Tom and Jerry and Tex Avery too!, Vol. 1
Mitunter sind die zufälligen Ereignisse im Umfeld einer aktuellen CD-Veröffentlichung bemerkenswert. So setzt der aktuelle Streich des FSM-Labels nicht allein dem bislang auf Tonträger kaum vertretenen Komponisten Scott Bradley (1891-1977), einem Meister des Cartoon-Mickey-Mousings, ein Denkmal. Zugleich wird diese mittlerweile 145. FSM-Veröffentlichung zum Nachruf für den kürzlich verstorbenen US-Comic-Zeichner Joseph Barbera, aus dessen Feder berühmte Figuren wie „Familie Feuerstein“ und das Duo „Tom und Jerry“ stammen. Dabei darf natürlich der mindestens ebenso verdiente „Tex Avery“ nicht vergessen werden, dessen oftmals anarchische Zeichentrick-Shorts zum Grandiosen gehören, das im MGM-Animation-Department erschaffen worden ist.
Einen frech-witzigen und dabei überaus virtuosen musikalischen Spaß über fast 160 Minuten Laufzeit bekommt der Käufer des prall gefüllten Doppel-CD-Albums frei haus geliefert. Neben eigenen Themen, erwartet den Hörer eine überaus raffiniert gehandhabte Revue aus Zitaten bekannter Melodien und Gassenhauer: Vom Volkslied, populären Schlager über Marsch, Musical bis hin zu Oper und Konzert spannt sich der Bogen. Dabei werden das Beutegut, wie der Musical-Evergreen „Over the Rainbow“, das Brahms’sche Wiegenlied „Guten Abend, gute Nacht“ oder das Marschfinale aus Rossinis Wilhelm-Tell-Ouvertüre jedoch nicht einfach runtergespielt. Ihnen wird vielmehr pfiffig der eigene Stempel aufgedrückt und das Ganze äußerst geschickt mit den das Bild verdoppelnden Klängen verknüpft. Mitunter laufen dabei die zitierten Themen auch einander entgegen, wodurch so manch drolliger Kontrapunkt zustande kommt. Hinzu kommen nicht minder raffiniert miteinander kombinierte verschiedenste Stilrichtungen populärer Musik (insbesondere Blues und Jazz), die oftmals karikiert werden. Ebenso wird auch Genre-Typisches aufs Korn genommen, z. B. werden musikalische Western- und Swashbuckler-Klischees parodiert. So erweisen sich die Cartoonmusiken des vorliegenden Programms über die gesamte Laufzeit nicht nur als erstaunlich abwechslungsreich, sie können häufig sogar als originell gelten. Hintereinander in Serie gehört wirken womöglich die ersten rund 25 Sekunden der zwischen fünf und sieben Minuten Laufzeit pendelnden Scores anfänglich etwas irritierend. Sind diese doch als eine Art musikalisches (Cartoon-)Logo mit Wiedererkennungswert sehr ähnlich gestaltet.
Dem Hörer begegnet analog zu dem in den Kurzfilmen Gezeigten ein unakademischer, mitunter geradezu anarchischer musikalischer Mix, der infolge der handwerklichen Perfektion seines Schöpfers jedoch äußerst charmant anzuhören ist. Scott Bradleys ausgefeilte Kompositionstechnik ist natürlich exakt aufs Bild abgestimmt. Entsprechend der meist temporeichen Handlung bleibt selten Zeit, bei einem Einfall (etwas) länger zu verweilen. Oftmals stehen in kurzer Folge geradezu rasante Stimmungswechsel von einem Takt zum nächsten auf dem Programm. Entsprechend jagen sich die musikalischen Gags häufig geradezu gegenseitig. Darunter finden sich Arpeggios der Klarinette, lustig vorgetragene Pizzicati der Streicher sowie sich überschlagende Läufe des Pianos, und vereinzelt kommt auch der Synthesizer-Vorläufer, das Novachord, atmosphärisch zum Einsatz.
Im Gegensatz zu seinem vergleichbar bekannten Kollegen bei Warner, Carl Stalling, genoss Scott Bradley bei MGM schlichtweg bessere Arbeitsbedingungen. Stalling stand zum Vertonen nicht nur deutlich weniger Zeit zur Verfügung. Er hatte darüber hinaus mit seinen Kompositionen gegen viel Dialog anzukämpfen. Bradley hingegen war es gestattet, gerade bei den völlig dialogfreien Tom-und-Jerry-Streifen, viel freier zu gestalten. So produzierte er die meisten Geräuscheffekte musikalisch und integrierte diese damit geradezu organisch in seine Musik.
