Rolf-Wilhelm-Interview, Teil II

Geschrieben von:
Stefan Schlegel
Veröffentlicht am:
11. Dezember 2004
Abgelegt unter:
Special

Ich bin wahrscheinlich ein Chamäleon — Ein Interview mit Rolf Wilhelm (von Stefan Schlegel), Teil II

SPEZIALIST FÜR THOMAS MANN-VERFILMUNGEN

Stefan Schlegel: Tonio Kröger (1964), Wälsungenblut (1964) …

Rolf Wilhelm: Ja, Tonio Kröger, das ist ein sehr schöner Film, gedreht in der herrlichen Hansestadt Lübeck, der ich seit damals wirklich verfallen bin. Da hatte Thiele bei dieser langen, elegischen Strandwanderung den zweiten Satz der dritten Brahms-Sinfonie angelegt. Und ein wenig von diesem Stil ließ ich mich auch inspirieren, übernahm das ruhige Tempo.

Stefan Schlegel: In den 60er Jahren waren Sie beinahe ein musikalischer Spezialist für Thomas-Mann-Verfilmungen. War das Absicht oder hat sich das per Zufall so ergeben?

Rolf Wilhelm: Die Rolle des Zufalls spielt hierbei der Produzent Franz Seitz, der einen echten Januskopf hat: Einerseits hat er diese Schulklamotten gemacht, die sich ja enormer Beliebtheit bei den Sendern erfreuen und eigentlich ja auch ganz nett und lustig sind.

Stefan Schlegel: Ich habe sie schon lange nicht mehr gesehen, denn ich habe die alle damals so als Kind mit 8 und 9 Jahren bei uns im Kino mitbekommen. Aber es waren ja in der Zeit Riesenerfolge, und deshalb hat man so viele Teile davon gedreht. Genauso wie bei den Lausbubengeschichten (1964) und den ganzen Fortsetzungen mit Tante Frieda (1965), Onkel Filser (1966) usw.

Rolf Wilhelm: Beim ersten führte Helmut Käutner Regie. Es war schon seltsam: Ein Berliner inszeniert diesen so urbayerischen Stoff. Aber er hat ihn mit einem unglaublich sicheren Gespür dafür wahrlich ideal ins Bild gesetzt. Jeder, der die Geschichten liest, macht sich wohl sein eigenes Bild, genau wie jeder seinen Old Shatterhand und Winnetou sah, bevor Reinl diese Traumbesetzung fand, die einfach unschlagbar war. Käutner hat optimale Motive ausgesucht, sich soweit als irgend möglich an die Sprache Ludwig Thoma’s gehalten, die Kostüme nach den berühmten Illustrationen von Gulbransson anfertigen lassen, den Film mit Liebe und Humor inszeniert und damit eine optimale Vorlage für die Fortsetzungen geschaffen.

Stefan Schlegel: Zu einer Art Erkennungsmelodie ist ja das beschwingt-fröhliche Titelthema der Lausbubengeschichten geworden, das Sie geradezu mit einem gewissen Schmunzeln auf den Lippen komponiert zu haben scheinen. Ist das richtig?

Rolf Wilhelm: Schön, dass Sie das so empfinden. Der Trick daran war, der bayerischen Folklore ein modernes Bläserensemble hinzuzufügen.

Stefan Schlegel: Wurde diese Idee von Käutner so mitgetragen?

Rolf Wilhelm: Es war eine gemeinsame Idee. Er fand die bayerische Saitenmusik so hübsch, die ergänzende Idee mit dem – eigentlich sinfonischen – Bläserensemble kam von mir. Das hat sich gut vertragen und bestens bewährt. Es war herrlich, mit Käutner zu arbeiten. Ein besonders liebenswerter Film!
Aber um wieder auf Thomas Mann und Franz Seitz zurückzukommen: Zum einen hat er Lümmelfilme produziert, zum anderen ist er literarisch äußerst bewandert, mit einer Vorliebe für Thomas Mann. Es begann mit Tonio Kröger

Stefan Schlegel: Ist in Wälsungenblut überhaupt Musik von Ihnen verwendet worden?

Rolf Wilhelm: Hauptsächlich wurde Wagner verwendet, aber die beiden Lieder, die im Kasino gesungen werden, sind von mir. Klavier habe ich auch gespielt und mich als Dirigent betätigt bei den Szenen, die auf der Opernbühne spielen, aber natürlich im Studio gedreht wurden. Auch wieder ein Film, den ich sehr schätze: Herrliche Motive, grandiose Besetzung. Die Vorliebe von Franz Seitz für Thomas Mann teile ich mit ihm, und so sind diese Filme auch ein wenig zu unserer eigenen Freude entstanden, waren Lichtpunkte in unserer jahrelangen intensiven Zusammenarbeit.

Stefan Schlegel: Bei Doktor Faustus (1981) hatten Sie dann ein ganz besonderes musikalisches Konzept und sowohl Ars Nova wie Zwölftonmusik mitverarbeitet.

Rolf Wilhelm: Das war wohl die schwierigste Aufgabe von allen. Der Roman enthält eine Menge von theoretischen Kompositionen, die so präzise beschrieben sind, dass die Übertragung auf „lebendige“ Noten zunächst ganz einfach erscheint, in Wirklichkeit jedoch mit wenigen Ausnahmen so gut wie unmöglich ist. Die ersten Harmonielehrebeispiele sind kein Problem, auch das vorgegebene Leitmotiv, aus dem Namen „Hetaera esmeralda“ abgeleitet, ließ sich durchgehend bestens verwenden, aber wie verwandelt sich die Musik des Romans nach dem Teufelspakt? Hier entdeckte ich bei meinen Studien einen Brief von Thomas Mann, in welchem er Lieder von Benjamin Britten lobte, die er gehört hatte und fand, dass sein Adrian Leverkühn (die Hauptfigur des Romans) wohl genau so hätte komponieren können. Das bestätigte unsere Idee, ab dem Teufelspakt das „War Requiem“ von Britten, ein ungeheures Werk, als den verwandelten Stil Leverkühn’s zu verwenden. Vorhergehende, als „epigonenhaft“ bezeichnete Werke, habe ich etwa im Stile Gustav Mahlers selbst geschrieben, sozusagen „nachempfunden“.

