Kleine Klassikwanderung 33: Dmitri Schostakowitsch II

Geschrieben von:
Michael Boldhaus
Veröffentlicht am:
5. April 2007
Abgelegt unter:
Special

Kleine Klassikwanderung 33: Dmitri Schostakowitsch II

Zum Schostakowitsch-Jubiläum im Herbst 2006 hat Universal punktgenau neben zwei hochwillkommenen Neuproduktionen (siehe Klassikwanderung 31) kräftig aus dem Archiv zu Tage gefördert. Fünf CD-Boxen zum Sonderpreis, inhaltlich gebündelt, mit insgesamt 35 CDs bieten in solider Aufmachung eine in jeder Hinsicht beachtliche Hommage an den Jubilar. Zwar gibt’s die CDs nur in schlichten Papiertaschen, aber das spart immerhin Platz, und das gut gemachte, informative Begleitheft in jeder Papp-Box ist lobenswert, ist keinesfalls ein flauer Kompromiss. Zwangsläufig muss man aber ein paar Einschränkungen hinnehmen. So sind in der Box „Songs & Lady Macbeth“ zwar erfreulicherweise sowohl sämtliche Liedtexte als auch das vollständige Opern-Libretto zu finden, allerdings neben dem russischen Original eben nicht in Deutsch, sondern nur in Englisch abgedruckt.

Für den Schostakowitsch-Einsteiger bilden die Sinfonien und Orchesterwerke fast zwangsläufig ein Muss. Haitinks nicht auftrumpfende, schlanke und betont analytisch-präzise Darstellungen der Sinfonien sind ein Klassiker des Repertoires. Begonnen am Ende der Analog-Ära, eingespielt in den Jahren 1977 bis 1984, bildete Haitinks Zyklus zugleich die erste (westliche) Konkurrenz zur bis dahin einzigen erhältlichen russischen Gesamteinspielung der Sinfonien auf Melodiya-Eurodisc. Dieser Klassiker des Repertoires, eingespielt mit dem London Philharmonic und dem Concertgebouw Orchestra Amsterdam, hat bis heute nichts von seiner Eindringlichkeit verloren. Ihm zur Seite gestellt sei an dieser Stelle der mit insgesamt 8 verschiedenen (über den Globus verteilten) Orchestern aufgenommene Zyklus unter der Leitung des derzeit besonders prominenten Schostakowitsch-Interpreten Mariss Jansons. Der 1943 im lettischen Riga Geborene ist seit Herbst 2003 als Nachfolger Lorin Maazels Chefdirigent beim Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks und seit September 2004 außerdem Chef des Amsterdamer Concertgebouw Orchesters.

Jansons zeigt Gefühltes auf. Er interpretiert die Werke nicht nur kraftvoll zupackend, er spielte die 7., Leningrader Sinfonie symbolisch besonders stimmig mit dem am Ort dieses Namens renommierten St. Petersburg Philharmonic Orchestra ein. Überzeugend sind dabei nicht nur die Wucht z. B. der Kulminationspunkte in der Siebten, oder auch das mit Biss und Schärfe in den Konturen markant ausmusizierte jugendlich-frische Gesellenstück, der meisterhafte sinfonische Erstling, auch Zugabestücke aus den so genannten „Jazz-Suiten“ oder der reizende Tahiti-Trot (nach „Tea for Two“) sind vorzüglich geraten. Wer Herrn Jansons bei den Probearbeiten beobachten möchte, erhält dazu im Anschluss an die 8. Sinfonie Gelegenheit. In der „Rehearsal Sequence“ kann man sich einen Eindruck von der Herangehensweise Jansons’ und auch von der entspannten Atmosphäre bei seiner Arbeit mit den Musikern des Pittsburgh Symphony Orchestra verschaffen. Über das Verhältnis des Interpreten zur Musik des Russen gibt ein Interview mit Erik Levi im Begleitheft weitere erhellende Auskünfte.

