Direkt vorweg: Das Trio von „Tribute Film Classics“ Anna Bonn, John Morgan und William Stromberg hat dem Filmmusikmarkt ein weiteres superbes Bernard-Herrmann-Album beschert.
Zu den Filmen
The Kentuckian • Der Mann aus Kentucky (1955) spielt in den 1820er Jahren und ist damit ein Grenzgänger, aber gewiss kein genretypischer Film der Gattung Western. Burt Lancaster (1913-1994) lieferte hiermit seine erste und einzige Regiearbeit. Wohl nicht ohne Grund: Ist der Film doch etwas holprig und langatmig inszeniert und außerdem von eher klischeehaften Charakteren bevölkert. Die Geschichte rankt sich um den von Lancaster zugleich interpretierten, trapperähnlich wirkenden „Big Eli“, der sich aufgrund eines Nachbarschaftsstreits mit seinem Sohn, dem „Kleinen Eli“ (Donald McDonald), auf den Weg macht vom ihm offenbar schon damals als zu dicht bevölkert erscheinenden Kentucky nach Texas.
Als ehemaliger Zirkusartist brillierte Lancaster in jenen Jahren verschiedentlich als weitgehend stuntfester, beim Grinsen schneeweiße Zähne zeigender und die Muskeln spielen lassender Held mit mehr oder weniger stark ausgeprägten komödiantischen Untertönen: in The Flame and the Arrow • Der Rebell (1950, Musik: Max Steiner) und The Crimson Pirate • Der rote Korsar (1952, Musik: William Alwyn) sowie als schon sarkastisch auf den Italo-Western vorausweisender Antiheld in Vera Cruz (1956, Musik: Hugo Friedhofer).
In The Kentuckian ist vom Charme der zuvor genannten jedoch wenig zu bemerken. Die etwas einfältige Story sollte wohl in Teilen vergleichbar komisch und mit ähnlich skurrilen Typen bevölkert sein wie Hitchcocks The Trouble with Harry • Immer Ärger mit Harry (1955, Musik: Bernard Herrmann). Was dabei herauskam wirkt jedoch fade und ist obendrein versehen mit spätestens heutzutage nur noch antiquiert wirkenden Folklore-Einlagen. Die Gesangsnummer Lancasters ist zwar sicher nicht von High Noon inspiriert. Trotzdem wirkt sie recht aufgesetzt und die Auftritte von Donald McDonald als der „Kleine Eli“ sind eh etwas nervtötend.
Pluspunkte verbucht der Film hingegen bei der feinen CinemaScope-Farbfotografie von Ernest Laszlo und ebenso mit Bernard Herrmanns herrlicher Filmmusik. Alles was dem Regisseur im Bestreben nach Americana mehr schlecht als recht gelang, hat der Komponist seinen Klängen umso überzeugender verliehen.
Bei Williamsburg: The Story of a Patriot (1957) handelt es sich um ein Kuriosum. Es ist der bislang wohl am längsten gezeigte Dokumentarfilm (Regie: George Seaton) überhaupt. Der Streifen ist inzwischen seit mehr als einem halben Jahrhundert ausschließlich (!) im so genannten „Colonial Williamsburg Visitor Center“ zu sehen. Bei besagtem Center handelt es sich um ein so genanntes „Living History Museum“, den Teil der im Südosten des US-Bundesstaates Virginia gelegenen Stadt Williamsburg, der in den 20er und 30er Jahren des 20. Jahrhunderts im Stil des 18. Jahrhunderts restauriert worden ist. Als ehemalige Hauptstadt der königlich britischen Kolonie von Virginia und nach der Unabhängigkeitserklärung als Hauptstadt des neuen, unabhängigen „Commonwealth of Virginia“ handelt es sich für die Amerikaner natürlich um „Holy Ground“, stellvertretend für die Gründung der Vereinigten Staaten von Amerika. Letzteres ist denn auch das Thema des ca. 35-minütigen Dokumentarfilms mit Spielhandlung.