Stefan Schlegel: Vor allem das gesungene mit dem Titel „Einen kenn ich“.

Rolf Wilhelm: Ja genau, das von einem „schwarzen Bass“ gesungene. Die mittelalterliche „Musik aus Kaisersaschern“ stammt von mir, das Tenorlied, für die Anfangsmusik habe ich mich mit der Ars Nova auseinandergesetzt, vermischt mit Zwölftonfolgen. Hohe Anforderungen also, aber hochinteressant und lohnend.

Stefan Schlegel: Hätten Sie sich gewünscht, dass noch mehr solche Aufgaben kommen?

Rolf Wilhelm: Ja natürlich, das macht doch richtige Freude, fordert einen heraus! Aber derlei ist selten, was wiederum den Wert steigert.

ROLF WILHELM UND SEINE „SUICIDERS“

Stefan Schlegel: Ein bisschen schade, dass man sich schlussendlich doch nicht so entfalten kann wie man will.

Rolf Wilhelm: Sicherlich, aber eigentlich hat mich auch niemand davon abgehalten, Opern und sinfonische Werke für den Konzertsaal zu schreiben, nicht fast ausschließlich Film-, Fernseh- und Bühnenmusiken. Abgesehen davon gibt es, in bescheidenem Maß, auch solches aus meiner Feder, Orchesterlieder, eine Menge Kompositionen für Bläserensemble, Solisten u. v. a. Ich war auch so wirklich glücklich und ausgelastet in meiner Sparte, hätte für diese andere Seite wohl auch nicht die Zeit gefunden.

Stefan Schlegel: Und außerdem ist in der Branche natürlich der kommerzielle Druck immer da.

Rolf Wilhelm: Ja, und wenn Sie mal drin sind, dann läuft das Uhrwerk. Man ist immer so gut wie die letzte Arbeit. War sie das, wird man auch wieder genommen. Dadurch bilden sich gute Arbeitsteams. Ich meine, Richard Strauss hatte Recht, bei Hofmannsthal zu bleiben. Er hätte ja auch andere Autoren ausprobieren können. Wenn man sicher sein kann, seine Aufgaben in homogener Zusammenarbeit mit erprobten Kollegen bewältigen zu können, damit erfolgreich zu sein, ist man doch heilfroh und hat keinen Grund, sich auf Experimente einzulassen. Dieses Glück hatte ich, so dass ich eigentlich nie „Klinken putzen“ gehen musste, um Aufträge zu erhalten. Lediglich einmal ging ich auf Empfehlung hin zu einer Werbefilm-Produktion. Da hieß es ganz erfreut: „Ja würden Sie das denn machen?“ Und da ich neugierig auf diese Technik war, entstand dadurch eine intensive Zusammenarbeit mit zwei, drei Agenturen.
Wissen Sie, man wird leicht falsch eingeschätzt – ich in meinem Falle als hochgestochener Filmkomponist war wohl als sündteuer verschrieen, was zwar keineswegs der Fall war, aber wohl so angenommen wurde. Einmal wollte mich beim SDR in Stuttgart gerne ein Regisseur dabei haben – Antwort im Hause: „Zu teuer!“ Hätte nicht ein alter Kumpel aus dem Lehn-Orchester gesagt „lasst mich ihn doch erst mal fragen“ und mir diese sehr schöne Arbeit angeboten mit dem schüchternen „aber wir können nur so viel bezahlen“, wäre das nicht zustande gekommen. (Abgesehen davon war die Gage sogar etwas höher als anderswo.) Die dachten wohl, der lebt in den Sternen oder auf den Bahamas…(lacht)

Stefan Schlegel: Bei Ihren sinfonischen Filmmusiken ist der Einfluss der deutschen Spätromantik ja sehr deutlich zu vernehmen. Jedoch scheinen Sie eine besondere Affinität zu nordischen oder slawischen, vor allem sehr elegischen Klängen zu haben, die man immer wieder in Ihren Musiken heraushört. Ich denke dabei an Und ewig singen die Wälder, Das Erbe von Björndal, Tarabas (1982), Die Nibelungen oder Tonio Kröger. Sehen Sie das ähnlich?

Rolf Wilhelm: Na ja, diese Stoffe sind ja nun alle keine Lustspiele, dazu noch mehr oder weniger historisch, spielen in Kostümen, fremden Ländern, verlangen deshalb eine entsprechende musikalische Sprache. Bei den norwegischen Filmen mit ihrer endlosen Weite, der dramatischen, oft trostlosen Ereignisse, lag neben den Landschaftsbildern eine elegische Musik nahe. Bei Tarabas, der nun wahrlich fast durchwegs „grau in grau“ spielt, nannte ich mich bei den depressiven Musikaufnahmen schon insgeheim „Rolf Wilhelm und seine Suiciders“. Joseph Roth ist nahezu immer traurig und elegisch; das Ende der k-u.k.-Monarchie nach 1914/1918. Sein berühmter „Radetzkymarsch“ ist ein tragisches, trauriges Stück. Und das liegt mir anscheinend, ist ja auch kompositorisch reizvoll.

