Schostakowitsch: New Babylon

Geschrieben von:
Michael Boldhaus
Veröffentlicht am:
6. April 2007
Abgelegt unter:
CD

Das neue Babylon (rekonstruierte Fassung)

Rund 40 Filme hat Dmitri Schostakowitsch vertont; eine Tatsache, die einem breiteren Publikum von Klassikhörern kaum geläufig ist — siehe dazu auch „Zwischen staatlicher Gängelung und praktizierter Kunst: Der (Film-)Komponist Dmitri Schostakowitsch“. In der derzeit immer noch eher begrenzten Schostakowitsch-Rezeption spielen nämlich nahezu ausschließlich die berühmten Werke, Teile des Zyklus der 15 Sinfonien und einige der 15 Streichquartette sowie die Oper „Lady Macbeth von Mzensk“ eine nennenswerte Rolle.

Auf der Homepage des Dirigenten Frank Strobel findet sich in der Rubrik „Projekte“ ein ausführlicher Artikel, der die Hintergründe für die Rekonstruktion und Neueinspielung des filmmusikalischen Debuts des Dmitri Schostakowitsch zum Stummfilm Das neue Babylon (1929) eingehend erläutert. Vom Film Grigori Kosinzews und Leonid Traubergs existieren im Wesentlichen drei unterschiedliche Schnittfassungen: eine Urfassung (125 Minuten), die offizielle Gosfilmfond-Fassung (93 Minuten) sowie die europäische Exportversion (84 Minuten). Trauberg hat sich bereits in den 1970ern in einem offenen Brief ausdrücklich gegen eine Aufführung der Urfassung ausgesprochen, die seither (leider) nur zu Dokumentationszwecken dient. Entsprechend beruht diese neu auf Tonträger vorgelegte Einspielung der Schostakowitsch-Musik zu Das neue Babylon auf der für die offizielle Gosfilmfond-Fassung bildsynchron eingerichteten Musikfassung. Diese ist anhand neu edierten und sorgfältig korrigierten Notenmaterials erstellt worden. In integraler Version sind Film und Musik übrigens erstmalig am 27. Oktober 2006 auf arte gezeigt worden. Infos zur Filmmusik finden sich hier.

Im Vergleich mit der 1989 vom Dirigenten James Judd mit dem Radio-Sinfonieorchester Berlin 1990 für Capriccio eingespielten Ausgabe ergeben sich bei der nun exakt auf die Filmbilder abgestimmten Musik im Detail in erster Linie deutliche Abweichungen in den Tempi. Insgesamt wirkt Frank Strobels Neueinspielung mit dem SWR Rundfunkorchester Kaiserslautern durch einen Schuss mehr an Biss und Schärfe partiell kontrastreicher. Dies ist wohl auch mit ein Verdienst der Hänssler-typisch auf sehr hohem, tadellosem Niveau befindlichen Klangtechnik.

Als Zugabe wartet das Doppel-CD-Album noch mit einer Rarität auf: der kompletten, von Levon Atowmjan eingerichteten Konzertsuite aus Ein Jahr wie ein Leben (1965). Von den rund fünfundvierzig Minuten Musik ist ein Großteil sicher eher gekonnt routinierte Filmuntermalung, denn ganz große Filmmusik, aber thematisch immer tadellos gearbeitet und geschickt instrumentiert. Neben dem Schostakowitsch-typischen kleinen Walzer (Track 7) bildet der rund viertelstündige, einfühlsam mit Musik unterlegte Monolog zur Abschiedsszene (Track 6) ruhigen Kontrast zu den ansonsten eher temperamentvollen bis stürmischen Musik-Teilen. Von Letztgenannten erinnert „Barrikaden“ (Track 2) übrigens an die Duellszene aus Hamlet (1964).

