Ich bin wahrscheinlich ein Chamäleon — Ein Interview mit Rolf Wilhelm (von Stefan Schlegel)
Mit ganz besonderer Freude habe ich Anfang Oktober 2004 die Gelegenheit wahrgenommen, das folgende Interview mit Rolf Wilhelm in Grünwald bei München führen zu dürfen. Denn ausgerechnet seine hinreißende Nibelungen-Filmmusik hatte entscheidenden Anteil daran, dass ich selbst als zart besaitetes Kind im Alter von etwa acht Jahren Ende der 60er Jahre vom Filmmusik-Virus angesteckt wurde, der mich bis heute begleitet.
Rolf Wilhelm zählt zu den bedeutendsten und vielseitigsten deutschen Filmkomponisten und ist wohl einer der letzten aus der alten Garde, der sein Handwerk noch von der Pike auf gelernt hat und seit den frühen 50er Jahren in diesem Metier tätig gewesen ist. Allein 64 Spielfilme und daneben unzählige Fernseh- und Hörspielmusiken hat er in fast fünf Jahrzehnten vertont. Man wird in diesem Interview viel erfahren über die bisher kaum näher beleuchtete Arbeitsweise deutscher Filmkomponisten damals und heute sowie über die ganzen Veränderungen im ästhetischen und technischen Bereich der Filmkomposition in Deutschland. Rolf Wilhelm erweist sich dabei als herrlich geistreicher Erzähler, der trotz seiner jetzt 77 Jahre erstaunlich jung geblieben ist und dazuhin über ein wunderbares Gedächtnis verfügt. Ich habe ihn als bescheidenen, liebenswürdigen und sehr gebildeten Menschen kennengelernt und möchte mich an dieser Stelle ganz herzlich bei ihm dafür bedanken, dass er sich so viel Zeit für unser Gespräch genommen hat.
Mein Dank geht zudem an Michael Boldhaus, der das Interview in die Wege geleitet hat.
DIE ANFÄNGE BEIM FUNK
Stefan Schlegel: Wie war Ihre musikalische Ausbildung und wann haben Sie begonnen zu komponieren?
Rolf Wilhelm: Angefangen habe ich mit Klavierstunden mit sieben, was eigentlich ein ganz gutes Alter ist. Wir lebten zuerst in München, dann in Berlin, wo ich eine sehr gute Klavierlehrerin hatte, der ich sehr viel zu verdanken habe, weil sie auch mein Gehör ungeheuer trainiert hat. Ich musste z. B. Intervalle singen. Dazu gab es ein Täfelchen mit einem Notensystem, sie gab mir einen Ton an und dann gings rauf und runter. Vorgegebene Dur- und Moll-Akkorde in allen Umkehrungen musste ich erkennen, Rhythmen nachschlagen – eben das, was man unter Gehörbildung versteht und äußerst wichtig ist. Das ging bald sehr gut und hat mir immer sehr geholfen.
1938 sind wir dann nach Wien übersiedelt, wo ich auch einen Klavierlehrer hatte, der Primgeiger bei den Wiener Philharmonikern war. Der hat mich bald auf die Musikhochschule verwiesen und zu mir gesagt: „Du gehörst nicht in Privatstunden, sondern in einen Klassenunterricht.“ Ich musste eine Aufnahmeprüfung machen, weil ich natürlich zu jung war – denn normalerweise wurde man in der Musikhochschle erst ab 16 oder 18 Jahren aufgenommen – , und musste etwas vorspielen. Und dann kam die übliche Gehörprüfung, die für mich natürlich überhaupt kein Problem war. So war ich also neben der Schule her in der Musikhochschule mit dem Hauptfach Klavier, daneben natürlich Harmonielehre etc.
So mit 14, 15 habe ich begonnen, kleine Stückchen zu schreiben, zum Beispiel ein Trio oder Lieder und solche Dinge. Und ich muss noch hinzufügen, dass ich so ab dem 12. Lebensjahr eigentlich ständig im Konzertsaal war: Konzert und Oper. Nun waren das die Kriegsjahre, in denen es die heutigen Ablenkungen wie Fernsehen, CD, DVD etc. etc. ja noch nicht gab. Außerdem hatte ich das Glück, in einer sehr musikalischen Familie aufzuwachsen, in der jeder ein Instrument spielte, die Eltern beide Klavier (unseren Blüthner-Flügel habe ich heute noch), Großvater und Vater Geige, mein Bruder Cello, wir waren also ein perfektes musikalisches Trio.
In Wien bin ich natürlich sehr gut erzogen worden mit den Wiener Philharmonikern: mit Furtwängler, Clemens Krauss, Karl Böhm, Mengelberg, Kabasta – sozusagen mit der ersten Garde. Ich habe Konzerte erlebt mit Richard Strauss, mit Pfitzner, ich habe Emil von Sauer noch erlebt, der der letzte Schüler von Liszt gewesen war. Wilhelm Backhaus hat gespielt, das Schneiderhan-Quartett – einfach alles, was Rang und Namen hatte. Der Musikvereinssaal in Wien ist ja für einen Musiker immer der Mittelpunkt der Welt, natürlich auch für mich das größte Heiligtum. Es gibt nichts Schöneres als dort Musik zu erleben.
Nun ja, so hat sich das natürlich gesteigert und ich habe meiner Klavierlehrerin auch mal was mitgebracht. Da sagte sie zu mir: „Gut, wunderbar. Du bleibst bei mir, aber Du gehst jetzt auch noch zu Joseph Marx in die Kompositionsklasse.“ Eine Weile lief das noch so nebenher, aber bald darauf wurde ich mit knapp 16 Jahren als Luftwaffenhelfer einberufen und dadurch das Studium zunächst beendet.