Stefan Schlegel: Der Tarabas ist ja ein toller Score geworden, bei dem man sich wundert, dass es sich eigentlich nicht um eine Musik fürs Kino, sondern nur fürs Fernsehen handelt. Waren hier mehrere glückliche Umstände fürs Gelingen ausschlaggebend?

Rolf Wilhelm: Es war das Glück mit den Wiener Produzenten, die zu Musik einen besonders selbstverständlichen Zugang haben – das liegt wohl an der Stadt, in der Musik eine besonders große Rolle spielt. Für die Aufnahmen hatte ich das ausgezeichnete Wiener Volksopernorchester, das nicht ganz billig war. Aber durch meine langjährigen Erfahrungen mit Musikaufnahmen war das kein Problem, man muss nur den Ablauf sorgfältig planen.
Die erste Voraussetzung für eine gute Produktion ist der Kopist, der die Orchesterstimmen aus der Partitur ausschreibt. Und zwar ein Kopist, der selbst Musiker ist und weiß, wie eine gut spielbare Orchesterstimme aussehen muss, der vor allem die Handschrift des Manuskripts entziffern kann, harmonische Zusammenhänge versteht, also eine Partitur nicht nur lesen, sondern auch kleine Flüchtigkeitsfehler von sich aus verbessern kann. Dieses wirklich seltene Glück hatte ich vom ersten Teil von 08/15 an. Meine wirklich „bessere Hälfte“ E. K. war ein ausgezeichneter Musiker vom Graunke-Orchester, der oft bei meinen Aufnahmen mitspielte. Er hat mir durch Jahrzehnte hin immer ein vollkommen fehlerfreies Material geliefert. Wenn er mal auf Urlaub war – das muss ja wohl auch sein – hatte ich schon so disponiert, dass in dieser Zeit keine großen Arbeiten anfielen. Denn es gibt nichts Schlimmeres, als vor einem Orchester zu stehen und ein fehlerhaftes Material zu haben. Die Musiker können nicht wissen, wo der Fehler liegt, und Sie brauchen ein verdammt gutes Gehör und viel kostbare Zeit, wenn etwa 12 Blechbläser einen völlig falschen Akkord spielen, der zu korrigieren ist. Manche helfen Ihnen auch nicht, sondern freuen sich: „Schauen wir mal, ob der da vorne auch hören kann.“ Aber wenn in einem Termin immer wieder etwas nicht stimmt, wenn ganze Takte oder Pausen fehlen, falsche Noten drin sind, muss man sich mühselig durch einen Urwald von Fehlern quälen, und die ganze Stimmung ist beim Teufel. Und dann wird’s richtig mühsam und vor allem ungeheuer teuer und das Renommee ist dahin! Ich hatte also dieses große Glück, dass mein treuer Kopist alle meine Materiale geschrieben hat und seine Frau alle fertigen Stimmen nochmals optisch kontrollieren konnte. Stellen Sie sich vor: In diesem Riesenmaterial für das 90 Mann-Orchester für Die Nibelungen war kein einziger Fehler! Meisterhaft! Da geht man mit einer ganz anderen Sicherheit zur Arbeit, sowohl als Dirigent als auch als Orchestermusiker, kann sich auf einen perfekten Termin ohne Probleme freuen.
Dann gibt es noch einen zweiten Fehler: wenn immer nur „Take-weise“ ausgeteilt und zwischendurch eingesammelt wird. Das kostet wertvolle Zeit und Geld. „Da habe ich nichts“ ist noch schlimmer, dann geht die Suche nach einer Stimme an, die irgendwo dazwischen liegt. Das alles darf nicht passieren. In einem Operationssaal gibt es das ja auch nicht, dass „jetzt leider keine Klammer da ist und die Schere fehlt.“ Das geht nicht. Deshalb legte ich das ganze Material nach Komplexen, die thematisch, in Stimmung oder Tempo zusammengehörten, in eine sinnvolle Reihenfolge für jedes einzelne Notenpult chronologisch hintereinander. Nun braucht jeder nur noch umzublättern. Erst ein Stück „zum Reinschmecken“, dann gleich eine Steigerung; nach dem Essen mit vollem Magen zunächst etwas Ruhigeres, bis man wieder leistungsfähig ist – auch das ist natürlich Psychologie. Wenn wir dann eingespielt waren, ein Stück gut aufgenommen hatten, kam gleich das nächste dran – es wurde ein richtig euphorischer Sport: „nicht anspielen, gleich aufnehmen!“ In dieser Stimmung wird es auch für die Musiker der Himmel, ein beschwingtes, problemloses Musizieren, bei dem man keine Probleme mehr spürt, nur ein „Gott, sind wir gut!“ Damit ist natürlich viel erreicht, das hört man dem Ergebnis nämlich auch an! Wenn Sie ein Stück fünfmal hintereinander abbrechen müssen, merken Sie erst, wo die Schwierigkeiten liegen und können unsicher werden.
Ich habe also mit dem Orchester bei Tarabas immer Sitzungen zu je drei Stunden angesetzt und die Besetzungen abgebaut, vom großen Orchester zum kleineren, bis zum Schluss nur noch kleine „Fuzzeles“ übrig blieben, ein Klavierakkord, Glocken etc. Das war natürlich auch beliebt, denn Musiker, die herumsitzen und sich langweilen, stören die anderen, fangen an zu ratschen und kosten außerdem noch viel Geld!

Stefan Schlegel: Konnten Sie alle Ihre Filmmusiken selbst orchestrieren? In Amerika gab es ja immer dieses Problem, dass Komponisten einen Orchestrierer haben müssen.