„The Film Music of Dmitri Shostakovich, Vol. 3“

Rechtzeitig zum Jubiläum des Komponisten ist nun auch das dritte, den Schostakowitsch-Zyklus der Reihe Chandos-Movies abschließende Album erschienen. Im Gegensatz zu den partiell nicht voll befriedigenden beiden Vorläufern, erscheinen das BBC Philharmonic Orchestra und der Dirigent Wassili Siniaski durchweg sehr gut disponiert und aufeinander eingespielt. Von interpretatorischer Seite gibt’s also nichts zu bemängeln. Das bekommt man direkt in der kraftvoll-dynamischen und von dramatischer Wucht erfüllten Suite aus Hamlet (1964) zu spüren. (Aus Platzgründen ist die Hamlet-Suite allerdings um das vierte Stück, die Szene im Garten, gekürzt worden.) Der einzige Einwand gegen Hamlet, dass es diese Musik schon mehrfach in guter Einspielung gibt, gilt letztlich auch für die Suite aus Fünf Tage und Fünf Nächte (1960). So verbleiben insgesamt knapp 18 Minuten mit bislang kaum zugänglicher Filmmusik. Dabei zeigt sich der Russe im Revolutionsepos Das unvergessliche Jahr 1919 (1951) einmal besonders ungewohnt, nämlich Rachmaninoff-nahe als er für eine groß angelegte Kampfszene eine Art sowjetisches „Warschauer-Konzert“ komponierte. Die junge Garde (1947) zeigt ihn einmal mehr als inspirierten Melodiker, der, besonders im Finale (ein als Hymnus dargebotenes Lied) die breiten Massen unmittelbar ansprechen konnte.

Buchveröffentlichungen:

„Chaos statt Musik“— Dmitri Schostakowitsch, die Prawda-Kampagne von 1936 bis 1938 und der sozialistische Realismus

War Dmitri Schostakowitsch einfach linientreuer sowjetischer Staatskomponist, war er ein zwischen Kompromiss und Konflikt changierender Künstler, in dessen Werken es durchaus Protest und Kritik durch Doppeldeutigkeit gibt? Oder war Schostakowitsch gar ein heimlicher Dissident?

Der Musikwissenschaftler Dr. Marco Frei ist in seiner Dissertation diesen Fragen — ausgehend vom berühmten und vielfach zitierten 1936er Prawda-Artikel „Chaos statt Musik“ — umfassend nachgegangen. Freis in überarbeiteter Buchform jetzt allgemein zugängliche Studie beeindruckt durch die Fülle des sorgfältig zusammengetragenen Materials. In der analytischen Betrachtung der ersten und berühmtesten Attacke gegen den Komponisten wird besonders deutlich, das diese nur Teil eines groß angelegten Schlages gegen die künstlerischen wie politischen Freiheiten war, gewissermaßen als eine Einleitung zu den berüchtigten stalinistischen Säuberungen aufgefasst werden kann. Die daraus resultierende immerhin zweijährige Hetz-Kampagne gegen Schostakowitsch wird in all ihren Etappen minutiös nachgezeichnet und eingehend durchleuchtet. Darüber hinaus spürt der Autor dem Doppeldeutigen im Werk des Komponisten umfassend nach und liefert dem Leser mit Hilfe der semantischen Analyse eine Vielfalt hochinteressanter Interpretationen an. Entscheidende Bezüge liefern ihm dafür die erstmals bereits Ende der 1970er veröffentlichten Schostakowitsch-Memoiren von Solomon Wolkow. So manches, was man schon zuvor über Dmitri Schostakowitsch und sein Werk gelesen hat, erscheint in Freis Buch zwar nicht in grundsätzlich neuem Licht, aber wesentlich detaillierter ausgeleuchtet und differenzierter betrachtet. Ebenfalls aufschlussreich ist die abschließende Betrachtung zur Rezeption des titelgebenden Prawda-Artikels in Ost und West. Dabei wird auch die unglückliche Rolle Adornos in der bis Ende der 1970er Jahre vorherrschenden Schostakowitsch-Sichtweise beleuchtet.

Wissenschaftliche Publikation: Das wird schnell mit schwierig zu lesen gleichgesetzt, eine Befürchtung, die sich des Öfteren durchaus als zutreffend erweist. Bei Marco Freis Buch handelt es sich erfreulicherweise nicht um allzu schwer geratene, in vielem sogar als packend zu bezeichnende Lese-Kost. Allerdings: Packend und erschütternd zugleich, da die Lektüre das Ausmaß des Terrors, das latent Lebensbedrohliche für das Individuum im Sowjetreich jener Jahre eindringlich werden lässt.