Die Universal-Box mit den „Orchesterwerken“ ist ein feines Kompendium nicht nur sämtlicher Solokonzerte. Die darüber hinaus untergebrachte Vielzahl von Auszügen aus Ballettmusiken, Filmmusiken und anderer, meist selten zu hörender Werke für Chor und Orchester, macht sie zur besonders reichhaltigen Fundgrube. So sind z. B. die dramatisch-wuchtige „Die Hinrichtung des Stepan Rasin“, das prächtige sinfonische Poem „Oktober“ sowie das feine Oratorium „Das Lied von den Wäldern“ vertreten. Letzteres ist ein Stück von unmittelbar eingängiger Wirkung, auf das die Attribute „schön“ und „hörenswert“ zutreffen, obwohl es 1950 mit dem Stalin-Preis ausgezeichnet worden ist. Überhaupt wird derjenige Einsteiger in dieser Box besonders häufig fündig, der es für’s Erste gerne weniger sperrig möchte. Dafür stehen ebenso nicht nur die beiden so unterhaltsamen „Jazz-Suiten“ (auch wenn sie nicht wirklich jazzig sind), die geradezu ohrwurmhafte Romanze aus der Kostüm-Abenteuerfilmmusik zu Die Hornisse oder die temperamentvolle „Festliche Ouvertüre“. Auch der Tahiti-Trot fehlt hier nicht und die charmant-spritzige Orchestersuite aus der Operette „Moskau Tscherjomuschki“ zählt zu den bislang (noch) relativen Raritäten.

Markantes aus dem Liedschaffen des großen russischen Komponisten bildet zusammen mit der Oper „Lady Macbeth von Mzensk“ eine weitere Universal-Schostakowitsch-CD-Box. Nicht nur in den Sinfonien, sondern ebenso in den Streichquartetten und vielleicht ganz besonders in den Liedern finden sich geheime, vielschichtige Botschaften, die aus der Musik herausgelesen/hineininterpretiert werden können. Hier kann man übrigens auch die in Klassikwanderung 31 vorgestellte Orchesterfassung der „Vier Gedichte des Hauptmanns Lebjadkin“ mit der originalen Fassung für Klavier vergleichen. Von den noch aus der Studienphase des jungen Komponisten stammenden, im lyrischen Tonfall auskomponierten, textlich eher grotesk und märchenhaft anmutenden „Zwei Fabeln nach Krylov“ spannt sich ein weiter Bogen bis zur „Suite nach Gedichten von Michelangelo Buonarroti für Bass und Klavier op. 145“. Dieser sowohl im Original für Klavier als auch in der Orchesterfassung des Komponisten präsentierte Liederzyklus auf Gedichte des berühmten Renaissance-Künstlers Michelangelo Buonarroti gilt nicht nur als Quasi-Testament des D. Schostakowitsch; der Komponist war geneigt, in dieser Version seine 16. Sinfonie zu sehen. Der äußerst sparsam gehaltene, introvertierte Ausdruck dieses Spätwerks steht in scharfem Kontrast zur leidenschaftlichen, sich von depressiver Melancholie zur erotischen Leidenschaft, ja bis zur Hysterie steigernden Schärfe in der Oper „Lady Macbeth von Mzensk“. Vergleichbar berühmt wie das Werk ist seine tragische Geschichte. Der im selben Atemzug assoziierte berüchtigte Prawda-Artikel „Chaos statt Musik“ gilt heutzutage als Synonym für staatliche Repression (nicht ausschließlich) in der Kunst schlechthin. Erst rund dreißig Jahre nach dem Bannspruch des Diktators kam die Oper erneut auf die russischen Spielpläne, als vom Komponisten (wenn auch mit versierter Hand!) entschärfte Neufassung, „Katerina Izmajlova“. Die aus dem Archiv der Deutschen Grammophon stammende energiegeladene Einspielung entstand in Zusammenarbeit mit der Pariser Oper unter der Leitung von Myung-Whun Chung. Dem stehen die von Künstlern internationalen Ranges, wie Vladimir Ashkenazy, Sergej Leiferkus, Elena Zaremba, Nathalie Stutzmann oder Larissa Diadkova, dargebotenen Lieder interpretatorisch in nichts nach.

Dem Kosmos der 15 Sinfonien stehen 15 Streichquartette von vergleichbarer Intensität und Ausdruckskraft gegenüber. Stücke, die zum Wertvollsten in der Kammermusik des 20. Jahrhunderts gezählt werden.

