Kleine Klassikwanderung 1

Geschrieben von:
Michael Boldhaus
Veröffentlicht am:
15. Oktober 2000
Abgelegt unter:
Special

Meine erste Telarc-Review beschäftigte sich schwerpunktmäßig mit filmmusikalischen Kompilations-CDs. Dies soll nun der Auftakt zu einer Reihe von einigen weiteren Artikeln sein, die den Schwerpunkt anders setzen. Aus dem vielfältigen Repertoire des audiophilen Telarc-Labels werden ab jetzt verstärkt ausgewählte Teile der sinfonischen Musik internationaler Komponisten vorgestellt, die auch für den aufgeschlossenen Filmmusikfreund interessant ist. Der landläufig verwendete Begriff „Klassik“ passt hier weniger gut – er gilt nämlich streng genommen nur für die Komponisten der so genannten ersten Wiener Schule (Beethoven, Haydn und Mozart). Der Käufer muss für Telarc-CDs ein Stück mehr Geld auf den Tisch legen, als bei den preiswerten Serien anderer Anbieter. Die Aufnahmen sind spiel- und aufnahmetechnisch generell auf sehr gutem bis hervorragendem Niveau, die Tonqualität der CDs ist ebenfalls immer sehr gut und erreicht des öfteren sogar Referenzqualität.

Die musikalische Wanderung eröffnet auch dieses Mal wieder Erich Kunzel mit einem „Salute to the great Movie-Scores from the Films of Steven Spielberg“. Der Sampler ist mit knapp 79 Minuten Spielzeit fast bis zur Kapazitätsgrenze bestückt und bietet ein gelungenes filmharmonisches Konzert mit Arrangements der Film-Hauptthemen von John Williams, Jerry Goldsmith und Quincy Jones. Neben Poltergeist und Twilight Zone: The Movie von Goldsmith sowie dem Finale aus The Color Purple von Quinci Jones hat Spielbergs Hauskomponist John Williams das Wort: Von Sugarland Express geht es weiter mit Jaws, Close Encounters, 1941, Raiders of the Lost Ark, E.T., Always, Hook, Indiana Jones and the Temple of Doom, Indiana Jones and the last Crusade, Empire of the Sun, Jurassic Park, Lost World und Schindler’s List bis zu Amistad und Saving Private Ryan.

Neben der kitschigen Chorversion des „Carol-Ann-Themas“ (schon auf dem Album „The Fantastic Journey“ vertreten) wird dem Hörer eine gelungene Kollektion der überwiegend sehr bekannten Stücke in gewohnt guter Interpretation geboten. Der Reiz liegt nicht zuletzt in der gelungenen Zusammenstellung: Der Hörer erlebt eine abwechslungsreiche Begegnung mit Musik-Auszügen, die dazu überaus gut ins Ohr gehen. Dass auf zusätzliche Sound-Effects verzichtet wurde, ist ein weiterer Pluspunkt.

Aaron Copland

Aaron Copland (1900-1990) und Samuel Barber (1910-1981) gehören zu den bekanntesten nordamerikanischen Konzertsaal-Komponisten. Speziell Copland dürfte auch international der bekannteste und am häufigsten gespielte Komponist Nordamerikas sein. Coplands Musik ist ein raffinierter Mix verschiedener Stil-Elemente, wobei die amerikanische Folklore eine wichtige Rolle spielt. Vereinzelt nutzt er auch Jazzelemente und betreibt gekonnt Tonmalerei. Immer ist seine Musik wirkungsvoll, in der Regel optimistisch, zumeist leicht fasslich, dabei glänzend instrumentiert und wird in der Regel als typisch amerikanisch empfunden. Die randvoll bestückte Telarc-CD trägt daher den Titel „The Music of America“. Auf der CD sind äußerst zugkräftige und besonders eingängige Stücke versammelt: die dynamisch-packende „Fanfare for the Common Man“ (für Blechbläser und Schlagwerk), die drei Ballettsuiten „Billy the Kid“, „Rodeo“ und „Appalachian Spring“. Dem Filmmusikfreund begegnet besonders in den Ballettmusiken der Stil, der für Komponisten wie Elmer Bernstein, Jerry Goldsmith, John Williams aber auch William Ross (in My Dog Skip klares Vorbild für „Americana“ in Film-Scores gewesen ist. Einen reizvollen Kontrast bietet „The Quiet City“, ein kleines nicht auftrumpfendes, sehr ruhiges Musik-Stück für Englisch-Horn, Trompete und Streicher.

Samuel Barber

Samuel Barber ist besonders durch das Engagement des berühmten Dirigenten Toscanini für sein „Adagio für Streicher“ – in der 1938er Konzertsaison von diesem auch uraufgeführt – weltweit bekannt geworden. Dieses tief gefühlvolle, und stark melancholische Stück (ein Arrangement des langsamen Satz des Streichquartetts in H-moll) verfügt über den großen Reiz eingängiger Melodie und ist mehr als einmal in Filmen verwendet worden, z.B. in Oliver Stones Vietnam-Film Platoon (1981). Das sehr gefühlvolle, tief romantische, elegische Musikstück wurde vom finnischen Komponisten Jean Sibelius gelobt und als es Leopold Stokowski (siehe auch das Stokowski-Spezial) 1945 in Kiew gab, weigerte sich das Publikum zu gehen, bevor die eindringliche Musik ein zweites Mal erklungen war.