Rolf Wilhelm: Das ist dort üblich, zum Glück (für mich wenigstens) hier nicht der Fall. Ich habe alles selbst instrumentiert. Bei Erwin Lehn half mir in Terminnot manchmal Mladen Gutesha, der zur Band gehörte, z. B. bei den Kaviar-Filmen. Einmal bekam ich einen ganz engen Termin – fünf Tage – bei einem Film für die Gloria Wo die alten Wälder rauschen (1956). Darin gab es sehr schöne „Restbestände“ an Naturnaufnahmen aus dem Förster vom Silberwald, die mit einer neuen Handlung versehen worden waren. Da musste ich mir natürlich vieles abnehmen lassen, um mich hauptsächlich um die tollen Tieraufnahmen kümmern zu können, die ich besonders reizvoll fand und gerne präzise auf den Punkt schreiben wollte. Vielleicht erinnern Sie sich an die alten Disney-Filme, dieses halbstündige Vorprogramm vor den großen Märchentrickfilmen, zumeist von Paul Smith großartig komponiert, immer mit einem Quodlibet auf bekannte Klassiker, zum Beispiel auf die „Fledermaus-Ouvertüre“, zu der dann eine Art Tierballett choreographiert war – hinreißend! Das war eine gute Gelegenheit, es auch einmal zu versuchen und eine Mordsfreude dazu, mit ganz einfachen Mitteln, nämlich mit einem Klickband als Hilfswerkzeug. Damals mit Metronom aufgenommen, in verschiedenen Tempi zum präzisen Timing. Heute geht das spielend mit dem Computer…

Stefan Schlegel: Wie viel Zeit stand Ihnen normalerweise zum Komponieren zur Verfügung?

Rolf Wilhelm: Meistens zu wenig. Es war ganz unterschiedlich, aber immer ein bisschen knapp.

Stefan Schlegel: Oder konnten Sie manchmal auch schon während der Dreharbeiten dabei sein?

Rolf Wilhelm: Bei den Dreharbeiten eigentlich nur, wenn etwas als Playback verwendet und zugespielt werden sollte. Das ist klar, dafür hatte man dann sogar ein bisschen mehr Zeit. Aber wenn erst abgedreht ist, wird es eng: Der Schnitt ist fertig, der Ton angelegt, Dialoge synchronisiert, die Mischung angesetzt, und der Produzent wartet darauf, dass die Bänder endlich zum Negativschnitt können, Kopien gezogen werden und die Premiere stattfinden kann. Er möchte natürlich in ein gutes Kino und hat folglich längst einen Uraufführungstermin, der unbedingt eingehalten werden muss. Wenn sich da irgendetwas verzögert hatte, geht das zeitlich alles von der Musik, die ja als Letztes dazukommt, sprich: dem Komponisten ab. Und Geld ist in der Regel sowieso keins mehr da.

BERGMAN UND DAS „SCHLANGENEI“

1533Stefan Schlegel: Wie kam es zu Ihrer Zusammenarbeit mit Ingmar Bergman beim Schlangenei (1976)? Hat die Arbeit Spaß gemacht?

Rolf Wilhelm: Es war für mich das schönste und größte Erlebnis meiner Karriere.

Stefan Schlegel: Kannte er Sie persönlich und kam deshalb auf Sie zu?