Zu dieser so typischen Art der musikalischen Verdoppelung des Bildes, dem Mickey-Mousing (siehe auch Max Steiner) im Cartoon-Scoring, ist in so mancher Publikation zum Thema Filmmusik leicht Abfälliges zu finden. Dabei offenbart das, was mitunter auf Klarinetten-Kickser für Lacher reduziert wird, erst unabhängig vom Bild die elegante Machart und damit seinen vollen Charme. Dass Bradley musikalisch weitgehend Autodidakt war, macht die hier hörbaren, zweifellos meisterlichen Ergebnisse umso bemerkenswerter. Anzumerken ist außerdem: Bradley instrumentierte seine Musiken eigenhändig; er arbeitete mit eher kleinen Ensembles von 15 bis maximal 30 Musikern, in der Regel mit rund 20, woraus jedoch keineswegs ein dünner Klang resultiert.
Die vorstehende Aussage gilt für das vorliegende FSM-Album in ganz besonderem Maße. Bislang sind Cartoonmusiken auf einzelnen Tonträgern ausschließlich von so genannten Composite-Tracks abgenommen worden. Diese beinhalten neben der Musik aber auch diverse Geräusche, allerdings keine Dialoge. Entsprechend dienen derartige Bänder mit Musik-Geräusch-Abmischung — also wahre „Soundtracks“ — als Grundlage für Synchronisationen. Zwar ist das Ausmaß geräuschartiger Beigaben bei Cartoons gegenüber dem bei Realfilmen deutlich reduziert, störend sind diese trotzdem. Die FSM-Edition geht hier mit bestem Beispiel voran, hat ausschließlich auf reine Musikmaster zurückgegriffen. Da von 17,5-mm-Magnetton-Film in Topzustand abgenommen werden konnte, ist die Tonqualität durchweg sehr gut. Ein vorzüglich klarer und außerdem voller Monoklang umfängt den Hörer.
Aber damit nicht genug: Insgesamt neun Cartoonmusiken haben sogar dreikanalig auf 35-mm-Magnet-Stereotonfilm überlebt. Das Nebeneinander von qualitativ hochwertigem Mono und Stereo zeigt an dieser Stelle besonders deutlich, wie überzogen die immer noch weit verbreitete Mono-Phobie in Wirklichkeit ist.
Abrundung (oder sogar Krönung?) erfährt die Edition durch das wiederum vorzügliche Begleitheft. Nebst einem ausführlichen, sehr informativen einführenden Text von Daniel Goldmark (Autor von „Tunes for Toones: Music and the Hollywood Cartoon“) wartet es, wie gewohnt, mit analytischen Infos zu jeder vertretenen Cartoonmusik auf. Dass daraus durch üppiges Bildmaterial zum drolligen Hör- noch ein visuell ebenso reizvoller Lesespaß wird, ist schon fast zwangsläufig.
Kompositionstechnisch rangieren die Musiken zwischen edlen vier und viereinhalb Sternen, zudem ist der Repertoirewert außerordentlich hoch. Demgemäß halte ich für diese editorische Topleistung im Sinne einer Albumwertung glatte fünf Sterne für völlig berechtigt.
Fazit: Von Scott Bradleys sich über insgesamt 23 Jahre erstreckender MGM-Karriere ist mit „Tom and Jerry & Tex Avery Too!, Vol. 1“ jetzt ein erster Ausschnitt mit 25 annähernd vollständigen Zeichentrick-Kurzfilmmusiken erschienen. Ganz bewusst hat man zum Einstieg besonderen Wert auf klangliche Bestform gelegt und auf Einspielungen aus den Jahren 1952 bis 1958, also aus der Magnetton-Ära, zurückgegriffen. Möge der nicht nur tadellose, ja sogar vorzügliche HiFi-Mono-, aber auch HiFi-Stereo-Sound der bis zum Überlaufen gefüllten Doppel-CD-Kompilation mit dazu beitragen, dass diese rasch viele Liebhaber findet.
Dieser Artikel ist Teil unseres umfangreichen Programms zum Jahresausklang 2006.
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