Sunset Boulevard

Geschrieben von:
Michael Boldhaus
Veröffentlicht am:
22. Februar 2003
Abgelegt unter:
CD

Score

(6/6)

Billy Wilders Film aus dem Jahre 1950 ist sowohl Porträt von Hollywoods Glitzer- und Glamour-Fassade als auch Abrechnung mit derselben. Es geht um den einstigen Stummfilmstar Norma Desmond (Gloria Swanson), eine lange Vergessene, die sowohl von vergangenem als auch neuem Ruhm träumt und in einer verwahrlosten Villa am berühmten Sunset Boulevard wohnt. Zur trügerischen Hoffnung wird der zufällig in ihr Leben tretende Joe Gillis (William Holden), ein verkrachter junger Drehbuchautor, der auf der Flucht vor seinen Gläubigern ist. Für den eher realistisch-nüchternen Joe Gillis wird die Begegnung mit der morbiden Welt der mit typischen Gesten und Mimik der Stummfilmära agierenden Norma Desmond zum goldenen Käfig und schließlich gar zur tödlichen Falle…

Ein herausragender, von reportagehaftem Realismus bestimmter Film, eine Art melancholisches und auch ironisches Plädoyer für die Vergessenen und Erfolglosen und zugleich Blick zurück auf eine unwiederbringlich vergangene Ära: die Stummfilmzeit. Auch Hollywood-Persönlichkeiten wie Cecil B. DeMille, Buster Keaton, Anna Nilson und (nicht zu vergessen) der berühmte Stummfilmproduzent und Schauspieler Max von Strohheim (als Normas Diener Max von Mayerling) spielen gewissermaßen sich selbst – was dem Film zusätzliche Glaubwürdigkeit und Atmosphäre verleiht.

Franz Waxmans Musik zeichnet sich durch ausgeprägte wagnerische Leitmotivik aus, ist zugleich stilistisch außerordentlich vielseitig. Wobei auch Ambivalenzen und Abgründe der Filmhandlung raffiniert gespiegelt werden. Insgesamt handelt es sich um ein fein nuanciertes, facettenreiches und auch hochdramatisch gestaltetes Fresko, das die exzentrisch-bizarre Aura von Norma Desmonds – expressionistisch (licht- und schattenreich) eingefangener – unwirklicher (Traum-)Welt in faszinierende Töne fasst.

Waxman gelingt es überzeugend, die morbide Atmosphäre auf den Hörer zu übertragen, indem er sehr unterschiedliche Stilmittel in mitunter abruptem Wechsel einsetzt. Da gibt es Jazziges, das ein wenig an George Gershwin, aber besonders an Kurt Weill und Ernst Krenek erinnert und auch den Tango beinhaltet – den für den wohl berühmtesten Stummfilmstar Rudolph Valentino so charakteristischen Tanz. Der „Main Title“ nimmt mit seinem tangohaft-jazzigen Flair die rückwärts gewandte Aura der Welt Norma Desmonds bereits vorweg. Weitere Anklänge an die Unterhaltungsmusik der 20er Jahre finden sich beispielsweise in „Parading to Paramount“. (Auch hier sind dem Komponisten zweifellos seine frühen Erfahrungen in Berlin als Pianist bei den „Weintraub Syncopaters“ – eine der populärsten Jazzgruppen jener Zeit – zugute gekommen.)

Klang werden lässt Waxman jedoch nicht allein das Angestaubte, sondern auch das Unheimliche: so im grotesken Trauermarsch zum Schimpansenbegräbnis in „The Strange Garden“ und auch in „Norma’s Gallery“, wo er Joes Erstaunen über Normas narzisstische Porträtgallerie gelungen in Töne fasst. Der sich mit Reliquien seines eigenen Mythos umgebende, alternde Stummfilmstar wird durch den Diener Max mit selbst geschriebener Fanpost versorgt. Etwas, das den zunehmenden Realitätsverlust Normas fördert. In „The Waxworks and the Bridge Game“ wird das unfreiwillig Komische, Unwirkliche und zugleich Statisch-Rituelle der allwöchentlichen Bridgepartien klanglich geschickt versinnbildlicht. Nicht nur in diesem Track wird durch eine gleichförmige, dem Ticken einer Uhr ähnliche Klangfolge monoton verrinnende Zeit symbolisiert. Eine elegante Demonstration von Waxmans wie Wilders Meisterschaft im Changieren zwischen Realität und Fiktion.