Nach Krieg, Arbeitsdienst, Kriegseinsatz und Gefangenschaft kam ich 1945 zurück nach München. Und da beginnt ein anderes Kapitel. Es war natürlich sehr schwierig, denn die Akademie hier war zerstört und geschlossen. Erst Anfang 1946 hat sich die Musikhochschule in der Stuck-Villa – das ist die private Villa des berühmten Jugendstil-Malers Franz von Stuck – etabliert. Ein wundervolles Gebäude, das jedoch nicht sehr geeignet war als Musikhochschule, wo aus jedem Raum andere musikalische Geräusche kommen. Dort habe ich dann die Dirigenten- und Kompositionsklasse absolviert, die Meisterklasse bei Hans Rosbaud, dem damaligen Leiter der Münchner Philharmoniker, der später zum Südwestfunk gegangen ist. Er war ein wunderbarer Pädagoge, ein auch für die moderne Musik aufgeschlossener, hervorragender Dirigent. Besser konnte man gar nicht ausgebildet werden! Und mein Kompositionsstudium habe ich bei Joseph Haas abgeschlossen.
Stefan Schlegel: Wie sind Sie dann zur Filmmusik gekommen?
Rolf Wilhelm: Da kam zuerst noch was ganz anderes. Bevor die Akademie sich wieder etablierte, bin ich zum Funk gekommen durch einen Zufall, der wahrscheinlich auch nur zu dieser Zeit möglich war. 1946 hieß der Bayerische Rundfunk noch „Radio München, ein Sender der Militärregierung“. Das Funkhaus war ziemlich stark zerstört und ging nur bis zum zweiten Stock. Es war alles sehr beengt, aber wir brauchten damals seltsamerweise auch nicht so viele Leute. Zusammen mit dem Orchester waren es vielleicht so 150 Personen. Jeder kannte jeden, fast jeder war, zusammen mit zwei, drei Kollegen, eigentlich eine eigene Abteilung. Und schön langsam dachte man auch wieder an Hörspiele. Da nach dem Krieg die europäische Literatur wieder zur Verfügung stand, plante man als eines der ersten Hörspiele „Das Gespenst von Canterville“ von Oscar Wilde, das sich akustisch natürlich sehr schön eignet. Fritz Benscher führte Regie, und mein vier Jahre älterer Bruder (Kurt Wilhelm), der gleich Ende 1945 dort als Dramaturg und Regieassistent engagiert worden war und mit dem ich ja immer viel musiziert hatte, war der Regieassistent. Nun stellte sich heraus, dass man für die Auftritte des Gespensts und sein Treiben natürlich eine entsprechende Musik brauchte. Nachdem das Archiv aber auch stark getroffen war, fand sich keine. Und bevor es abgesetzt wurde, sagte mein Bruder: „Na ja, ich habe einen jungen Bruder, der komponiert. Ich kann ihn ja mal fragen, vielleicht bringt er etwas zustande. Die drei, vier Tage können wir doch noch abwarten.“ Und so entstand mein erstes Stück für Orchester, eine ironisch illustrierende Gespenstermusik. Es war ziemlich aufregend für mich, die Stimmen wurden rasch kopiert und schon bald nach einem Mittagskonzert – damals wie fast alles Live-Sendung , wurde es aufgenommen auf einer Wachsplatte und für das Hörspiel später zugespielt. Vom Orchester her wars ein voller Erfolg, das kurze Stück war natürlich voller skurriler Effekte, eine groteske Situation eigentlich, aber es gefiel ihnen, was dieser Lausbub – ich war damals gerade 18 geworden – geschrieben hatte, und ich bekam sogar noch 70 Reichsmark dafür – mein erstes verdientes Geld – , was heute etwa anderthalb Päckchen Zigaretten entspricht. Denn die Zigarette kostete fünf Reichsmark im Schwarzhandel – und der war ausgerechnet im Notenarchiv.
Drei oder vier Tage später hatte ich dann bereits den nächsten Auftrag für eine Sendereihe – und gerade darüber war ich sehr froh und stolz, damit betraut zu werden – mit dem Titel „Nie wieder Krieg“. Eine wahre, echte Herzensangelegenheit, deren man sich gerade heute wieder erinnern sollte. Damals habe ich wohl auch eine ganz gute Musik geschrieben. Zu dieser Zeit war ja alles noch im Wiederaufbau und Sich-Zusammenfügen, und es sprach sich im Hause schnell herum, dass ich ein guter und rascher Lieferant für solche Kompositionen wäre. Es folgten Kinderhörspiele, Unterhaltungshörspiele, zu Weihnachten wurde Shakespeares „Wintermärchen“ produziert. Diesen Auftrag bekam ich von einem anderen im Hause arbeitenden Regisseur. Dabei wurde ich gefragt, ob ich das nicht der Einfachheit halber selber dirigieren könnte. Ich hatte wirklich noch nie vorher ein Orchester geleitet. Das waren alles „Trockenübungen“ am Klavier, die wir da in der Hochschule gemacht hatten. Ich hatte natürlich zu Hause rumgewedelt, es ausprobiert und fand das wunderbar. Tja, und dann kam dieser Termin. Das Orchester saß da, ich bin mutig ins Studio hineingestiefelt – es war schon etwas aufregend. „Zufällig“ sind beide fest engagierten Dirigenten des Hauses hinten in der Regie gesessen, bereit im Notfall einzuspringen, kollegial, aber auch etwas beunruhigend vor meinem ersten Sprung ins kalte Wasser. Ich kann Ihnen sagen: Es ist eine große Erfahrung, wenn man auf dieses Podium hinaufsteigt, mutter-wind-alleine dasteht, soundsoviele Augenpaare vom Orchester schauen einen an, man schaut zurück – und dann kommt dieser Moment, wo man eben sein „Staberl“ heben und bedeuten muss: „Bitte sehr – hier ist der Auftakt, dies ist das Tempo“. Dieser erste Auftakt ist eine Art Feuertaufe, ein Erlebnis, das wirklich einmalig ist. Aber es ging glücklicherweise sehr gut und wir haben uns gut vertragen. Und von da an habe ich meine Musiken eigentlich immer selbst dirigiert.
