Neben Film Score Monthly (FSM) sind zwei weitere Firmen wesentlich an Ausgrabungen und Restaurationen wertvoller Original-Filmmusikeinspielungen des Golden Age beteiligt: Von nun an soll fortlaufend auf die von der Brigham Young University Film Music Archives Production (BYU) und Screen Archives Entertainment (SAE) produzierten CD-Alben aufmerksam gemacht werden. Wobei Screen Archives Entertainment – renommierter US-Händler im Segment Filmmusik – beide Produkte vertreibt. Ansehenswert und auch mit klanglichen Kostproben versehen ist die Seite der Chelsea Rialto Studios, welche die technische Seite betreuen. Von den zurückliegenden BYU-Produktionen ist auf Cinemusic.de bereits Hugo Friedhofers Broken Arrow vorgestellt worden.
Max Steiner: The RKO Years 1929-1936
Am 4.12.1929 trat der 41-jährige Max Steiner bei den RKO-Studios ein und sollte dort für sechs Jahre und 5 Monate wirken. In dieser Zeit begründete und entwickelte er (s)einen unverwechselbaren, ausdrucksstarken Stil der (Ton-)Filmvertonung, der anschließend in vielem Vorbild für mehr als nur eine Komponistengeneration Hollywoods wurde und in Teilen selbst heutzutage nicht völlig überholt ist. Das grundlegende Prinzip „Das Ohr muss hören was das Auge sieht“ verdeutlicht gut die durch die Musik häufig resultierende Bildverdopplung. Allerdings darf die darauf schon frühzeitig gemünzte spöttisch-geringschätzige Bezeichnung „Mickey-Mousing“ nicht zur eindimensionalen Beurteilung von Max Steiners Filmmusiken verführen. Für den zu Recht als „Vater der Tonfilmmusik“ bezeichneten Steiner war die übrigens keinesfalls simpel umgesetzte (!) akustische Spiegelung des im Bild Gezeigten nur ein Teil innerhalb eines musikdramaturgisch durchdachten Gesamtkonzeptes.
Seine guten Kompositionen sind bestimmt von ausgeprägter thematischer und oftmals auch motivischer Arbeit und einem ausgeprägten Sinn für Klangfarben. Eine starke melodische Inspiration im Verbund mit sehr gefühlvollem romantischem Ausdruck (inspiriert von Giacomo Puccini und Richard Strauss), dazu eine gehörige Portion Wiener Operetten- und Walzer-Charme kombiniert mit viel Gespür für Atmosphäre in der musikalischen Umsetzung bestimmen Steiners musikalischen Stil. Seine bevorzugt warm-lyrische und gefühlvolle Tonsprache schöpft aus der großen musikalischen Tradition von Oper und Konzert, kombiniert und verschmilzt überaus geschickt die benötigten Stilelemente. In keinem Fall hat er dabei jedoch einfach abgeschrieben, sondern sich durch existierende Vorbilder (ganz besonders Richard Wagner, aber auch die Impressionisten) inspirieren lassen und so aus bereits urbar gemachten Ländereien letztlich doch seinen eigenen Grund geschaffen und diesen anschließend kompetent weiter ausgestaltet. Ein besonderes Charakteristikum – insbesondere der reiferen Steiner-Vertonungen – ist das elegant ausgeführte Scoring von ausgedehnten Dialogpassagen, wo die Musik geschmeidig der jeweiligen Stimmung Ausdruck verleiht.
Steiner vertonte aber eben nicht einfach jede Szene einzeln, sondern behielt dabei immer klar das Ganze im Auge. Seine Kompositionen zeichnen sich nicht allein durch Konzept, sondern auch durch Ökonomie aus. Der Komponist hielt beim Filmvertonen einen nicht zu komplexen Stil für angebracht, um den Zuschauer – der den betreffenden Film meist nur einmal sieht – nicht zu überfordern. Er schrieb dazu sinngemäß einmal: „Verlässt der Kinogänger das Kino im Bewusstsein, eine gute Musik gehört zu haben, die musikalische Begleitung der Bilder also als zufriedenstellend (und damit funktional) empfunden hat, dann war der Komponist erfolgreich.“
Als bis heute unverzichtbar erwies sich das von Steiner (und Roy Webb) von den Cartoon-Komponisten Carl Stalling und Scott Bradley übernommene und für Spielfilme verfeinerte Arbeiten mit „click-tracks“. Dies machte die exakte Synchronisation von Bild und Musik auf Bruchteile einer Sekunde genau überhaupt erstmals möglich und zeigt im Vergleich zum Stummfilm, wie deutlich exakter (!) beim Tonfilm Musik und Bild aufeinander abgestimmt sein müssen.