Entsprechend sind sowohl der Film als auch die bislang — bis auf einen Schnipsel (s. u.) — unveröffentlichte Musik hierzulande eher dem Herrmann-Interessierten und selbst diesem praktisch ausschließlich über den Titel geläufig. Selbst John Morgan vermerkt dazu im Begleitheft, vom Film erst durch die 2004er DVD-Veröffentlichung der restaurierten Fassung Kenntnis erlangt und auch erst dadurch eingehendere Kenntnisse der Musik erhalten zu haben.
Zu den Einspielungen:
In seinen Filmkompositionen hat Bernard Herrmann nie großartig geschwächelt. Mit insgesamt rund 50 (Spiel-)Filmpartituren ist sein Werkkatalog zwar relativ dünn, doch spricht das mindestens grundsolide, über rund dreiviertel des Œuvres eindeutig oberhalb des Durchschnitts anzusiedelnde, oftmals exzellente kompositorische Niveau, durchgehalten über rund 40 Jahre, eine eindeutige Sprache.
Die beiden hier eingespielten Musiken der 50er Jahre entstammen in jedem Fall Herrmanns besten Jahren in Hollywood. In beiden Fällen handelt es sich um nur knapp unter der Top-Liga anzusiedelnde Vertreter ihrer Gattung. Wiederum in beiden Fällen bescheidet sich der ansonsten für seine instrumentatorischen Extravaganzen berüchtigte Komponist mit einer in der Größe jeweils eher überschaubareren und auch konventionellen Orchesterbesetzung. In The Kentuckian ist das Orchester, abgesehen von der recht starken Hörner-Sektion (bis zu vier), vom schweren Blech sowie den Trompeten komplett befreit. Der Schwerpunkt der schlanken Instrumentierung liegt auf den Holzbläsern, den Streichern, der Harfe und dem kleinen Schlagwerk. Fast durchweg agiert die Musik in einem für Herrmann eher untypisch erscheinenden volksliedhaften Tonfall und erzeugt reichhaltig herrliche pastorale Stimmungen. Die Musik steht im innigen und durchweg sehr von Melodie geprägten Ausdruck der ebenfalls sehr lyrischen Vertonung zu The Ghost and Mrs. Muir (1947), in der hier betonten „Americana“ aber ganz besonders The Trouble with Harry (1956) nahe.
Dabei ist gerade der in The Kentuckian in der Breite anzutreffende, eher ruhige, von der heimischen Folklore beeinflusste Herrmann keineswegs langatmig. Auch hier verarbeitet der Komponist seine Themen äußerst geschickt. Wobei ausgeklügelte Variationstechnik und Instrumentierung dabei behilflich sind, auch stimmungsmäßig für Abwechslung und Vielfalt zu sorgen. Einen temperamentvollen Kontrast dazu bildet das an einen Tanz erinnernde Set-Piece für die Mississippi-Raddampfer-Sequenz („The Steamboat“).
The Kentuckian zählt damit zu den relativ wenigen Filmmusiken im Œuvre Herrmanns, in denen das sonst für den Tonsetzer als so typisch geltende weitgehend fehlt: die düster und bedrohlich wirkenden experimentellen Klangstrukturen (besonders des tiefen Blechs) und das Verwenden kurzer Motive im Verbund mit einer in der Grundtendenz minimalistischen Kompositionstechnik. Allein in ein paar Spannungsmomenten gegen Ende der Komposition, in der Konfrontation des Großen Eli mit seinen Widersachern, bestimmen die vorstehend genannten Ingredienzien kurzzeitig das musikalische Geschehen. Besonders markant ist dabei der auf Vertigo (1958) vorausweisende Habanera-Rhythmus.
Im den Score im Main Title einleitenden fanfarenartigen Hornruf spiegelt sich eine Anspielung auf die dem Filmdrehbuch zugrunde liegende Novelle von Alexander Holt, „The Gabriel Horn“. Der Große Eli bläst nämlich verschiedentlich sein kraftvoll klingendes Horn und bemerkt zum Kleinen Eli, dass der Erzengel Gabriel es sich dereinst leihen würde, um zum Jüngsten Gericht zu blasen.