Dann kamen viele Hörspiele für die Unterhaltungsabteilung, zum Beispiel die erste Radio-Show nach dem Vorbild der amerikanischen Comedy-Shows. Das waren die Erlebnisse einer Familie im Nachkriegsleben und hießen „Die Brummlgschichten“. Dazu habe ich mit dem Rundfunk-Tanzorchester gearbeitet. Wir haben furchtbar schräge Musik gemacht, die eigentich überhaupt nicht passte. Aber wir waren damals so stürmisch und erneuerungsbedürftig wie man bei dem erlösenden Neuanfang nach der schrecklichen Kriegszeit als junger Mensch einfach sein musste. Und so war es eben reiner Jazz, manchmal deutsch und manchmal bayerisch gesungen, mit Couplets und Zwischenmusiken. Für mich ein völlig neues Aufgabengebiet: Jazz für eine Big Band.
So ging das weiter: Wir haben „Die Biene Maja“ in fünf Fortsetzungen mit einem richtig großen Orchester und mit Chor und Solisten wie einen großen Disney-Film gemacht, eine wundervolle und erfolgreiche Riesenarbeit. Auch zu großen literarischen Stoffen konnte ich Musik schreiben, eine wichtige Zeit für meine Entwicklung.
Stefan Schlegel: Wie viel Musik haben Sie im Schnitt so beigesteuert für ein Hörspiel?
Rolf Wilhelm: Das war ganz verschieden und variierte von 5 bis 10 Minuten oder gar einer Stunde wie für „Biene Maja“ oder „Hanneles Himmelfahrt“ nach Gerhart Hauptmann. Kinderhörspiele waren meine Vorliebe – eines gibt es heute noch, als Evergreen auf CD, im Theater und unzähligen Schulaufführungen: „Der Sängerkrieg der Heidehasen“, etwa um 1949 produziert. Eine besonders gut gelungene Geschichte von James Krüss über Minnesänger, Korruption und Hochzeit im Hasenreich, ganz entzückend. Da hatte ich eine schöne Parodie drin von drei Sängern: Ein ganz schüchterner, der böse Direktor, der eine Hasen-Opern-Arie wie eine Loewe-Ballade herunterdonnert, und dann noch ein ganz schnulziger Tenor, für den ich eine fürchterliche Parodie auf die Rudi Schuricke-Schmalzlieder geschrieben habe. Der Siegerhase jodelt überraschenderweise. Und dies ist heute noch hoch beliebt bei Kindern und deren Eltern, obwohl es eine recht betagte Musik ist. Ich habe es erst neulich im Hamburger Kindertheater gesehen, die Kinder haben sich kaputt gelacht.
Gut, das war dieses. Dann kam eine kleine Firma mit kurzen Kulturfilmen, für die ich die ersten drei, vier kleinen Filmmusiken geschrieben habe und dabei auch die Bildsynchronisation üben konnte – denn das ist ja nicht ganz einfach. Na ja, und dann rief mich Paul May an, der meine Dinge im Radio gehört hatte. Er hatte den 08/15-Film (1954) begonnen, und das wurde mein erster und für fast alle der beteiligten Schauspieler ebenso der erste Film. An gedienten Schauspielern waren eigentlich nur Wilfried Seyferth und Hans-Christian Blech dabei. Alle anderen haben hier ihre erste Chance bekommen. Wie man weiß, war es damals ein ungeheurer Erfolg, und kaum lief der Film, wurden wir bereits für den zweiten und den dritten Teil optiert – mit jeweils 1000 DM mehr Gage. Der erste Teil war mit ganz geringem Budget gemacht, die beiden nächsten schon wesentlich aufwendiger mit Winter-Außenaufnahmen in Finnland für den russischen Feldzug 1941/42.
„MASSCHNEIDEREI UND KEINE SALAMI-MUSIK“
Stefan Schlegel: Mit Paul May zusammen haben Sie ja insgesamt 11 Filme gemacht.
Rolf Wilhelm: Ach sind es doch so viele? Ja, mit Paul May habe ich viele und auch schöne Filme gemacht, an die ich mich gerne erinnere.
Stefan Schlegel:Waren Sie eng befreundet miteinander?
Rolf Wilhelm: Ja, wir haben uns sehr gut verstanden. Er war ja wirklich mein Entdecker und setzte sich auch für mich ein, wenn ein neuer Produzent meiner Jugend misstraute. Damals galten „Newcomer“ offenbar als Risikofaktor, auch mit 27 noch…
Es ist eigentlich verständlich, dass man, wenn man jemanden hat, mit dem man sich gut versteht, auch weiterhin zusammenarbeitet. So etwas nennt man ein „winning team“, und es wäre doch albern, sich auf irgendwelche Experimente einzulassen, solange man am selben Strang zieht und mit dem Ergebnis zufrieden ist. Das traf auf uns zu und so blieben wir gerne zusammen, z. B. auch bei Und ewig singen die Wälder (1959).
Paul May hat mir eigentlich nie in irgend etwas dreingeredet, er hat mir vertraut und lediglich vor der allerersten Musikaufnahme schlecht geschlafen.
Stefan Schlegel: Sie hatten also immer freie Hand?