Rolf Wilhelm: Nein, er kannte mich natürlich nicht, aber der Produktionsleiter, der mir nach jahrelanger Zusammenarbeit sehr vertraute, empfahl mich ihm. Es war eine fast an ein Wunder grenzende Situation: Ingmar Bergman kam nach München, stellte sein Team zusammen, und ich war noch friedlich auf Urlaub mit meiner Familie in Italien! Erst als ich zurückkam, wurde ich gefragt, ob ich nicht Lust hätte, den Film mit ihm zu machen. Welch eine Frage! Ich bekam das Drehbuch am nächsten Tag, konnte es kaum glauben: Bergman in der Bavaria!
Zunächst galt es an Musik nur das Cabaret-Programm mit einem Lied für Liv Ullmann zu finden. Bei Bergman hieß ich eigentlich auch nur „der Kapellmeester“. Das Lied sollte in einem heruntergekommenen, etwas schäbigen Cabaret, nicht allzu professionell vorgetragen werden und etwas obszön sein. So ging ich zuerst mal auf die Suche, was an schlüpfrigen, anzüglichen Texten und Originalschlagern aus der Zeit von 1923, in der der Film spielt, existierte, forschte bei verschiedenen Verlagen nach und wurde bis zu einem gewissen Grade auch fündig. Von der Auswahl machte ich Probeaufnahmen von drei oder vier alten Schlagern, um sie Bergman vorzuspielen.Weil ich aber mit allen nicht so ganz glücklich war, hatte ich zu den zwei Zeilen, die in Bergmans Drehbuch mit dem Titel „Ich hab’ ein süßes Bonbon in meinem kleinen Salon“ standen – die es aber natürlich nicht gab –, den weiteren Text und die Musik dazu geschrieben und anonym mit aufgenommen. Und als er alles gehört hatte, flogen die Originale raus und das auf den Punkt gemachte Lied war als originellstes akzeptiert. Ich durfte es mit Liv Ullmann einstudieren, woran wir beide viel Freude hatten und Freunde wurden. Der Cabaret-Komplex wurde mit der Zeit immer umfangreicher, so dass wir zu guter letzt Proben ansetzten wie vor einer echten Premiere, mit mehreren Darstellern nebst vier Balletteusen. Die Musik wurde live bei der Generalprobe auf der Bühne aufgenommen, mit allen originalen Geräuschen der Darsteller und Tänzer, keine sterile Studioproduktion!
Die Arbeit mit ihm war so unglaublich schön und neu für uns alle, weil sie so ganz anders war als sonst in deutschen Ateliers üblich. Erstens gab es, bevor die Dreharbeiten losgingen, eine große gemütliche Sitzung für das gesamte Team Er hat den Stoff erzählt, seine Absichten erklärt und jeden von uns aufgefordert, seineVorstellungen oder Vorschläge zu äußern. Er sagte: „Alles muss besprochen, jede Frage gestellt und beantwortet werden. Denn wir müssen uns über alles klar sein, wir sind eine große Familie und wollen unseren Film gemeinsam machen.“ Damit waren wir schon einmal in das Team eingebunden und konnten, jeder für sich, wie besprochen, aber doch vollkommen frei, unsere Vorbereitungen beginnen. Das wiederholte sich vor jedem Komplex immer wieder. Jede Dekoration und jedes Kostüm war gefilmt und abgenommen, denn bei Bergman darf es keine Überraschungen geben im Atelier. So ist man prächtigst vorbereitet, weiß genau, was jeder andere machen wird und wie sich die Dinge zusammenfügen werden. Dann ist Drehbeginn, die Disposition erstellt, und um 9 Uhr morgens beginnt es. „Um 9 Uhr beginnt es“ heißt ansonsten beim deutschen Film: Sie kommen um 9 Uhr ins Atelier, da wird fleißig gehämmert, die Dekorationen aufgebaut oder eingeleuchtet usw. Bei Bergman hingegen bedeutet „9 Uhr“ pünktlich die Arbeit an der ersten Einstellung, alles läuft wie geplant und vorbereitet. Im Atelier sind: Ingmar Bergman, Sven Nykvist an der Kamera, der Ton und die Schauspieler für diese Szene – sonst niemand. Kein Produzent, kein anderer Schauspieler, keine Presse, Zuschauer, Angehörige, definitiv niemand sonst, der diese konzentrierte Klausurarbeit stören könnte. Auch ich flog natürlich raus, wenn nichts Musikalisches gedreht wurde. Er liebt seine Schauspieler und bettet sie in Ruhe und Sicherheit ein, so dass sie wahrhaft aufblühen. Denn wenn Sie als Schauspieler um 6 Uhr abgeholt werden, um 7 in der Maske sitzen und das zwei Stunden lang über sich ergehen ließen, haben Sie das Bedürfnis, dass es um 9 Uhr wirklich losgeht! Sie haben sich vorbereitet, die Rolle intensiv studiert und wollen sie nun endlich verkörpern. Wenn aber einer in die Garderobe kommt und Ihnen sagt, „Sie haben noch Zeit“, ist die Konzentration gestört, man wartet voller Ungeduld: eine unerträgliche Situation. Und insofern war Bergman eine Offenbarung für uns alle, so ruhig, ohne Stress konnten wir noch nie arbeiten. Dabei ist diese menschenfreundliche Arbeitsweise so einfach, so logisch, produktiv! Noch dazu gab es für das Team „eine Mutter“. Sie hatte die Aufgabe, in einem der Nebenräume des Atelierkomplexes zu residieren, Kaffee, Tee, Wasser, Kekse, Nadel und Faden bereitzustellen, sich um gerade nicht beschäftigte Schauspieler und Mitarbeiter zu kümmern. Dort konnte man in solchen Wartezeiten gemütlich sitzen, sich unterhalten, was trinken und entspannen. So blieb das Team ständig zusammen wie eine große Familie und fühlte sich geborgen. Meistens waren wir dadurch um 3 Uhr nachmittags fertig, keine kräftezehrenden Überstunden waren durch diese ruhige, konzentrierte und abgeschottete Arbeitsweise notwendig. Lauter im Grunde selbstverständliche Dinge, die ungemein zeitsparend waren und allen Sicherheit gaben. Keine Improvisation, keine Überraschungen, die schiere Professionalität.

Stefan Schlegel: Und diese Art von Professionalität gab es sonst in Deutschland nicht?

Rolf Wilhelm: Wenn, dann äußerst selten. Es begann (besonders bei Fernsehserien) üblich zu werden, dass ständig noch an den Drehbüchern geändert wurde und die bedauernswerten Schauspieler „den Text des Tages“ lernen mussten. Sie konnten mit kaum einem von diesen Fernsehfuzzi-Regisseuren mal essen gehen, weil sie sich nach Drehschluss in ihrem Hotel verschanzten, um „heute Abend die nächsten Szenen umzuschreiben.“ Das ist unsinnig, total unprofessionell und fraglich, ob es wirklich zu einem besseren Ergebnis führt. Hoffentlich gibt es jetzt mehr Professionalität, damals wurde oft furchtbar geschustert nach dem Motto: „Kinder spielt, sagt ein bissl was, die Kamera läuft.“ (Pardon, das ist ein wenig boshaft, aber mit einem Beigeschmack von Wahrheit!)
Auch ich erlebte das oft, dieses hektische Treiben, Dekorationen, die nicht fertig waren, diese tödliche Warterei. Aufnahmeleiter haben die fatale Neigung, alle am Tag Beschäftigten für 6 Uhr zu bestellen, weil sie dann ihre Schäfchen versammelt haben, und „irgendwann kommt jeder dran“. Und der kommt dann, abgelagert wie ein Schweizer Käse, um 5 Uhr Nachmittag daher, um zu hören: „Jetzt macht mal schnell.“ Das hat alles natürlich auch zum Niveauverlust geführt. Ich hoffe, dass Sie mich jetzt nicht als Nestbeschmutzer betrachten, aber es war halt leider so. Und daher empfanden wir diesen Ausnahmezustand mit Bergman als so besonders glücklich und wohltuend. Vor allem noch etwas: Wenn Sie Ingmar Bergmans Filme kennen, denken Sie ja im voraus eigentlich, „oh das ist sicher ein schwieriger Herr!“ Aber ganz im Gegenteil: Ich habe kein fröhlicheres Arbeitsklima erlebt als bei ihm! Herrlich!

