Tarabas / Hiob

Geschrieben von:
Michael Boldhaus
Veröffentlicht am:
30. September 2006
Abgelegt unter:
CD

Score

(5/6)

Rolf Wilhelm: Tarabas/Hiob und Flucht ohne Ende/Radetzkymarsch/Don Carlos

Neues Altes vom deutschen Altmeister der Filmmusik: Die ersten beiden Alben der Reihe „Deutsche Filmmusikklassiker“, gewidmet dem Komponisten Rolf Wilhelm, sind in Zusammenarbeit mit „Cinema Musica“ (www.cinemamusica.de) auf dem Alhambra-Label (www.firstfloor-entertainment.de) erschienen. Die Alben vereinen Film- und Fernsehmusiken, die bis auf eine in Wien produziert worden sind. Im Zentrum stehen die Vertonungen zu aufwändigeren Fernsehspielen des Regisseurs Michael Kehlmann, die auf Stoffen des österreichischen Schriftstellers Joseph Roth (1894-1939) beruhen: Radetzkymarsch (1965), Hiob (1978), Tarabas (1982) und Flucht ohne Ende (1985). Gewissermaßen als Zugabe gibt’s auf dem zweiten Album eine Bühnen- und zugleich Filmmusik: Die Komposition zum Schiller-Drama Don Carlos in einer Inszenierung des Wiener Burgtheaters aus dem Jahre 1960, verfilmt von Josef Gielen.

In Josef Roths Romanen stehen tragische Einzelschicksale stellvertretend für menschliche und gesellschaftliche Probleme: In der Lebensgeschichte des russischen Obersten Tarabas geht es um Schuld und Sühne; Hiob bildet eine zeitgemäßere Variante der Geschichte um den schwer geprüften Gottesfürchtigen gleichen Namens im Alten Testament, und Flucht ohne Ende ist die Geschichte eines Angehörigen der „Verlorenen Generation“, der durch die Erfahrungen des ersten Weltkriegs entwurzelten jungen Männer. Die wohl bedeutendste und auch bekannteste Roth-Roman-Vorlage ist der erstmalig (noch als schwarzweiße) Koproduktion zwischen BR und ORF 1964/65 inszenierte Radetzkymarsch. Am Beispiel der Kaisertreuen Familie Trotta, von denen einer einst dem Kaiser Franz Josef I. in der Schlacht von Solferino 1859 das Leben rettete, zeichnet der Roman das Bild einer in überkommenen und verkrusteten Traditionen verhafteten Gesellschaftsordnung. Am Schicksal des jüngsten Sprosses der Trottas, Carl Joseph, dem Enkel des Helden von Solferino entwirft er ein melancholisches, gelegentlich auch von sanfter Ironie getragenes Bild vom Nieder- und Untergang der Donaummonarchie. Der eher weiche und feinsinnige Carl Joseph erkennt zwar, dass die „Alte Ordnung“ keinen Bestand haben wird, aber er ist unfähig in den sich abzeichnenden Umbrüchen seinen Weg zu finden. (Dieser faszinierende Stoff ist übrigens im Jahr 1993 von Axel Corti neu für das Fernsehen inszeniert worden. Hier geht’s zu den DVD-Ausgaben beider Verfilmungen.)

Zum Einstieg beim Komponisten Rolf Wilhelm empfiehlt sich der abwechslungsreiche Bear-Family-Sampler der Reihe „Deutsche Filmkomponisten“. Auf den beiden aktuellen Alhambra-CDs bekommt man tiefere Einblicke in Wilhelms betont klassisch geprägte Kinosinfonik geboten. Sämtliche vertretenen Musiken stehen für vorzüglich ausgeführte und klangsinnig instrumentierte sinfonische Verarbeitung markanter Motive und einprägsamer Themen. Dabei steht in der Regel ein Hauptthema im Mittelpunkt, das sich sowohl in fantasievollen Variationen als auch kontrapunktisch durch die gesamte Musik zieht und alles miteinander verbindet. Dabei wird weder gelärmt noch sonst wie unnötig dick aufgetragen: gelegentlichem, wohlkalkuliertem Einsatz des vollen Apparates steht ein eher schlanker Orchestersatz gegenüber, der von vielen, mitunter elegischen Soli (meist der Holzbläser) getragen wird. In den hier annähernd (in jedem Fall substanziell) vollständig präsentierten Suiten erweist sich Rolf Wilhelm insgesamt als souverän und tadellos agierender Handwerker mit Sinn sowohl für Dramatik als auch für stimmige Atmosphäre. Und nicht zuletzt zeigen seine Musiken auch eigene, in den europäischen Traditionen verwurzelte Stimme.

Das erste Album vereint Tarabas und Hiob. Das Slawisch-rhapsodische in Tarabas steht dem jüdischen Tonfall in Hiob nahe, was die beiden Musiken als Kopplung besonders gut miteinander harmonisieren lässt. Zumindest verwandt zu den beiden vorgenannten kommt Flucht ohne Ende daher; eine Musik, die über ein besonders gelungenes Hauptthema verfügt. Markanten Kontrast dazu bieten der wienerisch geprägte Radetzkymarsch und die mit Stilelementen der spanischen Renaissance gekonnt operierende Vertonung zu Don Carlos.