Rolf Wilhelm: Nicht immer, denn es gibt eben verschiedene Arten von Regisseuren. Es gibt sehr musikalische, die ein großes Repertoire kennen und mit denen man auch reden kann. Natürlich hat man für bestimmte Situationen schon eine gewisse Vorstellung von einem bestehenden Stück, das einfach passend wäre auf der psychologischen und dramaturgischen Ebene, dass man sagt, so stellen wir uns ungefähr die Stimmung vor, die wir erzeugen wollen.
Stefan Schlegel: Gab es denn damals schon die heute so gefürchteten Temp Tracks?
Rolf Wilhelm: Keineswegs, wir waren, soweit ich es erlebt habe, eigentlich immer frei. Es gab viele Regisseure, die absolut, oder vielleicht auch gar nicht so unmusikalisch waren, aber sagten: „Das machst Du schon, ist schließlich Dein Job“. Andere wiederum machten schlechte Vorschläge. Aber meistens haben sie sich rausgehalten.
Stefan Schlegel: Es ist ja heutzutage ein großes Problem der Filmkomponisten, dass sie nach dem Temp Track entlang komponieren müssen.
Rolf Wilhelm: Entsetzlich! Dieses Problem hatte ich damals überhaupt nicht. Es gab keine Verlage, die hinter einem her waren und dann sagten, Sie müssen das so machen, dass wir hinterher eine Platte daraus machen können. Ich konnte noch wirkliche „Maßschneiderei“ betreiben, habe alles immer genau auf den Punkt komponiert und keine „Salami-Musik“ zum Runterschneiden und Ausblenden. Das finde ich auch nicht gut. „Ein Anzug, der für Gert Fröbe angefertigt wurde, passt sicherlich nicht für Heinz Rühmann“ hab ich gerne gesagt, wenn es um Konfektionsmusik gehen sollte.
Stefan Schlegel: Gab es für Sie damals Vorbilder in der deutschen Filmmusik der vorhergehenden Generation? Ich denke zum Beispiel an Werner Eisbrenner, Mark Lothar oder Norbert Schultze?
Rolf Wilhelm: Meine Vorbilder waren eher in der Klassik. Sie kennen ja sicher diese Rede von Tiomkin, als er bei der Oscar-Verleihung alle seine klassischen Vorbilder angeführt hat. So ist es auch bei mir: Ich bin ja eigentlich ein reiner Klassiker und wollte ursprünglich Dirigent werden. Als ich in Wien studierte, wollte ich natürlich zumindest die Staatsoper übernehmen. Das hat der Krieg von vornherein verhindert, aber ich bin nicht traurig darüber: Filmmusik, ebenso Bühnen-, Fernseh-, auch Werbemusik ist ein weites, immer neue Aufgaben stellendes Gebiet, in dem ich mich immer sehr wohl fühlte. Aber ich bin eigentlich rein klassisch erzogen, aufgewachsen und ausgebildet, was wohl die beste Voraussetzung für diesen Beruf ist, wie der große Kollege Ennio Morricone neulich in einem Interview betonte. Wie recht er doch hat….
Stefan Schlegel: Aber als Sie mit der Filmmusik angefangen haben, sind Sie doch bestimmt auch von anderen Filmen und deren Musiken beeinflusst worden.
Rolf Wilhelm: Ja natürlich. Wer wäre nicht beeindruckt gewesen von Vom Winde verweht. Oder später gabs dann diese verdammten Vorbilder wie z. B. den „River Kwai-Marsch“ – den wollte natürlich jeder so ähnlich haben. Von einem Verleiher bekam ich einmal bei einem Naturfilm die großartige Anweisung: „Machen Sie mal so wat wie diesen Forellenwalzer.“ Ein anderer empfahl mir: „Nehmen Sie was wie Ein Männlein steht im Walde-Hausnummer!“. Das sind so prächtige Ratschläge, bei denen man sagt, „ja natürlich, genau so machen wir das“. Selbstverständlich ist dies nicht sonderlich ernst zu nehmen, geht es doch darum, die für diesen Stoff, eine bestimmte Szene oder die für diesen Schauspieler entsprechende Musik zu schreiben. Mitunter muss man ja auch helfen, wenn die Atmosphäre einer Szene unbefriedigend ist und sie „unterfüllen“. In der, wie ich es ausdrücken will, „angewandten Dramaturgie“ ist ja auch echte Psychologie für jede Rolle anzuwenden, um sie verständlich zu machen. Wie gesagt: Ursprünglich wollte ich zweierlei werden: Erstens der Direktor der Staatsoper und zweitens Arzt, eigentlich früher sogar Arzt, das liegt bei uns in der Familie. Die auf ausgeprägte Sensibilität beruhende Verwandtschaft zwischen Arzt und Musiker ist ja berühmt – man denke nur an Billroth und Brahms, die vielen recht beachtenswerten Ärzteorchester. Und so habe ich manchmal Filme auch ein bisschen wie meine Patienten behandelt, sie „diagnostiziert“. Wenn eine Szene nicht befriedigend wirkt, müssen sie ja entweder etwas wegnehmen oder dazutun, Szenen sozusagen: „therapieren“, um den Betrachter, oder besser gesagt Zuhörer in die richtige Stimmung zu versetzen. Klingt vielleicht seltsam, aber ich sehe das so.
Stefan Schlegel: Gab es für Sie dann Filmstoffe, die besonders inspirierend wirkten, oder andere, die Sie eher ungern gemacht haben?
Rolf Wilhelm: Das gab es manchmal mit Gefälligkeitsgeschichten für einen Filmproduzenten, dem dies genau so unbequem war, wo wir uns sagten: also gut, dann machen wirs halt. Nicht so ganz dahinterstehend, mit Einsatz der Routine, selbstverständlich aber auch anständig. Das gab es glücklicherweise nur selten.