EINE ANDERE GENERATION

Stefan Schlegel: Wie sind Sie persönlich damit zurechtgekommen, dass ab Ende der 60er Jahre die sinfonische Filmmusik kaum mehr gefragt war?

Rolf Wilhelm: Das war eine Entwicklung, die wohl mit dem Aufkommen des Fernsehens, der zunehmenden Wichtigkeit der Charts, der wachsenden Macht der Werbung zusammenhing. Es war schon enttäuschend. Ich konnte mich diesem Trend auch nicht ganz entziehen, musste mich umstellen. Mein Gott ja, es gibt schon ein paar Filme, die nicht so ganz meinem Naturell entsprechen. Andererseits finde ich es ja so schön, dass ich mich als „Chamäleon“ betätigen konnte, etwas „umgesattelt“ habe, die Lümmelfilme sind ja auch nicht besonders sinfonisch. Aber da konnte ich halt wieder meine Freude an der Karikatur und an der Ironie ausleben. Die ganz seichten Schlagerfilme sind ja an mich gar nicht herangekommen.

Stefan Schlegel: Sie haben in den 70ern ja auch gar nicht mehr so viele Spielfilmaufträge bekommen. Haben Sie sich dadurch dann eher auf das Fernsehen und auf Bühnenmusiken konzentriert?

Rolf Wilhelm: Ja, Fernsehen wurde wichtiger. Zum Teil waren auch sehr schöne Stoffe dabei wie die Joseph Roth-Romanverfilmungen.

Stefan Schlegel: Aber haben Sie es nicht etwas bedauert, dass der deutsche Filme zu der Zeit vom Niveau her so gesunken ist?

Rolf Wilhelm: Ja natürlich, aber es ist nicht so, dass ich dadurch trübsinnig geworden wäre. Es lag doch nicht an mir und auch nicht in meiner Macht, dies zu ändern. Es hat sich halt so entwickelt.

Stefan Schlegel: Und der neue deutsche Film mit Fassbinder und Herzog kam nicht auf Sie zu?

Rolf Wilhelm: Nein, was auch verständlich ist. Sie hatten ihre eigenen Mitarbeiter.

Stefan Schlegel: Gehörten Sie einfach zu einer anderen Generation?

Rolf Wilhelm: Sicherlich. Nun bitte ich Sie, es ist ja auch klar: Ich bin jetzt 77 Jahre alt, da kommt natürlich keiner von den Jungen auf die Idee, mir einen Film anzubieten. Ein junger Regisseur wächst in der Filmhochschule zusammen mit vielen Freunden auf, die alle auf die gemeinsame Chance warten. Ich habe mich damals mit 25 ja auch gefreut und dachte, nun bin ich mal dran! Von den älteren Filmkomponisten hat Alois Melichar sehr schöne, auch ironische Filmmmusiken geschrieben, und auch alle anderen Kollegen seiner Generation: Eisbrenner; Grothe, Schultze, Eichhorn, Bochmann und viel andere: wunderbar, großartig – aber die Jugend drängt gnadenlos nach, es ist ihr Recht!

Stefan Schlegel: Hatten sie damals Kontakt mit diesen anderen Filmkomponisten?

[img right]id=1529[/img]Rolf Wilhelm: Als ich zum ersten Film mit Franz Seitz in Berlin arbeitete– das war Die feuerrote Baronesse (1960) –, rief mich Werner Eisbrenner an und bot mir seine Hilfe an, wenn ich mit Kopisten, Musikern etc. Probleme bekäme. Das fand ich fabelhaft! Er kannte mich gar nicht persönlich!

Stefan Schlegel: Hatten Sie auch Kontakt zu anderen europäischen Filmkomponisten oder war die Lage in Deutschland ziemlich isoliert?

Rolf Wilhelm: Hans Hellmut Kirst hat mir mal von Georges Auric schöne Grüße ausgerichtet, er hätte mit der 08/15-Trilogie viel Freude gehabt. So etwas tut schon gut, es blieb aber ein Einzelfall. Ich lernte natürlich die Münchner Kollegen hier kennen wie Michael Jary, Herbert Jarczyk, Norbert Schultze oder Georg Haentzschel u. v. a. mal im Funk, bei GEMA-Sitzungen, Eisbrenner selbst leider nicht. Wir hatten kaum Gelegenheit, zusammenzukommen. In diesem Jahr bot sie sich bei der „Nacht der Filmmusik“ in München, einer wirklich großartigen Veranstaltung, die uns endlich einmal zusammenführte und erstmalig die Chance gab, aus dem Schatten zu treten und uns einem größeren Publikum zu präsentieren. Es war ein denkwürdiger, erfolgreicher langer Abend.

Stefan Schlegel: Was halten Sie von der jungen Generation deutscher Kollegen wie Marcel Barsotti, Niki Reiser, Enjott Schneider? Sehen Sie im momentanen deutschen Film, wo ja durchaus wieder Sinfonisches abgeliefert wird, eine künstlerisch vernünftige Perspektive für Komponisten?