Leider sind die übrigen Werke Samuel Barbers speziell bei uns kaum bekannt. Die beiden Telarc-CDs ermöglichen eine eingehendere Begegnung mit sinfonischen Werken dieses vernachlässigten Meisters. Barber scheute sich nicht, eingängige Melodie zu verwenden, seine Werke sind zwar erhaben-kunstvoll, dabei aber eher von edler Einfachheit, als abstrakt und kompliziert. In einem Umfeld, das zeitgemäße progressive Musik eher im Bereich der Atonalität und Zwölftontechnik suchte, war der Komponist ein Konservativer, ja sogar ein Reaktionär, allerdings in bestem Sinne. Die mitunter geradezu fanatisch vertretenen Dogmen der Verfechter der Neuen Musik sind heutzutage verblasst (siehe hierzu auch E. W. Korngold Vokalkompositionen und Phillip Sainton: Moby Dick und Orchesterwerke). Der „musikalische Fortschritt“ ist jetzt nicht mehr so absolut und starr definiert, dem Komponisten wird größere Freiheit in den gewählten Mitteln zugestanden. Somit sollte auch Barbers schöne und zweifellos auch tiefe Musik bei uns eine Chance bekommen.

Auf der ersten CD begegnet uns der Komponist mit dem schon genannten ausdrucksstarken „Adagio für Streicher“, das einen idealen Einstieg bietet. Daneben geben die orchestral funkelnde, humorvolle Konzert-Overtüre „The School for Scandal“, die beiden kunstvollen „Essays für Orchester“ neben dem kraftvollen Tongedicht „Medeas Vergeltungstanz“ (aus dem Ballet „Das Schlangenherz“) einen Einblick in die konzertante Musik des Komponisten. Einen reizvollen Kontrast und kleinen Einblick in die vokalen Schöpfungen bietet „Knoxville 1915“. Hier handelt es sich um ein von bittersüßer Nostalgie geprägtes Stück für kleines Orchester und Sopransolo, das der Komponist der Erinnerung an seine Kindheit gewidmet hat.

Die zweite CD präsentiert im Mittelteil die „Souvenirs“, eine farbige Orchesterfassung einer Suite von vierhändig zu spielenden Klavierstücken. Die Musik wurde auch als moderne Ballettmusik verwendet. Die Komposition, geprägt von populären tänzerischen Musikformen aus der Zeit vor dem ersten Weltkrieg (neben Walzer z.B. Two-Step und Tango), ist originell und vielseitig und dabei sehr farbig gestaltet. Eingerahmt wird diese Tonschöpfung von den beiden Solokonzerten Barbers, dem „Violinkonzert“ aus dem Jahre 1941 und dem „Klavierkonzert“ von 1960. Besonders das „Violinkonzert“ ist ein geradezu hinreißender Ohrwurm und in fast schon idealem Sinne schön zu nennen – unverständlich, dass dieses herrliche Werk hierzulande bislang nahezu unbekannt geblieben ist. Das ebenfalls romantische Klavierkonzert ist zwar nicht gerade sperrig, aber es braucht doch ein paar Hör-Anläufe, um seine zweifellos vorhandenen Schönheiten zu offenbaren.

Die vorgestellten Werke werden auf den beiden CDs kompetent interpretiert vom vorzüglichen Atlanta Symphony Orchestra unter dem Dirigenten Yoel Levi, den Solisten Robert McDuffie (Violine), John Kimura (Klavier) sowie Sylvia McNair (Sopran) und sind auch aufnahmetechnisch tadellos.

Ottorino Respighi

Den Abschluss dieses Specials bilden vier CDs mit Orchesterwerken des Italieners Ottorino Respighi (1879-1936). Die Musik dieses brillanten Komponisten und Meisters der Orchestrierung ist in vielem Vorbild für die große (nicht ausschließlich) Hollywood-Kino-Sinfonik geworden. Wobei hier insbesondere die so genannte „Römische Trilogie“ genannt werden muss, ein Zyklus von drei großorchestralen mehrsätzigen Tondichtungen, „Römische Pinien“, „Römische Brunnen“ und „Römische Feste“. Diese orchestertechnisch brillanten und auch wuchtigen sinfonischen Stücke sind äußerst stimmungsvoll und wirken über weite Strecken geradezu bildhaft. So ist z.B. das letzte Stück der „Römischen Pinien“ ein eindeutiges Vorbild für (nicht nur) Miklos Rozsas „Römische Märsche“, wobei die archaisierenden Fanfaren in der Eröffnung von „Römische Feste“ vom selben Komponisten sicher ebenfalls nicht überhört worden sind. Dies ist aber nicht alles: Auch in den ruhigen lyrischen Passagen zeigt Respighi sein Talent für schimmernde Klangfarben und herrliche Melodik. Insgesamt ist die „Römische Trilogie“ ein in schwelgerischem Klang gehaltenes Kaleidoskop von äußerst raffiniertet gestalteten Stimmungs- und Tonmalereien, die in vielem geradezu Vorbildfunktion für die Standards der Tonfilmmusik hatten. Ein Auszug der „Römischen Pinien“ wurde übrigens auch zur Illustration von Disneys Fantasia 2000 eingesetzt. Diese Musikstücke bereiten dem Hörer – aufgrund der aufgebotenen gewaltigen orchestralen Mittel und den ausgeprägten impressionistischen Klang-Einflüssen – ein besonders leuchtkräftig-sinnfälliges, kontrastreiches, zugleich aber auch wuchtiges Klang-Erlebnis. Wer den Klangbombast eines John Williams, James Horner aber auch Hans Zimmer liebt, sollte hier unbedingt ein Ohr riskieren.