Bereits 1976 hat Fred Steiner mit dem National Philharmonic Orchestra eine rund 20-minütige, die Höhepunkte der Musik exzellent zusammenfassende Suite überaus mitreißend interpretiert. Ein interessantes Detail ist hierbei, dass John Morgan als Kopist mitgearbeitet hat. Der Schwachpunkt dieser an sich ebenfalls vorzüglichen Einspielung ist das für eine Aufnahme jener Jahre erstaunlich verhangene und verwaschene Klangbild.
Die Neueinspielung von Tribute legt nun erstmalig die vollständige Musik vor. Und erneut ist das zu beobachten, was bereits bei den beiden früheren Herrmann-Alben festzustellen war: Die aus einer Vielzahl eher kurzer bis sehr kurzer Stücke — mit mitunter fast schon Partikelcharakter — bestehende Musik zu The Kentuckian bildet erstaunlicherweise ein äußert harmonisch ohne eklatant spürbare Brüche ineinander übergehendes Gesamtgebilde. Einzig den freilich keineswegs anachronistischen Soloauftritt des etwas verstimmt anmutenden „Saloon Piano(s)“ kann man als eher entbehrlich betrachten. Man kann diesen wegprogrammieren, aber man muss es ganz gewiss nicht. Immerhin stammt dieses für sich betrachtet zwar nicht großartige aber durchaus stimmig erscheine Klavierstück von Uncle Benny persönlich und bildet außerdem ein recht drolliges Interludium. Der hätte sich um derartige Source-Music-Einlagen ja gar nicht kümmern müssen, hätte solches einem Arrangeur überlassen oder gleich aus dem Archiv nehmen lassen können.
In Williamsburg: The Story of a Patriot agiert ein besonders schlank besetzter, in der Dimension etwa auf dem Level eines üppig besetzten Kammerorchesters einzustufender Klangkörper. Herrmann hat zum historischen Hintergrund der behandelten Ereignisse um die Gründung der Vereinigten Staaten in Teilen eine historisierende Musik geschaffen, welche die Stile zeitgenössischer britischer Komponisten dieser Ära wie Thomas Arne, William Boyce und natürlich Georg Friedrich Händel elegant reflektiert. Hier nimmt der Komponist vergleichbare Passagen in The Three Worlds of Gulliver (1960) vorweg. Die reizvoll ausgeführte Imitation der Musikstile von Meistern des Barock kontrastiert mit ebenso versiert ausgeführter Herrmann-Americana, in die auch zwei patriotische Songs eingearbeitet sind: „Chester“ und der berühmte „Yankee Doodle“; Letzterer in Form eines kunstvollen Scherzos in „Taxes“ und im jubilierenden Marschfinale „Homecoming“ mit feinem Kontrapunkt inklusive.
Williamsburg: The Story of a Patriot ist nicht nur eine absolute Rarität. Es ist ein Score, der nur in den bescheiden eingesetzten orchestralen Mitteln sowie der knappen Spieldauer von rund 23 Minuten ein eher „kleiner“ Herrmann ist. Die Musik bildet allerdings keineswegs einen inhomogenen Flickenteppich. Auch hier funktioniert alles sehr harmonisch miteinander. Es handelt sich also keinesfalls nur um eine nette Zugabe, sondern vielmehr um eine wertvolle Ausgrabung, die annähernd vergleichbaren Charme wie The Kentuckian besitzt. Auch qualitativ gibt’s dabei nichts Weltbewegendes festzustellen, das Anlass zu besonderer Differenzierung in der Bewertung gäbe.
1992 erschien auf John Lashers australischem Label Preamble mit „The Inquirer“ ein an sich wenig interessanter Herrmann-Sampler, da dieser bis auf die Williamsburg-Ouvertüre aus zuvor bereits anderweitig veröffentlichtem Material bestand. Besagte Einspielung der Ouvertüre, dirigiert von Tony Bremner, ist jedoch bei weitem nicht derart überzeugend wie das, was man von der aktuellen Tribute-CD zu hören bekommt. Bremner braucht 30 Sekunden mehr, sein Dirigat wirkt gegen Strombergs nicht nur etwas kraftlos, ihm fehlt es auch eindeutig an Biss — woran sich erneut zeigt, dass die Interpretation die Wirkung einer Musik auf den Hörer deutlich mit beeinflusst.