Ich sage manchmal: Ich habe VIELE Filme gemacht, ich habe auch GUTE Filme gemacht, WENIGER GUTE und wenig WIRKLICH GUTE. Die Spreu trennt sich doch vom Weizen und das umso mehr, wenn sich die reine Filmkunst zum Wirtschaftsfaktor, zum reinen Unterhaltungsmedium und Kommerz hin entwickelt. Und die meisten Produzenten waren weiß Gott nicht gerade die literarischsten Personen, vor allem gewisse Berliner Produzenten konnten manchmal sogar sehr komisch sein. Die gaben Geschichten zum besten wie: „Ick hab da nen tollen Stoff! Weeßte, er ist ein Junge von eener Familie, und die anderen, die haben ein Mädchen. Und nu die beiden.“ Unverkennbar handelte es sich natürlich um Romeo und Julia! Knapp formuliert hat es doch was, finden Sie nicht?
Stefan Schlegel: Aber gab es Filme, die Sie sehr gern gemacht haben oder Lieblingsfilme?
Rolf Wilhelm: Mit großer Freude natürlich die beiden Wälder-Filme – Und ewig singen die Wälder/Das Erbe von Björndal (1960) und die beiden Kaviar-Filme – Es muss nicht immer Kaviar sein (1961)/Diesmal muss es Kaviar sein (1961) – und viele andere, eigentlich die Mehrzahl aller großen Spielfilme. Ich hatte ja wirklich Glück mit den Aufträgen.
Und 08/15 war insofern eine besonders schöne Aufgabe, weil es mein erster Film war und weil er diesen historischen Hintergrund hatte, den ich ja aus eigener Erfahrung zur Genüge kannte. Ich habe dafür die bekannte „Locke“ als eigentliches 08/15-Thema übernommen. Im zweiten Teil setzte ich beim Russland-Feldzug die Sondermeldungsfanfare von Liszt im Konflikt mit dem „Wolgaschiffer-Thema“ dagegen. Und im dritten Teil verwende ich den Zapfenstreich mit dem „Soldaten müssen nach Hause gehn“ zum Kriegsende. Da gab es eine schöne Aufnahme, weil zu dem Riesenorchester, das ich ohnedies schon hatte, noch Erwin Lehn mit seinem herrlichen Tanzorchester von Stuttgart dazukam, wir waren kanpp über 100 Musiker! Das hat ganz schön reingepfiffen, als die Amerikaner die Macht mit dem 08/15-Thema als Trumpet-Blues übernahmen!. Da tat sich was, unvergesslich war diese Schlacht zwischen musikalischen Themen!
Stefan Schlegel: Und diese Konzeption mit dem Einbauen von Zitaten und den satirischen Verfremdungen war ganz Ihre eigene Idee?
Rolf Wilhelm: Ja, da wurde mir nicht dreingeredet. Man war daran gewöhnt, rechnete damit, dass aufwendige Musikaufnahmen angesetzt wurden. Und ich muss sagen, meine Produzenten waren auch äußerst tapfer. Wenn ich das heute sagen würde, „und dann kommt dieses Orchester noch angereist“, würde man nur aufstöhnen und abwinken: „Kein Budget!“
Stefan Schlegel: War in den 50er Jahren, als Sie anfingen, ein größeres Budget für Filmmusik vorhanden?
Rolf Wilhelm: Mir persönlich wurde eigentlich nie ein Budget genannt damals. Früher war es einfach so, dass die Produzenten meinten: „Bestellen Sie halt (in Gottes Namen) das Orchester und wir bezahlen es. Ende! Sie werden schon wissen, was Sie brauchen.“
Mir hat sogar der Wiener Produzent Professor Stöger bei der ersten Aufnahme von Und ewig singen die Wälder mit den Wiener Symphonikern, nachdem es ein bisschen mühselig wurde – es war ja auch viel Musik aufzunehmen , am Nachmittag, so gegen 5 Uhr, gesagt: „Weißt Du was, ich habe die Musiker jetzt nach Hause geschickt. Ihr macht morgen früh weiter, wenn Ihr wieder frisch seid.“ So! Er hatte tatsächlich das volle Orchester für den nächsten Tag nochmal bestellt! Und tags darauf ging alles viel rascher von der Hand und wir bekamen wundervolle Aufnahmen. Welch ein Produzent!
Später hat er mich einmal heftig gegen den Wunsch eines Regisseurs nach einem anderen Komponisten verteidigt und gesagt: „Wilhelm ist mein Maskottchen: seit er da ist, gehen meine Filme!“ Denn die Wälder und Erbe von Björndal waren große Erfolge und hervorragende Geschäfte, vor allem gegenüber seinen vorherigen Filmen. Er war ein großartiger, vernünftiger Produzent, denn beide Filme wurden original in Norwegen gedreht. Zunächst wurden dort die Motive ausgesucht und festgelegt. Dann fuhr das ganze Team rauf, wollte drehen und hatte acht Tage lang schlechtes Wetter. Sie wollten ausweichen, irgendwo anders hin, wo das Wetter besser war. Aber Stöger meinte. „Nein, ihr bleibt, es ist ausgesucht, ich will diese Motive haben, es ist das Beste so!“ Und das hat er auch bekommen.
Es war ein schwerer Verlust für mich und auch für den österreichischen Film, als er nach der Fertigstellung eines weiteren Lieblingsfilms von ihm und mir, Julia, du bist zauberhaft (1961) mit Lilli Palmer und Charles Boyer, Anfang 1962 an einem Herzinfarkt unvermutet starb und eine wunderbare, niveauvolle Zusammenarbeit mit schönen Plänen jäh beendet war.