Und nicht nur unheimlich, sondern auch schon recht bedrohlich klingen „Norma’s Suspicions“ – hier kündigt sich bereits der ausbrechende Wahnsinn an. Joe will Norma verlassen: Diese sieht ihre Illusionen endgültig zerplatzen und flüchtet in den Wahnsinn; vergleichbar mit der Figur ihrer Traumrolle, der Salome, die ebenso in der gleichnamigen Oper von Richard Strauss dem Wahn verfällt. Die zum Teil gespenstischen Klangkombinationen in „Joe Walks out“ machen dies auch musikalisch nachvollziehbar. Wobei die erotische Schwüle der Salome-Oper auch von Waxmans Tonsprache reflektiert wird; neben einer gespenstischen Habanera sind auch die Strauss-Salome-typischen langgehaltenen Trillerfiguren zu hören. Hier zeichnet die Musik Normas endgültigen Realitätsverlust packend nach. Ebenso beeindruckend spürbar wird die fatale Konsequenz für Joe in „The Corpse“, wo makabre Flageolet-Töne der Violinen den Hörer frösteln lassen.

Interessanterweise sind die ebenfalls anzutreffenden lyrisch-romantischen Partien nicht Norma, sondern Joe zugeordnet. Das für Joe stehende forsche jazzige Thema ist zudem erheblich breiter angelegt als das knappe und eher strenge für Norma. Beide Themen werden auch in Form motivischer Bruchstücke einer kunstvoll-ausgefeilten Verarbeitung unterzogen, die das außerordentlich große und souveräne Können des Komponisten einmal mehr unter Beweis stellt. In der Liebesszene zwischen Joe und seiner neuen Bekanntschaft Betty Schaefer, in „A New Interest and the Studio Stroll“, gestaltet er Joes Thema nicht allein zu einem charmanten Walzer; Waxman verleiht dieser Szene einen besonders nostalgischen Touch, indem er auch das Thema der Paramount-Wochenschau „Eyes and Ears of the World“ verarbeitet.

Wie Bernard Herrmann setzt auch Franz Waxman (in nicht allein dieser Musik) nur gelegentlich den vollen sinfonischen Apparat ein, keinesfalls aber lässt er ein halbes hundert Musiker „drauflos spielen“ (siehe auch Sindbads siebte Reise). Er nutzt vielmehr fantasievoll und meisterhaft die Ausdrucksmöglichkeiten kleiner Besetzungen. Verknüpft überaus geschickt und zugleich flexibel mit Hilfe von Instrumental-Soli breiter auskomponierte, im Ausdruck oftmals stark kontrastierende Teile miteinander. Das Resultat ist nicht allein ein eindrucksvoller Kosmos der Stimmungen; es gelingt dem Komponisten ebenso, das sehr unterschiedliche Ausgangsmaterial zu einer abgerundeten, ausdruckstarken Partitur zu verschmelzen.

Im Swimmingpool liegt Joe, mit drei Kugeln aus Normas Revolver im Rücken; eintreffende Polizei und Pressefotografen hält die geistig völlig verwirrte Norma für Kameraleute, die ihren Wunschfilm drehen wollen. Als „Salome“ schreitet sie im Blitzlichtgewitter hoheitsvoll die Treppe herab und ihr makabres „Comeback“ wird auch musikalisch entsprechend umgesetzt. In einem von stummfilmhaftem Pathos geprägten ausladenden Finale erklingt nochmals ein – jetzt auf dem Norma-Desmond-Thema basierender – Tango. Der Ring schließt sich und dieser letzte Reflex auf Rudolph Valentino bringt Film und Musik zum grandiosen Abschluss.