Zuvor, während und/oder auch danach bietet sich das nicht nur optisch edle Begleitheft zum Studium an. Über 32 Seiten weiß es dank kompetenter Autoren wie Herrmann-Biograf Steven C. Smith in mittlerweile schon gewohnt hoher Qualität viel Informatives zu bieten.
Auch akustisch gibt es ein weiteres Mal nichts Grundsätzliches anzukreiden, bis auf eine relative Kleinigkeit. An einigen Stellen (z. B. im „Main Title“ von The Kentuckian oder der „Barrel Organ Music I“ in Williamsburg: The Story of a Patriot) waren offenbar die Mikrofone ein Stück zu dicht bei den Oboen platziert. Entsprechend deutlich ist das Klappern der Ventile vernehmbar. Nun, überdramatisiert werden soll dieser kleine Lapsus zwar gewiss nicht, aber ein wenig schade ist es schon. Es bleibt etwas schleierhaft, wieso dem Toningenieur dieser Mangel nicht aufgefallen und korrigiert worden ist. Im Übrigen beeindruckt auch diese Moskauer Aufnahme durch virtuoses und sehr geschmeidiges Orchesterspiel, das vom Toningenieur Alexander Volkov als bestechend transparent aufgefächertes Klangbild eingefangen worden ist. So wird dem Hörer auch dieses Mal praktisch jedes exquisite Detail der Herrmann-Kompositionen offenbart. William Stromberg hat sich eng an die Filmtempi gehalten und liefert durchweg sehr sorgfältig akzentuierte, stimmige Interpretationen, die den Originalen gerecht werden und durchaus für Kinofeeling sorgen.
Die Moskauer Sinfoniker und das, verstärkt durch Strombergs Lebensgefährtin Anna Bonn, zwischenzeitlich zum „Tribute-Trio“ gemauserte Duo John Morgan & William Stromberg sind mittlerweile optimal aufeinander eingespielt. Von den in einigen der Aufnahmen der frühen (noch Marco-Polo/Naxos-)Jahre hin und wieder anzutreffenden, allerdings eher kleineren Unzulänglichkeiten beim Zusammenspiel sowie geringfügigen klanglichen Einschränkungen ist (spätestens seit The Sea Hawk/Deception) praktisch nichts mehr übrig geblieben.
Fazit: Das neue Tribute-Herrmann-Album vereint zwei weniger geläufige Perlen aus dem Œuvre des großen amerikanischen Filmkomponisten erstmalig in vollständiger Fassung. Neben dem von pastoralen Stimmungen dominierten The Kentuckian steht eine absolute Rarität, Williamsburg: The Story of a Patriot, auf dem Programm. Damit steht von der amerikanischen Volksmusik geprägte typische „Herrmann-Americana“ neben reizend gespiegeltem Barock. Daraus resultiert eine überaus smarte Paarung, werden doch zwei unmittelbar besonders leicht zugängliche Filmkompositionen Herrmanns spieltechnisch wie klanglich (nahezu) perfekt vereint. Insofern kann der CD neben den hohen musikalischen Qualitäten sowie dem hohen Repertoirewert vorbehaltlos das zusätzliche Prädikat „Einsteigertauglich“ verliehen werden.
Ergänzende Links:
Williamsburg: The Story of a Patriot
Über die Produktion und Hintergründe: www.redballoon.net/~snorwood/soap/index.shtml
Zur Restauration des Films: www.history.org/Foundation/general/patriot_restored.cfm
[center]Hier finden Sie einen Überblick über alle bei Cinemusic.de besprochenen CDs des Labels Tribute Film Classics.[/center]
Dieser Artikel ist Teil unseres Spezialprogramms zu Ostern 2009.
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