Stefan Schlegel: Ihre großartige Musik zu Und ewig singen die Wälder stellt gemessen am Standard der deutschen Filmmusik der damaligen Zeit ja schon etwas Besonderes dar: Eine außergewöhnlich dicht gearbeitete sinfonische Musik mit prachtvollen Themen.
Rolf Wilhelm: Ja, ich hatte auch alle Freiheit, eine große Partitur zu schreiben, meinen prächtigen Produzenten und zudem die wundervolle Aussicht, mit den Wiener Symphonikern arbeiten zu dürfen. Man hat damals immer noch zum Bild aufgenommen, das heißt: im Tonatelier zur großen Projektion wie im Kino gespielt, was nicht ganz einfach ist. Die Musiker wollten natürlich auch sehen, worum es da ging – vor allem, wenn Damen dabei waren, war das Interesse an diesen Szenen groß. Es war aber auch für mich insofern ganz angenehm, um das Bild nochmals genau zu sehen und meine Zeiten zu kontrollieren. Vor Beginn der eigentlichen Kompositionsarbeit hatte ich im Schneideraum mit dem Magnetophon den Ton aufgezeichnet und gewisse wichtige Punkte dazu draufgesprochen: dies und jenes, Akzente etc. Natürlich ist das Timing mit einer Videokassette heutzutage wesentlich einfacher, aber damals ging das alles rein mit der Stoppuhr – alle paar Takte mit exakten Zwischenzeiten und Synchronpunkten, wie beim Fahrplan eines Bummelzugs. Jede Station hat ihre klare Ankunfts- und Abfahrtzeit, die in der Partitur notiert waren. So wusste ich bei der Aufnahme immer, ob ich synchron war.
Stefan Schlegel: Wie viel Zeit hatten Sie für die Gesamtkomposition? Einen Monat?
Rolf Wilhelm: Ja, allenfalls. Nach dem Stoppen wusste ich, was auf der „Speisekarte“ stand und innerhalb welchem Zeitraum abzuliefern war. Dazu habe ich mir dann – ohne noch eine wirkliche Vorstellung davon zu haben, wie schwierig das oder jenes zu schreiben wäre – im Kalender eine Art Countdown angelegt und präzise eingeteilt, was an jedem Tag geschrieben werden musste. Somit hatte ich das Ganze richtig portionsweise auf meine Tage verteilt und konnte glücklich abstreichen, wenn ich mein „Tagessoll“ erledigt hatte. Und wenn ich einen Take vom nächsten Tag schon vorgezogen und fertig hatte, war Freiraum für knifflige Stellen oder einen Spaziergang gewonnen. Das sind so psychologische Tricks, um ruhig zu bleiben angesichts des großen Pensums in knapper Zeit.
Stefan Schlegel: Wurde dann vom Produzenten oder vom Regisseur angegeben: „Hier, da und dort will ich Musik“?
Rolf Wilhelm: Vom Produzenten eigentlich kaum. Vom Regisseur selbstverständlich in der Regel schon.
Stefan Schlegel: Oder konnten Sie das selber entscheiden, für welche Szenen Sie Musik komponieren wollten?
Rolf Wilhelm: Wenn ich selbständig war, dann ja. Aber ich habe natürlich jeden Film immer zunächst mit dem Regisseur zusammen in der großen Vorführung angeschaut. Das versteht sich von selbst, man sitzt ja im selben Boot und will gemeinsam ein gutes Ergebnis erzielen. Am Schneidetisch besprach man dann die Einzelheiten. Manchmal musste man sich auch ein bisschen durchbeißen, aber das war sehr selten.
DAS MONSTERPROJEKT „NIBELUNGEN“
Stefan Schlegel: Gab es denn dann in den 60er Jahren mehr Probleme mit dem Budget für die Musik?
Rolf Wilhelm: Probleme mit dem Budget fingen bei Artur Brauner an, der knapp kalkulierte. Er hatte vor allem recht harte Produktionsleiter, die ich gerne als „Geigerzähler“ bezeichnet habe, weil sie ziemlich unerbittlich waren in Verhandlungen über Musikaufnahmen, immer noch mehr sparen und noch weniger Musiker zugestehen wollten. Aber nichts gegen Artur Brauner selbst! Da gibt es noch etwas zu erzählen: Beim zweiten Kaviar-Film war kein Posten mehr für die Musik in der Disposition da oder nur eine ganz kleine Restsumme. Ich habe dann ein bisschen gejammert, aber er meinte: „Sie sind doch ein Profi und können sich doch einschränken.“ So musste ich mit dem kleinen Budget vorlieb nehmen, und es gelang auch überraschend gut. Man muss ja nicht immer aus dem Vollen schöpfen – das lernt man auch dabei. Ich glaube, ich habe damals um 1000 oder 2000 DM herumgekämpft, aber da war halt partout nichts zu machen. Später rief er mich an und sagte: „Sie haben diesen zweiten Teil sehr schön gemacht.“ Und zu Weihnachten kam ein Scheck: „Hier sind die 2000 DM, die Sie gerne haben wollten.“ Das war fabelhaft. Er hat ein Gefühl für den Wert des Geldes, riskiert als Produzent bei jedem neuen Film schließlich sehr hohe Summen und kann diese falsche Einstellung „beim Film fließt das Geld in Strömen“ – die es leider manchmal gibt – mit Recht nicht ausstehen. So geht er auch mitunter durch seine Ateliers und sagt zu seinen Mitarbeitern: „Warum schmeissen Sie das weg? Diese Dekoration, Requisiten etc. können wir doch wieder verwenden und auch die Nägel, die hier herumliegen.“ Dagegen kann man doch nichts sagen.