Rolf Wilhelm: Da sehe ich mit Freuden eine Morgenröte, wenn auch noch nicht die fällige große. Ich war wirklich sehr beunruhigt, als sich Mitte der 80er Jahre die falsch behandelten Computer einschlichen. Da wurde über lange Zeit hinweg – zumindest bei dem, was ich im Fernsehen und an Filmen gesehen habe, denn ich bin kein großer Kinogänger mehr – absolut Schindluder getrieben. Gerade bei an sich sehr hübschen Kulturfilmen hörte ich manchmal wirklich schauderhaftes, hilfloses Gewimmer, das mit Musik nichts zu tun hatte, ein unglaublicher Dilettantismus, der eigentlich mit Kerker geahndet werden sollte. Ich kann nicht begreifen, dass sich a) jemand erdreistet, so etwas anzubieten, b) der Hersteller des Films diese Schändung seiner Arbeit akzeptiert und c) der verantwortliche Redakteur des betreffenden Senders nicht fristlos entlassen wird. Das war Frevel an Frau Musica!
Ich weiß nicht, ob Sie das Statement von Ennio Morricone gelesen haben. Er hat hier in München ein Konzert mit seinen Evergreens dirigiert und, als er in einem Interview gefragt wurde, wie man denn Filmkomponist werden könne, geantwortet: „Man muss studieren, eine klassische Ausbildung und ein Fundament haben. Es genügt nicht, mit drei Fingern auf einen Synthesizer zu drücken.“ Wie wahr und treffend formuliert! Das war aber zum Teil so. Und das werden Sie sicher auch bemerkt haben.

Stefan Schlegel: Ja natürlich!

Rolf Wilhelm: Einmal habe ich etwas in „dieser Art“ erlebt, als ich draußen in München-Freimann eine Mischung hatte. Da war ein Ton-Assistent dabei, der die Bänder einspannte und mir anvertraute: „Den nächsten Tatort, den mache jetzt ich. Ich hab’ mir einen Computer gekauft und mache die Musik zum nächsten Tatort“. Stellen Sie sich das vor!
Dann begann das Unterbieten in der Art von „ich mach’s auch umsonst“, es gab wirkliche Fälle von Korruption und ungute Gepflogenheiten bürgerten sich ein im Konkurrenzkampf, der – unbestritten – hart ausgetragen wird derzeit.

Stefan Schlegel: Sind Sie dann auch ausgestiegen aus dem Metier?

Rolf Wilhelm: Ich bin nicht wirklich ausgestiegen, ich habe vor allem keine Angebote mehr bekommen. Eine letzte Arbeit an einer TV-Serie vor ein paar Jahren hatte ich begonnen und auch ein paar Folgen vertont. Die wurden der Redakteurin vorgeführt, die sich folgendermaßen äußerte: „Ich lehne diese Musik ab. Das ist Filmmusik und das können wir hier nicht brauchen.“ Meine Antwort lautete: „Also gut. Das ist eine sehr interessante Feststellung, die Sie da getroffen haben. Da trennen wir uns besser.“ So geschah es. Das war das unrühmliche (eigentlich doch ruhmvolle?) Ende meiner Arbeit für das Fernsehen. Aber ich könnte und möchte es auch nicht mehr, kann viele der Stoffe nicht mehr sehen, bin einfach übersättigt, habe mich auch lange genug damit beschäftigt, und das in besseren Zeiten bei etwas höherem Niveau.

DIE „HEIDEN“ DIE BEGEGNUNG MIT LORIOT

Stefan Schlegel: Gibt es sonst irgendwelche Filmmusiken anderer Komponisten, die Sie sehr schätzen? Auch aus den letzten Jahren?

Rolf Wilhelm: Das ist eine sehr schwierige Frage. Ich bin zu lange draußen, bin zurückgekehrt zu den „Quellen der klassischen Musik“, bin kein großer Fernseher mehr, hab’s wahrscheinlich auch vergessen. Und wenn ich im Fernsehen in irgendetwas reinkomme und höre zu meiner Freude gute Musik, kann ich den Kollegen ja nie mehr feststellen, weil er im Abspann nicht genannt ist. Das ist auch so eine Unsitte. Man wird gezwungen, wenn man ein fachliches Interesse entwickelt, dass man sich pünktlich zum Fernsehgenuss einfindet wie zu einer veritablen Theaterpremiere.

Stefan Schlegel: Es ist ja oft eine Klangberieselung heutzutage, bei der auch nicht mehr so thematisch gearbeitet wird wie früher.

Rolf Wilhelm: Schwer zu beurteilen, es fehlen wohl auch Zeit und genügend Etat zur Sorgfalt, was ich so höre von jungen Kollegen. Manche gehen mit ihren Computern sehr gut um, nützen die schier unendlichen Möglichkeiten, aber wenn’s nach „Computer pur in modo dilettantico“ klingt, bekomme ich ernsthafte Schwierigkeiten mit steigendem Blutdruck.
Ich habe selbst viel und gerne Computer eingesetzt und war wohl einer der Ersten, der hierzulande elektronisch gearbeitet hat. Etwa 1947/48 gab es hier einen Herrn Bode, der draußen in Dachau ein kleines elektronisches Gerät, wie es Oskar Sala entwickelt hatte, gebaut hatte und im Funk vorstellte. Es konnte eine Oktave oder anderthalb ganz überirdische Töne von sich geben. Das hatte ich schon mal zusammen mit großem Orchester verwendet in einem Hörspiel, wo es um Transzendenz, um eine „Überführung in den Himmel“ ging. Das war enorm wirkungsvoll damals!

Stefan Schlegel: War das so etwas wie ein Ondes Martenot oder ein Theremin?

Rolf Wilhelm: Wohl in der Art eines Ondes Martenot. Es wurde weiterentwickelt, die Tastatur geteilt, so dass man zweistimmig spielen konnte. Das reichte schon aus, um mit Playback und Doppeln eine vierstimmige elektronische Musik für ein Hörspiel mit dem Titel „Seemannsgarn“ zu machen, in dem die Sirenen mit ihren lockenden Gesängen charakterisiert wurden. Ich fand es oft bereichernd, Elektronik als Klangfarbe einzusetzen. Wenn jedoch Streicher damit imitiert werden sollen, wird es meistens peinlich, da kriege ich eine Gänsehaut. Im Studio haben wir oft scherzhaft gefragt, ob wir nicht ein wenig „Streicher-Spray“ auftragen sollten…

Stefan Schlegel: Das ist eben eine andere Zeit heute.