„Dmitri Schostakowitsch und die Fabrik des exzentrischen Schauspielers“

„Die Fabrik des exzentrischen Schauspielers (FEKS)“ war die Bezeichnung einer 1922 gegründeten Künstlervereinigung in der Sowjetunion. Wie der in der Tat ungewöhnlich exzentrische Name bereits andeutet, suchte man in der darstellenden Kunst revolutionäre Wege, um sich vom Bestehenden abzusetzen. Die FEKS war anfänglich eine Theatertruppe, die sich aber bald dem Spielfilm zuwandte. Im Gegensatz zur als charakteristisch angesehenen Ästhetik Sergej Eisensteins (Panzerkreuzer Potemkin), bestehend aus Elementen des deutschen Stummfilmexpressionismus und einer speziell entwickelten Montagetechnik, konstruierte die FEKS ihre eigenwillige avantgardistische Ästhetik aus populär-proletarischen Kunstformen wie Zirkus und Veaudeville-Theater. Dabei flossen auch Stilelemente von Varieté, Music-Hall und der Malerei ein.

Hélène Bernatchez’ Buch ist den, gegenüber dem sinfonischen Œuvre und der Kammermusik, deutlich weniger geläufigen Filmkompositionen des D. Schostakowitsch gewidmet. Die Autorin liefert dazu eine Zusammenfassung der russischen Filmgeschichte und beleuchtet eingehender die in der Sowjetunion verzögerte und besonders schwierige Umbruchsphase vom Stumm- zum Tonfilm.

Der Leser erhält hier z. B. interessante Einblicke in die Arbeit der Künstlerkollektive und welche auch traditionellen äußeren Einflüsse sich trotz des revolutionär formulierten Anspruchs, eines vollkommenen Bruchs mit der Tradition, in den Ergebnissen aufspüren lassen. Aber er erfährt beispielsweise auch einiges über die Theorie des Formalismus — eine im Zusammenhang mit der 1948er Kampagne gegen (nicht nur) Schostakowitsch geläufige Vokabel. Ebenso findet sich Entscheidendes über die Hintergründe der zum Skandal geratenen Uraufführung von Das neue Babylon. Für das gemeinhin mit dem Zitat „Der Dirigent ist betrunken“ beschriebene Debakel zeichnen aber letztlich entscheidend die seinerzeit noch unüberwindlichen technischen Unzulänglichkeiten bei der Kombination von Bild und Ton verantwortlich.

Im Zentrum des Buches stehen die in Zusammenarbeit mit der FEKS entstandenen unkonventionellen, auch aus heutiger Sicht modernen Vertonungen zu Das neue Babylon und Allein. Deren fast völlig vom Illustrativen abgewandter Aufbau wird sowohl musikalisch als auch bezüglich der Ton-Bild-Kombinationen eingehend analysiert. Dabei wird auch die wegweisende Integration von beispielsweise Formen populärer Tanzmusik in (nicht ausschließlich) die Filmkomposition behandelt — eine Arbeitsweise, für die Alfred Schnittke späterhin die Bezeichnung „Polystilistik“ prägte.

Den Abschluss bildet eine kleine Spurensuche, in „Nachklänge der FEKS-Ästhetik in den weiteren Tonfilmvertonungen von Schostakowitsch“ sowie ein wertvoller Anhang mit einer Reihe vollständiger, zentraler Texte, aus denen im Buch zitiert worden ist. Zu dem von Marco Frei bildet das vergleichbar flüssig lesbare Buch von Hélène Bernatchez Ergänzung und Pendant zugleich. Wer sich eingehender mit dem überaus unkonventionellen Filmvertonungsansatz des Dmitri Schostakowitsch vor der ersten entscheidenden Maßregelung im Jahr 1936 (!) beschäftigen möchte, für den wird das Bernatchez-Buch zur wohl unerlässlichen Pflichtlektüre und Fundgrube.

Dieser Artikel ist Teil unseres Spezialprogramms zu Ostern 2007.

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Erschienen:
2006
Gesamtspielzeit:
135:49 Minuten
Sampler:
hänssler Classic
Kennung:
CD 93.188
Zusatzinformationen:
SWR Rundfunkorchester Kaiserslautern, Frank Strobel

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