Insbesondere den Filmen der 30er bis 50er wird oftmals pauschal unterstellt (und angelastet), sie seien ähnlich wie bei Gone with the Wind nahezu flächendeckend mit Musik unterlegt; und gleichbedeutend: Für die Komponisten des Golden Age sei derartiges „Wall-to-Wall-Scoring“ angestrebtes Ziel und damit Teil der Ästhetik gewesen. Eine Aussage, die mehr Klischee denn Realität beinhaltet – siehe hierzu auch Roy Webb: The Cat People.
Nur etwa ein Dutzend der für RKO vertonten Filme enthält eine breiter angelegte musikalische Untermalung. Aber selbst die zu Cimarron (1931) – der allein Musik für Vor- und Abspann enthält – wurde seinerzeit vom Kolumnenschreiber der Hollywood Daily Screen World bereits für erwähnenswert befunden. Und neben dem Main Title aus Cimarron bietet das vorliegende Tripel-CD-Set dem Interessierten längere Suiten aus neun weiteren RKO-Filmen, die zwischen 1932 und 1935 entstanden sind: aus Symphony of Six Million, Bird of Paradise, Sweepings, Morning Glory, Of Human Bondage, Little Women, The Little Minister, The Lost Patrol und The Informer.
Zum romantischen Südseeabenteuer Bird of Paradise (1932) vermerkte der Reporter des Hollywood Herald anerkennend, dass Steiner nicht einmal das bekannte „Aloha“ verwendet habe. Der „Native Dance“ lässt Vergleichbares in King Kong (1933) vorausahnen, und das im letztgenannten Film den Seeleuten zugeordnete Thema „The Sailors“ ist hier bereits in verknappter Form enthalten.
Steiners später vielfach gerühmte Neigung zu vom Wiener Charme erfüllten, oftmals grandiosen Walzerthemen demonstrieren Morning Glory (1933) und Of Human Bondage (1933), wobei insbesondere der zu Morning Glory bereits den delikaten großen Ballwalzer zu Jezebel (1938) erahnen lässt. Im Main Title von Little Women (1933) findet sich bereits das faszinierende Einbinden und raffinierte – montagehafte – Verknüpfen von zum Teil mit dem US-Bürgerkrieg assoziierten Marschthemen und sonstigen Traditionals, wie das Weihnachtslied „Stille Nacht“. Zwei Beispiele für Vergleichbares in Filmpartituren späterer Jahre sind Gone with the Wind (1939) und They Died with Their Boots On (1942). The Little Minister (1934) demonstriert den Sinn des Maestros für das (hier) die richtige Atmosphäre verleihende (schottische) Lied- und Klangkolorit. Der reizende Score präsentiert eine Reihe von Leitmotiven, die reichhaltig verarbeitet werden und gelegentlich auch kontrapunktisch erklingen. Eine besonders lyrisch-warme und idyllisch gehaltene Kostümfilm-Musik; eine Perle von ausgeprägtem Hörcharme und zugleich klingendes frühes Zeugnis für ein Qualitätsmerkmal von Max Steiners Filmmusik: breit strömende, klangvoll-sinnliche Melodien.
Den Höhepunkt bieten die hochdramatischen Musiken zu zwei John-Ford-Filmen (auf der dritten CD). Die Tragödie eines in der arabischen Wüste von unsichtbaren Feinden (fast) völlig aufgeriebenen britischen Platoons ist in The Lost Patrol • Die verlorene Patrouille (1934) in mitreißende Töne gefasst. Obwohl der Komponist diese Arbeit in extrem kurzer Zeit erledigen musste, ist dies der Musik nicht anzumerken. Die quasi-arabisch anmutende Eröffnung des Main Title dürfte manchem bekannt vorkommen. Zu Recht! Steiner hat das Thema nämlich im Main Title des berühmten Casablanca (1943) recycelt. Die Komposition zu The Lost Patrol ist übrigens die erste dramatische Film-Musik, die von der Academy of Motion Picture Arts and Sciences (AMPAS) nominiert worden ist.
