei den originellen Titel „Vienna in Scotland“. Und nicht vergessen werden darf „Victoria Regina“, ein warmer britischer Marsch im Elgar-Stil, der zu den Auftritten der Königin Victoria erklingt. Wobei die Partitur auch für das Skurrile der Handlung so manch gelungenen musikalischen Einfall bereithält.
Insgesamt ist The Private Life of Sherlock Holmes über die gesamte Spielzeit eine ungemein frische und einfallsreiche Musik des damals bereits 63 Lenze zählenden, aber hörbar nicht zum „alten Eisen“ gehörenden Komponisten. In der Zeit ihrer Entstehung war derartig sorgfältig thematisch konzipierte und handwerklich erstklassig ausgeführte, in der klassischen Kinotradition stehende romantisch elegante Filmmusik eine Randerscheinung. Hinzu kommt, dass in der damaligen „Popära der Filmmusik“ Derartiges kaum noch beachtet wurde. Der filmmusikalische Oscar des Jahres 1970 für Francis Lais schlichte Love Story spricht da für sich.
Miklós Rózsas Golden-Age-typisch angelegte Musik zu The Private Life of Sherlock Holmes ist nicht nur musikalisch erstklassig. Sie kombiniert zum einen charmant die beiden Aspekte der Identität im Künstlerdasein des Komponisten: Komponieren für den Film und auch für den Konzertsaal. Sie harmoniert (und funktioniert dadurch) aber zum anderen vorzüglich mit der plüschigen Bildsprache des Wilder-Epos. Das ist etwas, das nicht für alle späteren Werke des Maestros gleichermaßen zutrifft. So beschwört z. B. die Musik zum Weltkrieg-II-Agentendrama Eye of the Needle • Die Nadel (1981) für sich genommen zwar nochmals prachtvoll die etwa drei Dekaden zurückliegenden Noir-Film-Vertonungen des Maestros. Dem Film aus dem Jahr 1981 vermag diese Tonsprache allerdings kaum mehr zu dienen. Der Musik gelingt es nicht, mit den Bildern zu verschmelzen. Sie läuft vielmehr häufig Gefahr, diese förmlich zu erschlagen.
Das bereits erwähnte äußerst informative Begleitheft zum Sherlock-Holmes-Album wartet mit eingehenden Infos zum Film auf und informiert zugleich ausführlich über die Positionierung der Stücke im ursprünglichen Filmkonzept, wobei auch analytische Infos zur Musik eingestreut sind. Qualitativ ist das Gebotene auf vergleichbarem Level angesiedelt wie bei den derzeit die Spitze des Machbaren bildenden Alben von SAE und Film Score Monthly. Dies rundet den insgesamt sehr positiven Eindruck dieser CD-Produktion zusätzlich ab. Das bedeutet, dass auch die im Zentrum stehende Einspielung überaus zufriedenstellend geraten ist. Ist doch das City of Prague Philharmonic Orchestra infolge einer Reihe verunglückter Einspielungen des Silva-Labels bei manchen Sammlern geradezu berüchtigt. Dass diverse, zurecht beanstandete Mängel und einzelne echte Flops wie Dimitri Tiomkins The Thing from another World eben nicht einfach auf das Konto einer generell minderwertigen Klangformation zurückzuführen sind — sondern vielmehr auf ungenügende Produktionsbedingungen —, belegt (nicht allein) die jetzt vorliegende Aufnahme. Sowohl die Konzermeisterin Lucie Svehlova als Interpretin der Violinparts als auch ihre unter der Leitung von Nic Raine ambitioniert agierenden Mitstreiter liefern eine einwandfrei und flüssig musizierte und damit wohlklingende Aufführung einer nicht durchweg einfach zu spielenden Filmmusik. Dass auch die Tempi weitgehend denen der Originaleinspielung entsprechen, dürfte so manchen Käufer zusätzlich erfreuen. Der Klang ist sehr sauber und klar, obwohl der Hallanteil hier merklich größer ist als beim Tadlow-Debut-Album The Guns of Navarone. Unterm Strich handelt es sich um eine hochwillkommene Ausgrabung aus dem Œuvre des berühmten Ungarn, ja um eine echte Bereicherung des Repertoires, die entsprechend bei jedem Sammler ein Plätzchen finden sollte, der das Golden Age schätzt.
Bislang waren von Rózsas Sherlock-Holmes-Musik offiziell allein kürzere Zusammenstellungen als Nachspielungen verfügbar — die Bänder der Originaleinspielung sind offenbar verloren. Davon ist die Suite, die der Maestro Ende der 1970er Jahre für eines der drei LP-Alben für Deutsche Grammophon/Polydor, „Rózsa conducts Rózsa“, einspielte, besonders repräsentativ gelungen — welche allerdings in den Tempi gegenüber dem Original und der Tadlow-Neueinspielung deutlich langsamer daherkommt.
Dimitri Tiomkins The Guns of Navarone bildete einen beachtlichen Einstieg. Die Nummer zwei ist eine ebenfalls solide, wenn auch nicht ganz so bedeutende Elmer-Bernstein-Themen-Kollektion mit der im Zentrum stehenden vollständigen Einspielung der Musik zum Spätwestern True Grit • Der Marshall (1969). Das vorliegende Rózsa-Album ist somit erneut ein besonders gelungener Streich im Bemühen des Tadlow-Labels um wertvolle, bislang nicht zugängliche Filmmusiken. So bleibt neben einer ausdrücklichen Empfehlung die ermunternde Feststellung, dass die Aussichten auf qualitativ vergleichbar hochwertige zukünftige Alben günstig sind. Etwas, das natürlich der aktiven Unterstützung durch möglichst viele kauffreudige Sammler bedarf.
Hier finden Sie einen Überblick über alle bei Cinemusic.de besprochenen CDs des Labels Tadlow Music.
Dieser Artikel ist Teil unseres Spezialprogramms zu Pfingsten 2007.
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