Das aus Nachwuchskünstlern im Jahr 2001 formierte Rasumowsky-Quartett fühlt sich seinem Namensgeber, dem berühmten russischen Musikmäzen, und ebenso der russischen Musik eng verbunden. Die zum Jubiläum vorgelegte Gesamteinspielung der fünfzehn Quartette verdient nicht allein wegen der besonderen Werktreue einige Beachtung. So wurde den Einspielungen ausschließlich der auf den Autographen beruhende Notentext der russischen Gesamtausgabe zugrunde gelegt. Da, wo zum Zeitpunkt der Einspielung das revidierte Notenmaterial noch nicht zur Verfügung stand, konnten dank der Unterstützung des Schostakowitsch-Sohnes Maxim bisher unerkannte Setzfehler korrigiert werden. Neben dem Zugrundelegen eines im Detail möglichst fehlerfreien Notentextes haben sich die Musiker entsprechend konsequent an die zügigen Tempovorgaben des Komponisten gehalten: Mit zum Teil gegenüber dem häufiger zu Hörenden überraschendem, ja gelegentlich sogar erfrischend andersartigem Effekt. Maxim Schostakowitsch, anerkannter Kenner und Sachwalter der Musik seines Vaters, zollte dem Projekt allerhöchstes Lob, und das verleiht zusätzlich Gewicht. Es gab für mich den Ausschlag, dieser Neueinspielung den Vorzug gegenüber der zweifellos ebenfalls hochwertigen Interpretation des Emerson-Quartetts aus den 1990ern von Universal-Decca zu geben.

Verschiedentlich ist in Texten zu den Schostakowitsch-Quartetten von „sinfonischen Dimensionen“ die Rede. Der russische Dirigent und Bratschist Rudolf Barshai hat dem Rechnung getragen und — mit Zustimmung des Komponisten — die Quartette Nr. 3, Nr. 4, Nr. 8 und Nr. 10 zu so genannten Kammersinfonien eingerichtet. Diese sind übrigens in der oben vorgestellten Universal-Box mit den Orchesterwerken ebenfalls enthalten.

„The Unknown Shostakovich“

Das Chandos-Album stellt entsprechend seinem Titel weniger geläufige Facetten des Dmitri Schostakowitsch heraus: in erster Linie geht es hierbei jedoch nicht um Musik des Komponisten, vielmehr um den Arrangeur und (Neu-)Instrumentator von Werken Dritter. Im Zentrum stehen die Bearbeitungen des 1. Cellokonzerts seines Schülers Boris Ivanovich Tishchenko sowie des Cellokonzertes von Robert Schumann. Beide Bearbeitungen entstanden für den Cellisten M. Rostropowitsch. In beiden Fällen suchte der Komponist dabei (gegenüber dem Original) zu verbessern. Beim Tishchenko-Konzert beseitigte er die als zu übergewichtig empfundene Besetzung des Blechs. Bei Schumann folgte Schostakowitsch dem inzwischen eher abgelehnten (Vor-)Urteil, dass Schumanns Orchesterwerke unter Schwächen in der Instrumentierung leiden. Neben der zweifellos interessanten Begegnung mit der hierzulande kaum geläufigen Musik des Schülers, die hier gegenüber dem Original stärker klassizistisch angehaucht ist, wirkt das bekannte Schumann’sche Cellokonzert in der Neubearbeitung besonders ungewöhnlich. Schostakowitsch verstärkte nicht nur das Orchester, er fügte auch zwei Trompeten hinzu. Das Ergebnis ist wohl kaum Schumann-charakteristisch, aber in jedem Fall, auch dank der unleugbaren instrumentatorischen Raffinesse, ein hörenswertes Kuriosum. Darüber hinaus finden sich noch zwei Zugaben: zwei von Alfred Schnittke unaufdringlich instrumentierte frühe Klavier-Preludes sowie die für eine Aufführung in den 1920ern auf speziellen Wunsch des Regisseurs hinzukomponierte Ouvertüre zur heutzutage völlig in der Versenkung verschwundenen Oper Erwin Dressels, „Der arme Columbus“. Letztere ist im grellen Stil der frühen Ballettkompositionen Schostakowitschs gehalten. Valery Polyansky und das russische Staatssinfonieorchester sowie der Cellist Alexander Iwashkin ziehen sich, unterstützt von vorzüglicher Aufnahmetechnik, tadellos aus der Affäre.