Rolf Wilhelm: Na ja sicher.

Stefan Schlegel: Und auch eine andere Generation.

Rolf Wilhelm: Die sich aber um vieles bringt, wenn sie synthetische natürlichen Klängen vorzieht.

Stefan Schlegel: Durften Sie die kompletten Partituren und Masterbänder behalten?

Rolf Wilhelm: Die Partituren blieben immer bei mir, oft auch das Material, aber: Wohin damit? Wir hatten ja die Aufnahmen, an eine andere Verwendung dachte wirklich niemand. So landete es nach kurzer Zeit im Altpapiercontainer. Ein Fehler, in der Filmmusik-Renaissance fragt man wieder danach. Das letzte Orchestermaterial, das ich in meinem Keller gefunden habe, war Ödipussi (1988), sonst habe ich leider keines mehr.
Die Masterbänder waren Eigentum der Produktion. Zum Glück besitze ich viele 19er-Schmalband-Kopien. Denn die meisten Originalbänder sind futsch. Nach der Mischung wurden sie irgendwo in den Keller gelegt, verstauben und verrotten dort. Eine Maschine für die großen Originalbänder hatte ich nicht – wer hatte damals schon eine? Drum habe ich immer um eine 19cm -Kopie gebeten, denn dafür hatte ich eine Bandmaschine. Meistens bekam ich sie auch, daher mein bescheidenes Archiv.

Stefan Schlegel: Und woher kommen die Titelmusiken auf dem Bear-Family-Sampler?

Rolf Wilhelm: Das sind fast alles meine 19er-Kopien.

Stefan Schlegel: Haben Sie davon dann immer den kompletten Score oder nur die Titelmusiken?

Rolf Wilhelm: Nein, meistens schon eine Überspielung des ganzen Musikbandes. Gottseidank, denn sonst wäre die CD nicht möglich gewesen. Wir haben die Bänder noch ein bisschen „veredelt“. Aber es gibt sehr viele Musiken, von denen ich leider keine Bänder habe. Die sind halt weg. Ich war auch lange der Meinung, dass die Musik so eng an den Film gebunden sei, dass sie ohne ihn gar nicht verständlich wäre. Es sei denn, es handle sich um einen großen epischen Film wie Die Nibelungen oder auch Tarabas.

Stefan Schlegel: Der lässt sich ja auch fast wie eine sinfonische Dichtung durchhören.

Rolf Wilhelm: Ja, aber das liegt natürlich am Stoff. Aber vieles andere ist doch rein funktional. Schauen Sie: Was ich auch immer gern angewendet habe und was Gustav Ucicky beim Erbe von Björndal so gut gefiel, dass ich mit der Musik noch in die nächste Szene hineingehe. Es muss ja nicht sein, dass mit Schnittende auch Musikende ist. Es geht ja weiter, man kann die Stimmung ja weiter transportieren. Wenn Sie nun auf der CD lauter Stücke mit einer Länge von 24 Sekunden, 35 Sekunden oder 1 Minute 27 Sekunden hören, fast alle ohne wirklichen Schluss, werden Sie sich fragen, was soll ich denn damit? Im Zusammenhang mit dem Stoff und dem Film hat es seine Funktion, aber ohne ihn ist das etwas anderes, wirkt eher dürftig.

Stefan Schlegel: Es ist also ein Glücksfall, wenn eine Musik auch unabhängig vom Film fuktioniert.

Rolf Wilhelm: Ja, es ist ja auch ein Glücksfall, wenn einem die Zeit zu einer in sich geschlossenen Komposition zur Verfügung steht (siehe die Island-Musik in den Nibelungen)!

Stefan Schlegel: Wie stehen Sie heute zur Wälder/Björndal-Musik? Finden Sie sie immer noch sehr gut?

Rolf Wilhelm: Ich kenne sie gut. Das heißt, manchmal bin ich überrascht, wenn ich sie lange nicht gehört habe. Es gibt schon Stellen, wo ich mir sage, „hei, das war gar nicht schlecht“ (lacht). Aber ich will mir die alten Bänder nicht immer wieder vorspielen, denn es kann auch sein, dass ich mich manchmal nicht so gut aus der Affäre gezogen habe, was vielleicht am Stoff lag, meistens jedoch an einem zu engen Termin. Da konnte es schon passieren, dass ich unter Zeitdruck eine passende Sequenz aus einem früheren Film im gleichen Genre noch einmal verwenden konnte oder regelrecht musste.

Stefan Schlegel: Mir ist es aufgefallen bei den düsteren Blechakkorden zu Beginn der Via Mala (1961)-Ouvertüre, die innerhalb der Island-Sequenzen der Nibelungen wieder auftauchen.

Rolf Wilhelm: Ja genau, der Beginn ist identisch!

Stefan Schlegel: War das Absicht?

Rolf Wilhelm: Ich bin mir nicht sicher, aber es ist gut, dass Sie mich daran erinnern. Das wurde für die Mustervorführungen auf die Lava-Ausbrüche in den Island-Szenen draufgelegt. Habe ich das selber vorgeschlagen oder der Cutter? Es lagen von Via Mala ja noch die Bänder im Schneideraum. Wir haben’s probiert, fanden es optimal, Brauner und Reinl ebenfalls, und schon hatte ich eine Sorge weniger! Allerdings nur für vier Takte…

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Dieser Artikel ist Teil unseres umfangreichen Rolf-Wilhelm-Specials.

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