Sowohl Franz Waxman als auch Regisseur Billy Wilder erhielten für Sunset Boulevard den begehrten Academy Award – für Waxman war es die erste Trophäe seiner Laufbahn.

Nicht allein die Tatsache einer rund 53 Jahre nach der Premiere jetzt erstmals (wohl annähernd vollständig) vorliegenden Einspielung verdient großes Lob; Joel McNeely und das RSNO bieten im Zusammenwirken mit einer optimalen Aufnahmetechnik eine der überzeugendsten Leistungen innerhalb des Varèse-RSNO-Zyklusses überhaupt. Eine außerordentlich wichtige Filmmusik des Golden Age in einer sehr transparenten und zugleich dynamisch-packenden Einspielung, auch spieltechnisch auf sehr hohem Niveau. Der informative Booklettext von Christopher Husted bietet neben guten Infos zum Hintergrund auch interessante analytische Anmerkungen zur Musik – da können selbst die gewohnt kitschigen Paintings eines Matthew Joseph Peak den Brei nicht mehr verderben. Neben dem äußerst positiven Gesamteindruck resultiert eher die Frage, wieso dieses filmmusikalische Meisterwerk mehr als fünf Dekaden warten musste, um in derartiger Form präsentiert zu werden.

Das berühmte Tüpfelchen auf das „i“ setzt ein gelungener editorischer Kunstgriff: Im angehängten 9-minütigen Bonustrack erklingt Waxmans Musik zur in den Previews mit Lachern quittierten – daher der Schere zum Opfer gefallenen – ursprünglichen Eröffnungsszene im Leichenschauhaus. Fließend eingefasst durch die ersten beiden Tracks der endgültigen Musikfassung („Main Title“ und „Paramount Studio“) kann man sich damit auf Wunsch auch die zur Urfassung des Films passende alternative Version der Filmmusik programmieren.

Doch Wilder wäre nicht Wilder, wenn er zur besagten Eröffnungsszene mit den sich „unterhaltenden Leichen“ nicht eine (wohl) vergleichbar trickreiche ironisch-bissige Alternative gefunden hätte: Im Swimmingpool von Norma Desmonds Villa schwimmt mit dem Gesicht nach unten die Leiche von Joe, die dank eines geschickten Spiegeltricks (nur scheinbar) ebenfalls von unten fotografiert zu sein scheint. Man sieht, wie sich vom Beckenrand Polizisten herüberbeugen, um das Corpus Delicti in Augenschein zu nehmen und aus dem Off beginnt die Stimme von Joe die Geschichte zu erzählen: Er habe sich immer einen Swimmingpool gewünscht und jetzt liege er in einem …

Die in den USA bereits erschiene DVD zu Sunset Boulevard wird mittelfristig auch hierzulande erhältlich sein. Diese vermittelt im Zusatzmaterial einen Eindruck von besagter ursprünglicher Eröffnungssequenz, im Rahmen einer – soweit machbar – „rekonstruierten Fassung“ aus noch existierendem Text- und Bild-Material.

Schon die älteren Suiteneinspielungen durch Charles Gerhardt (auf RCA) und Richard Mills (auf Varèse) und auch die handvoll regulär erschienener Waxman-Score-Veröffentlichungen früherer Tage zeigten das Bild eines großen Tonsetzers. Den außerordentlich hohen Rang Waxmans in der klassischen Hollywood-Filmmusik verdeutlichten anschließend die Gesamteinspielungen des Teams Morgan-Stromberg zu Mr. Skeffington, Objective Burma und ebenso Varèses RebeccaThe Virgin Queen sowie FSMs Demetrius and the Gladiators. Die jetzt vorliegende Einspielung zu Sunset Boulevard unterstreicht diesen Eindruck und lässt zudem hoffen, dass auch das bislang keinesfalls überrepräsentierte Oeuvre weiter erschlossen wird. Möge die Parole daher zukünftig (nicht nur, aber auch) lauten: More Waxman, please …

Komponist:
Waxman, Franz

Erschienen:
2002
Gesamtspielzeit:
69:41 Minuten
Sampler:
Varèse
Kennung:
VSD-6316

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