Ballettmusik: „The Golden Age

Die drei zwischen 1925 und 1936 komponierten abendfüllenden Ballette „Das goldene Zeitalter“, „Der Bolzen“ und „Der helle Bach“ fristen immer noch ein Schattendasein. Der Ende der 1920er zunehmend stalinistisch und damit repressiver werdenden sowjetischen Kulturpolitik wurde „Das goldene Zeitalter“ bald ein Stein des Anstoßes und verschwand mittelfristig wieder von den Bühnen. Allein die für Promotionszwecke vom Komponisten eingerichtete fünfsätzige Suite — und daraus besonders die freche „Polka“ — blieb im internationalen Repertoire verankert. Nachdem Chandos bereits 1993 die Musik vom Königlichen Philharmonischen Orchester Stockholm unter Gennadi Roschdestwenski hatte einspielen lassen, hat Naxos nun eine Neueinspielung zum Drittel des Preises der Chandos-Edition auf den Markt gebracht. Das satirische und zugleich Agit-Prop-Szenario, eine ideologisch sattelfeste sowjetische Fußballertruppe probt den Zusammenstoß mit dem dekadenten Kapitalismus, vermag heutzutage unmittelbar kaum noch zu faszinieren. Wie originell und witzig-bissig der Komponist hier die klassenkämpferischen Gegensätze musikalisch darstellt, das ist es vielmehr, was die Musik frisch, vielleicht sogar zeitlos macht. Was Schostakowitsch hier mit jugendlichem Elan aufs Notenpapier gebracht hat, steht in Einfallsreichtum, Effekt und Modernität der experimentellen Oper „Die Nase“ und ebenso wenig der Stummfilmmusik zu Das neue Babylon in nichts nach.

Die Interpretation des renommierten schottischen Orchesters unter José Serebrier wird dem Werk allerdings nicht voll gerecht. Das Orchesterspiel ist zwar tadellos, aber im Vergleich mit Roschdestwenskis Einspielung klingt vieles doch etwas zu glatt — um nicht „zu schön“ zu schreiben. Das Schräge und Grelle in der den dekadenten Klassenfeind charakterisierenden Musik und damit eben der Biss so manchen Stückes tritt unter Serebriers Leitung einfach nicht derart markant hervor. Somit bleibt eine bedeutende Facette der Musik ein wenig unterbelichtet und mit ihr eben auch etwas vom Pfiff des Balletts auf der Strecke. Aber trotz dieser kleineren Einschränkung ist die sehr gut aufgenommene Naxosveröffentlichung ihr Geld mehr als wert. Möge der günstige Preis bei vielen Klassikfreunden die Hemmschwelle beim Kauf des Unbekannten ausreichend herabsetzen. Es lohnt sich unbedingt diese Musik kennenzulernen! Ach ja, eine charmante Begegnung gibt’s dabei in jedem Fall: mit dem Tahiti-Trot, der auf ausdrücklichen Wunsch des Dirigenten der Uraufführung in leicht veränderter Instrumentierung eingefügt worden ist.

Fazit: Mittlerweile ist das Œuvre des Dmitri Schostakowitsch zu internationaler Anerkennung gelangt, haben die Pionierarbeit von Dirigenten wie Bernard Haitink und Leonard Bernstein ihm zum Durchbruch verholfen. Abseits der internationalen Zentren des Musiklebens wünschte man sich aber immer noch mehr und auch regelmäßigere sowie in der Auswahl breiter gestreute Aufführungen seiner Werke. Entsprechend ist sein Name im Bewusstsein breiterer Schichten von Musikhörern derzeit noch eher bedingt verankert. Hier besteht also weiterhin Nachholbedarf. Dabei sind Tonträger sowohl eine willkommene Hilfestellung als auch Ergänzung.

Die Musik des Dmitri Schostakowitsch wirkt zweifellos auch für sich allein, sie bedarf zum Verständnis nicht unbedingt zeitgeschichtlicher Assoziationen. Allerdings, gerade die vielschichtigen Interpretationsmöglichkeiten, die sich aus den dramatischen politischen Geschehnissen ergeben, welche die Entstehungsgeschichte der Werke begleiteten, dürften das Interesse am Œuvre des Russen gerade in unserer Zeit wachhalten und vielleicht beflügeln helfen.

Dieser Artikel ist Teil unseres Spezialprogramms zu Ostern 2007.

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