Bei den Nibelungen (1966) haben wir uns ebenfalls sehr gut verstanden. Das Budget für den ersten Teil dieses Monsterprojekts war wirklich angemessen und ich konnte ein großes Sinfonieorchester bestellen. Es war ja auch unglaublich viel Musik, die ich für diese interessante, knifflige, arbeitsintensive großartige Herausforderung und Heidenarbeit zu schreiben hatte.
Stefan Schlegel: Hatten Sie bei den Nibelungen mehr mit Regisseur Harald Reinl oder mehr mit Produzent Artur Brauner zu tun?
Rolf Wilhelm: Reinl, ein Vollprofi, hat mir vertraut, natürlich seine Vorstellungen geäußert und mit mir besprochen, aber mir, ebenso wie Herr Brauner, volle Freiheit gelassen.
Stefan Schlegel: Also gab es bei den Nibelungen diesbezüglich keine Probleme?
Rolf Wilhelm: Die ergaben sich erst beim zweiten Teil, weil das Orchester beim ersten Teil sehr teuer gewesen war. Es war wirklich auch ein wahnwitzig aufwendiger Film, die größte und teuerste deutsche Produktion der Nachkriegszeit. Die riesigen Bauten, Komparsen mit den Pferdeherden für die Hunnen, kostbare Kostüme, alles in wahrem Hollywood-Format, das war schon ein großes Wagnis. Die Besetzung war erstklassig, auch wenn man sich über unseren Siegfried streiten kann. Er hatte halt das Olympia-Gold, seine Idealfigur, blaue Augen, war blond, stark und ein bisschen naiv, also schon eine ideale Besetzung.
Stefan Schlegel: Als tumber Tor hat er ja sehr gut in die Rolle gepasst.
Rolf Wilhelm: Das kann man wirklich sagen, er sah prächtig aus und musste in dieser Rolle ja auch keine hochgeistigen Vorträge halten. Er war absoluter Laie und hat dafür seine schwierige Aufgabe gut gelöst.
Aber zurück zu meinem Problem: Das große Orchester hatte trotz optimal zügiger Produktion der Riesenpartitur fast das gesamte Budget verbraucht. Und da die Musikaufnahmen ja immer der letzte große Posten im Produktionsablauf sind, war die Kasse nahezu leer, zumal bei diesem Riesenprojekt. Natürlich habe ich Brauner angefleht, ob er nicht doch noch ein bisschen Geld locker machen könne, aber seine Darlegung der Finanzsituation war einleuchtend. Die Filme mussten ja zuerst finanziert werden, er konnte ja auch nicht voraussehen, wie sie laufen würden und ob er nicht am Ende auf seinen Produktionskosten sitzenbleiben würde. Das war nur allzu verständlich und so verfiel ich auf den Gedanken, im zweiten Teil, der ja alles andere als erfreulich ist, einfach die Streicher wegzulassen und nur mit Bläsern und Schlagzeug zu arbeiten. Und das funktionierte sehr gut. Am Anfang konnten wir einiges vom ersten Teil nochmals verwenden, ab dem Eintritt der Hunnen schwiegen die Streicher, es ging dem grausamen Ende mit härteren Klängen entgegen Im Zuge des Einsparens (wir lernen das gerade wieder kennen) wurde bei den Musikaufnahmen der Synchronität zuliebe bei der musikalischen Perfektion ein Auge zugedrückt, was im Film im Lärm des blutigen Gemetzels nicht weiter auffällt, auf der CD allerdings leider nicht zu überhören ist. Ich hatte auch wirklich nicht mit einer CD (oder LP) gerechnet, war mit einer kleinen Single mit den beiden Hauptthemen schon zufrieden.
Stefan Schlegel: Reinl hatte als Bergfilmer ja ein ausgesprochenes Gespür für wunderbare Landschaftsaufnahmen – bei den Nibelungen kommt das insbesondere bei den Island-Szenen zum Ausdruck. War dies eine starke musikalische Herausforderung für Sie?
Rolf Wilhelm: Ja, auf jeden Fall ist es eine meiner Lieblingssequenzen, die mir auch gut gelungen ist. Da hatte ich vor allem auch genügend Raum, um mich wirklich einmal musikalisch entfalten, einen großen melodischen Bogen spannen zu können und eine Stimmung zu schaffen, in der es dem Betrachter möglich war, Emotionen zu entwickeln. Der ganze Islandkomplex, auch der mystische Zweikampf, waren ideale Vorlagen für mich, ein Glücksfall für einen sinfonischen Komponisten. Nebenbei: Es herrscht ein alter Kampf der Filmkomponisten mit den Geräuschemachern und Tonmeistern bei Filmmischungen. Man ahnt ja nicht, wie tonlich nackt ein Rohschnitt ist, wieviel Tonsprünge es gibt, ungewollte Nebengeräusche, synchronisierte Stellen etc. Jeder Raum hat seine Atmosphäre, Synchronsprache aber in der Regel keine, also springt der Ton hin und her, man muss das angleichen, am besten mit der Originalatmosphäre des Schauplatzes, die eigentlich immer aufgenommen werden sollte. Doch manche Tonmeister sind nachlässig, meistens kommen sie auch nicht mehr dazu, diese zwei Minuten Stille noch aufnehmen zu können, weil nach der letzten Einstellung mit einem Heidenkrach wieder umgebaut wird. So verfällt man darauf, diese Problemstellen mit irgendeiner fremden „Atmo“ (Straßenlärm, Vogelzwitschern, Wind o. ä. etwa) zu übertünchen, die leider die ganze Szene andauert und auch die Musik mit einem mitunter erheblichen Störpegel gnadenlos zudeckt. Leider räumen viele Regisseure neben der Sprache diesen Geräuschen Priorität ein, so dass der Komponist die Früchte seiner gewissenhaften Arbeit in den Hintergrund gedrängt sieht, und das ist übel!!! Wer keine Hörspielerfahrungen hat und nicht weiß, dass Musik sehr vieles ersetzen kann, vor allem eben störende, stereotype Geräusche wie einen alles andere als entzückenden Wasserfall, den man ohnedies sieht, unterschätzt ihre emotionelle Bedeutung im Film. Im Islandkomplex ist es gelungen, dem Orchester den Hauptpart neben den großartigen Bildern einzuräumen.