Nicht so bombastisch und daher nicht ganz so durchschlagskräftig wie die „Römische Trilogie“, aber trotzdem sehr hörenswert, sind die von den Kirchentonarten und der Gregorianik geprägte Komposition „Kirchenfenster“ sowie die folkloristisch inspirierten „Brasilianischen Impressionen“.

Respighi war ein großer Verehrer der alten Meister des italienischen Barock und der Renaissance. Zum Teil gestaltete er deren alte Melodien neu und fasste auch Eigenes in ein irisierend-archaisches, aber trotzdem modernes Klanggewand. Die klanglich intimeren, aber nichtsdestoweniger faszinierenden Werke „Boticelli Tryptichon“, „Die Vögel“, die drei Suiten „Antike Tänze und Arien“ legen hierfür sinnfällig Zeugnis ab. Besonders „Die Vögel“ sind ein unmittelbar zugängliches, sehr eingängiges und von reizvollen Vogelstimmen-Imitationen der Holzbläser geprägtes Stück – mit einem Wort „charmant“.

Bei der Ballettmusik „Der Zauberladen (La Boutique Fantastique)“ handelt es sich um Orchesteradaptationen von kleinen, kurzen Klavier-Werken des berühmten italienischen Opernkomponisten Gioacchino Rossini (1792-1868). Die Musik dieses zu unerschöpflich sprudelnden melodischen Einfällen fähigen Komponisten, gehört zum Standard-Repertoire eines jeden Opernhauses. Die für das Ballet verwandten Originale sind humorvoll, dazu auch von satirischer Natur und immer von herrlichen melodischen Einfällen geprägt. Ottorino Respighi, ein Meister der brillanten Orchestrierung, hat dieser schönen, vor Einfällen überschäumenden Musik ein herrlich-funkelndes Klanggewand verpasst und sie damit unsterblich gemacht. „Der Zauberladen“ zählt denn auch zu den Werken des Italieners, denen man in den Klassik-Radioprogrammen recht häufig begegnet.

Respighis Orchestertranskriptionen von fünf der insgesamt 17 „Études Tableaux“ für Klavier von Sergej Rachmaninow, sind dunkler und auch ein Stück komplizierter als „Der Zauberladen“, das heißt aber sicher nicht, dass sie sich nur schwierig erschließen lassen – eine selten gespielte, reizvolle Zugabe für den aufgeschlossenen Hörer.

Die vorgestellten Respighi-Kompositionen werden von ihren Interpreten, dem Atlanta Symphony Orchestra unter Louis Lane, dem Cincinnati Symphony Orchestra und dem Lausanne Chamber Orchestra, beide geleitet von Jesús López-Cobos, vorbildlich dargeboten. Dass der Klang ebenfalls perfekt ist, sei nur der Vollständigkeit halber angemerkt.

Fazit: Schwerpunkt des zweiten Telarc-Specials (und auch der noch geplanten) ist das besonders hörenswerte „klassische“ Musikrepertoire, also nicht Filmmusik. Das Special geht dabei aber nicht zuletzt auf Komponisten ein, die für die Kino-Sinfonik in besonderem Maße prägend gewesen sind.

Die musikalische Wanderung beginnt in schon gewohnt guter Qualität mit einem Kunzel-Filmmusik-Album, „Salute to the great Movie-Scores from the Films of Steven Spielberg“. Das seriöse Repertoire ist vertreten durch Aaron Copland (wegweisend für filmmusikalische „Americana-Klänge“), Samuel Barber, dessen eindringlich schönes „Adagio für Streicher“ verschiedentlich in Filmen eingesetzt und besonders bekannt sein dürfte und Ottorino Respighi, der speziell in seiner „Römischen Trilogie“ Vorbild nicht nur für Miklos Rozsas Historien-Epen gewesen ist.

Diese erste kleine Wanderung durch das große und vielfältige Œuvre der klassischen Musik ist wiederum nur der erste Beleg für die Antwort, die der große Bernard Herrmann einmal einem Journalisten auf die Frage gegeben hat, „Ob es für einen Filmkomponisten vorteilhaft sei, eine klassische Musikausbildung genossen zu haben“. Herrmann hat darauf nur trocken-ironisch geantwortet: „Yes, it helps!“

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