Mindestens vergleichbar beachtlich geriet die Vertonung von The Informer • Der Verräter (1935), der im Jahr 1922 angesiedelten Story um Freiheitskampf, Verrat und Sühne im von den Briten besetzten Dublin. In der Musik zum besonders düsteren, expressionistisch gehaltenen Filmdrama gibt es – noch ausgeprägter als in The Lost Patrol – neben dem (bereits aus den zuvor entstandenen Arbeiten) Gewohnten (s. o.) deutlich psychologisierende Untertöne: nämlich in der Art und Weise, wie das schroffe Marsch-Thema für den Verräter mit dem Thema weiterer Figuren der Handlung musikalisch in Wechselwirkung tritt. Für seine Leistung erhielt Max Steiner wohlverdient seinen ersten Academy Award.
Anhand ihrer mehr als 210 Minuten Musik lädt die vorzügliche Box dazu ein, an der Wiege der (Ton-)Filmmusik Platz zu nehmen und eindrucksvoll nachzuempfinden, wodurch der legendäre Steiner-Touch begründet ist. Wer dabei auf den Geschmack gekommen ist, sollte außerdem die das Bild interessant ergänzenden und abrundenden Marco-Polo-Neueinspielungen der (vollständigen) Scores zu The Most Dangerous Game (1932) und King Kong (1933) hinzuziehen.
Um das bereits während der RKO-Jahre von Steiner Geleistete akustisch nachzuvollziehen, müssen moderne HiFi-verwöhnte Ohren allerdings schon etwas abstrahieren lernen. Ganz klar: Was die drei Silberlinge akustisch „bringen“, kann – dank guten Zustands der verschiedenen Ausgangsquellen, im Zusammenwirken mit einer sorgfältigen technischen Nachbearbeitung – nur als absolut erstklassig bezeichnet werden! Eine erstaunlich frisch klingende und damit auch in der Praxis sehr gut nutzbare und somit überaus wertvolle CD-Edition. Unterm Strich eben deutlich mehr als eine primär aus historischen Gründen für eingefleischte Steinerianer oder gar Wissenschaftler Bedeutung habende Kollektion.
Diese Feststellung beinhaltet aber natürlich auch, dass die Tonmaster zu einer Zeit entstanden sind, als die Erfindung der elektrischen Signalverstärkung erst wenige Jahre jung war und man vom Frequenzumfang und der Dynamik der Magnetton-Ära, geschweige denn der moderner Digitalaufnahmen wohl kaum zu träumen gewagt hat. Hinzu kommt natürlich noch, dass das Material bereits rund 70 Lenze auf dem Buckel hat, an diesem damit zwangsläufig auch der „Zahn der Zeit“ genagt hat.
Die bekannten Steiner-Scores der späten 30er und 40er Jahre klingen zwar unmittelbar deutlich satter, glanzvoller und eleganter, aber nicht etwa, weil sie einfach generell besser komponiert sind. Nein! Dafür ist, neben den bei Warner erheblich besseren aufnahmetechnischen Möglichkeiten, das zur Verfügung stehende bedeutend größere Orchester mitverantwortlich. (Die Musik zu The Little Minister wurde beispielsweise mit nur 20 Musikern realisiert!) überhaupt treten sämtliche entscheidenden Merkmale des Steinerschen Kompositions- und Klangkonzepts praktisch sofort zu Tage, sobald der Musik genügend Entfaltungsmöglichkeit gegeben worden ist. Dem ja nicht mehr als jugendlich zu bezeichnenden „Newcomer“ ist dabei zweifellos seine langjährige Theatererfahrung am Broadway zugute gekommen. Ebenso bedeutend war aber auch sein durchaus als genial zu bezeichnendes Gespür für das – im vom Stummfilm grundverschiedenen neuen Medium Tonfilm – Benötigte.
Dass das 3er-CD-Album außerdem Musikteile hörbar macht, die in den zugehörigen Filmen nur unvollständig enthalten oder gar nicht verwendet worden sind, erhöht den Reiz. Die Krönung ist allerdings das der Box beiliegende, fast 70 Seiten (!) umfassende Begleitheft, das neben detaillierten Informationen mit umfangreichem Bildmaterial aufwartet. Der Leser bekommt hier nicht allein eine herrliche Kollektion früher Movieposter geboten, er erhält anhand der bei den Recording-Sessions gemachten Fotos auch einen Eindruck vom recht kleinen und schnuckelig anzuschauenden Klangkörper RKO-Orchester.
Die sehr hohe Bewertung steht in erster Linie für den hohen editorischen Wert des Albums; die vertretenen frühen Musikbeispiele rangieren (abgesehen von The Lost Patrol und The Informer: jeweils 4 ½ Sterne) kompositorisch zwischen 3 und 4 Sternen.