Stefan Schlegel: Es ist meiner Meinung nach eine Ihrer schönsten Musiken.
Rolf Wilhelm: Ja, es war auch eine der großen Möglichkeiten. Es ist gar nicht so sehr lang – vielleicht fünf Minuten , aber es vermittelt einem das Wunder einer grandiosen Landschaft wie in einem Kulturfilm. Das war optimal.
Stefan Schlegel: Wie schwer war es, sich von der Last Richard Wagners, die bei diesem Stoff für einen Komponisten unweigerlich vorhanden ist, zu befreien?
Rolf Wilhelm: Nun ja, ich kannte Wagner, war mit dem „Ring“ gut vertraut und wusste daher von vorneherein, dass hier ein anderer Weg zu beschreiten war. Oper und Film sind ja schließlich auch „zwei Paar Stiefel“. So habe ich einfach nicht zu lange nachgedacht und herumgetüftelt, sondern eher intuitiv gearbeitet. Das ist so ähnlich wie die Sache mit dem Tausendfüßler: Wenn Sie den fragen, wie machst Du das, welcher Fuß kommt zuerst? 1, 3, 7 oder 173, 174, dann die anderen, und was kommt dann? wird er antworten: „Moment“, tief nachdenken und von Stund an nie wieder laufen können!
Ich habe natürlich auch mit dem altbewährten Leitmotivprinzip gearbeitet, das Beziehungen und eine gewisse Ordnung herstellt. Siegfried hat sein fast etwas zu strahlendes Leitmotiv, der Hagen hat sein dunkel drohendes, den Tritonus, den sogenannten „diabolus in musica“ mit den Pauken, so dass man gleich weiß, woran man ist. Das ist so eine Art Signet, eine Floskel, eigentlich gut verständlich und eindeutig.
Zum Glück sind keine Riesen aufgetreten! Aber dieser unglaubliche, unsägliche Drachen war ein echtes Problem für den Regisseur. Zuerst wurde ihm das Blaue vom Himmel versprochen, was dieser Kerl alles könne, aber dann konnte der nur das Maul aufmachen, ein bisschen mit dem Kopf wackeln und eine Pfote heben, das wars dann. Der alte Fuchs Reinl zog sich bravourös aus der Affäre, indem er vor der Drachenhöhle eine mystisch-gespenstische Dämmerung einfallen ließ, so dass sich der eigentliche Kampf mit Lichteffekten, Nebel und raffiniertem Schnitt in absoluter Dunkelheit abspielte. Umso besser wirkt es, wenn sich danach die Sonne wieder zeigt und die Vögel Siegfried das Geheimnis seiner Unverwundbarkeit verraten. Raffiniert, nicht wahr?
Stefan Schlegel: In der Tat ist das von der Atmosphäre her im Film eine sehr stimmungsvolle Szene geworden! Sind Sie denn bei den Dreharbeiten schon dabei gewesen?
Rolf Wilhelm: Nein, ich wurde etwa in der Hälfte der Produktionszeit von Herrn Brauner auf einen Tag nach Berlin eingeladen, um mir die imponierenden Atelierbauten und die ersten fertigen Teile des Films anzusehen und mit ihm eine Besprechung in seinem Hause zu halten.
Die Szenen mit dem Nibelungen-Schatz und dem Zwergenkönig Alberich in der Höhle von Postojna haben mich mit ihrer geheimnisvollen Stimmung sehr beeindruckt und inspiriert. Eigentlich muss man da „nur richtig hinschauen und nachdenken“, dann stellen sich die Klangvorstellungen von selbst ein. Ganz so einfach ist es zwar nicht, aber es ist in etwa der Weg zur Lösung.
Stefan Schlegel: Wurden Sie bei dem kraftvollen Marsch-Hauptthema eigentlich von Miklós Rózsa und dessen Score zu Knights of the Round Table beeinflusst?
Rolf Wilhelm: Die Antwort lautet: Nein, ich kannte weder den Film noch den Soundtrack, werde ihn mir aber besorgen, um das einmal selbst zu hören.
Stefan Schlegel: Es gibt dort ein punktuell recht ähnliches Marschthema.
Rolf Wilhelm: Da sehen Sie wieder mal, wie zwei Doktoren die gleiche Diagnose stellen. Aber der Titel zu den Nibelungen verlangt nun mal einen martialischen Marsch, da führt kein Weg dran vorbei, da kann man kein Violinkonzert spielen. Es gibt genug andere Fälle, wo man ein bestehendes Vorbild vorgesetzt bekommt,das sicherlich gut passen würde. Rolf Thiele war so ein Regisseur, der ganz gerne etwas anlegte, um dadurch harmonisch zu schneiden und einen Bildrhythmus zu finden. Das ist absolut legitim und hilfreich bei der Arbeit. Eine Kopie davon zu schreiben, ist ein anderes Problem und nicht so sehr mein Ding. Wir nannten dieses Verfahren, Platten anzulegen, „Radio Lindberg“. Mit ihm habe ich eine Reihe hübscher Filme gemacht. Das schwarz-weiß-rote Himmelbett (1962) zum Beispiel ist ein entzückender leichter Film. Was habe ich denn sonst noch mit ihm gemacht?
Dieser Artikel ist sowohl Teil unseres Rolf-Wilhelm-Specials als auch unseres umfangreichen Programms zum Jahresausklang 2004.