Fast schon zwangsläufig bildet der berühmte Radetzkymarsch in der Filmmusik zum gleichnamigen Film auch thematisch das dramatisch geschickt eingesetzte und alles zusammenhaltende Hauptelement. Der Komponist lässt dieses fortwährend in eindrucksvollen, zum Teil geisterhaften Spiegelungen aufscheinen. Hinzu kommen reichhaltig eingearbeitete Zitate bekannter Musikstücke, wie die aus dem Kaiserquartett stammende Haydn-Hymne, „Gott erhalte Franz den Kaiser“, der Strauss’sche Kaiserwalzer und der ebenso berühmte Trauermarsch von Frederik Chopin. Und neben ein paar als Hintergrundmusik fungierender Stücke finden sich ebenso einige betont atmosphärisch auskomponierte Passagen.

Die für TV-Verhältnisse der frühen 60er geradezu ungewöhnlich üppig und breitorchestral angelegte Musik zu Radetzkymarsch entspricht keinesfalls den typischen, eher bescheiden zu nennenden TV-Vertonungsstandards jener Zeit: Hier fühlt man sich beim Hören sogar unmittelbar besonders an üppige Filmmusik erinnert, ein Gefühl, das sich bei der prunkvollen und prächtigen Komposition zu Don Carlos sogar noch ein wenig verstärkt. Man höre hierzu die festlichen höfischen Fanfaren und achte auch auf den sehr überzeugenden historisierenden Touch dieser Theater- und zugleich Filmmusik. Ähnlich wie in Die Nibelungen sind hier Hollywood und das Vorbild Miklós Rózsa gewiss nicht weit.

Man muss sich hierzu verdeutlichen, dass die deutsch-österreichische Kino- und TV-Landschaft, besonders der 1960er, eben nicht Hollywood bedeutete, vielmehr waren in der Regel Mini-Orchester am Werke. Vertonungen wie die beiden hier vorgestellten, eingespielt mit ca. 50 Musikern gehörten in jenen Tagen zu den großen Ausnahmen und sind zugleich Beleg für den besonders guten Ruf, den ihr Komponist besaß. (Wie auch der Bear-Family-Sampler zeigt, erhielt Rolf Wilhelm von der in der Breite qualitativ sehr bescheidenen deutsch-österreichischen Kinoproduktion der 50er bis 70er Jahre meist die besseren Vertonungsaufträge.)

Das solide ausgestattete Begleitheft bietet neben einer Reihe Fotos eine biografische Skizze über den Komponisten von Stefan Schlegel. Kompetente Texte zu den einzelnen Filmmusiken stammen von Rolf Wilhelm höchstpersönlich, der auch für den durchweg sehr gelungenen Albumschnitt verantwortlich zeichnet. Er schreibt auch ein wenig zur Beschaffung des Tonmaterials: Überwiegend konnte auf Kopien im Privatarchiv des Tonsetzers zurückgegriffen werden. Bei Radetzkymarsch gestaltete sich die Situation schwieriger, lief gar Gefahr aussichtslos zu werden, da sowohl Wilhelm als auch der ORF passen mussten. Aber mitunter lacht auch in diesem Metier das Glück. Und so stellte sich heraus, dass eine Kopie des mittlerweile rund 40 Jahre auf dem Buckel tragenden Original-Magnettonbands vom mit Wilhelm befreundeten Wiener Tonmeister jener Tage in gutem Zustand aufbewahrt worden ist. Die Tonqualität der behutsam aufbereiteten Ausgangsmaterialien ist insgesamt beachtlich, reicht von sehr transparentem vollem Mono (!) bis zu sauberem Stereoklang.

Damit sind nach den Veröffentlichungen der Jahres 2000 und 2001 jetzt erfreulicherweise weitere Filmmusiken Rolf Wilhelms auf CD zugänglich und bereichern die bislang eher kleine Diskografie des Komponisten — weiteres ist in Planung und Vorbereitung. Bis auf den bereits in den 80er Jahren auf LP zugänglichen Tarabas handelt es sich dabei um Erstveröffentlichungen. Wertungsmäßig liegen die Musiken auf gutem bis sehr gutem Niveau. Als Albumwertung dürfte unter Berücksichtigung des hohen Repertoirewerts mit vollen fünf Sternen des Guten keineswegs zuviel getan sein.

Dieser Artikel ist Teil unseres umfangreichen Rolf-Wilhelm-Specials und unseres Programms zu Pfingsten 2006


Mehrteilige Rezension:

Folgende Beiträge gehören ebenfalls dazu:


Originaltitel:
Rolf Wilhelm 1

Komponist:
Wilhelm, Rolf

Erschienen:
2006
Gesamtspielzeit:
77:20 Minuten
Sampler:
Alhambra
Kennung:
A 8957

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