Rafael Kubelík: The Mercury Masters

Geschrieben von:
Michael Boldhaus
Veröffentlicht am:
9. November 2021
Abgelegt unter:
Klassik

„The Mercury Masters“ widmet sich den Tonaufzeichnungen aus Kubelíks Wirken beim Chicago Symphony Orchestra (CSO) in den Jahren 1950 bis 1953. Als der 36-jährige Kubelík die Nachfolge für Artur Rodzinski beim CSO antrat, hatte er dieser Position den Vorzug gegenüber der Nachfolge von Sir Adrian Boult als Chefdirigent des BBC Symphony Orchestra eingeräumt. In Chicago erlebte er dann allerdings eine für ihn besonders unruhige, turbulente Phase. Rasch sah er sich nämlich nicht nur scharfer Kritik durch eine der berüchtigtsten Musikkritikerinnen ihrer Zeit ausgesetzt, Claudia Cassidy, der der Beiname „Acidy“ vorauseilte. Ob Kubelíks Programmgestaltung, wie häufiger zu lesen, wirklich durch allzu viele Werke zeitgenössischer Kompositionen das Publikum überfordert hat, erscheint zumindest zweifelhaft. Inwieweit für die frühe Auflösung seines Vertrages die vielen angesetzten Orchesterproben ausschlaggebend oder gar mitentscheidend waren, oder dass er verschiedentlich auch schwarze Interpreten verpflichtet hatte, kann an dieser Stelle nicht eindeutig festgemacht werden.

Zugleich fällt Kubelíks Chicagoer Zeit aber auch mit den einen Meilenstein in der Musikreproduktion darstellenden Bemühungen des kleinen, aufstrebenden Mercury-Labels zusammen, auf dem Klassikmarkt Fuß zu fassen ­– siehe dazu auch „Kleine Klassikwanderung 18“. Die erste Klassikaufnahme von Mercury mit Kubelík und dem Chicago Symphony, Mussorgskys „Bilder einer Ausstellung“, wurde zum durchschlagenden Hit, was beim Abhören der ersten CD des Box-Sets unmittelbar nachvollziehbar wird.

Der Löwenanteil dieser Mercury-Aufnahmen ist übrigens zuvor 2005 in einem 4er-CD-Set von Universal Music veröffentlicht worden. Demgegenüber sind die Überspielungen des aktuellen Box-Sets von Thomas Fine komplett neu erstellt worden, und die Mühe hat sich gelohnt. Die allermeisten der neuen Transfers sind nicht nur nochmals merklich rauschärmer geraten, sondern insbesondere die Kandidaten, wo man noch auf die Originalmaster zurückgreifen konnte, klingen gegenüber ihren bereits sehr guten Pendants von 2005 nochmals ein entscheidendes Tickchen luftiger, offener und dynamischer. So bilden neben den bereits genannten „Bilder einer Ausstellung“ auch Bartoks „Musik für Saiteninstrumente, Schlagwerk und Celesta“, Blochs „Concerto Grosso“ und Hindemiths „Sinfonische Metamorphosen“ geradezu eine akustische Offenbarung, bei der das Orchester derart voll und zugleich so natürlich und transparent im Raum steht, dass man Stereo kaum vermisst.

Brahms’ 1. Sinfonie, Mozarts Sinfonie Nr. 34, Tschaikowskis Pathetique sowie Smetanas Vaterland-Zyklus konnten nur von verlustbehafteten Sicherungsduplikaten transferiert werden: Aber trotz hier und da hörbarer kleinerer Einschränkungen (etwa in lauten Passagen vereinzelt auftretende leichte Verzerrungen) klingen auch diese Überspielungen insgesamt immer noch beachtlich. Sie vermögen daher im Rahmen dieser insgesamt hervorragenden Demonstration der mit nur einem Mikrofon (platziert und justiert oberhalb der Position des Dirigenten) arbeitenden Mercury-Aufnahmetechnik immer noch ein, wenn auch etwas kleineres Scherflein beizutragen.

An dieser Stelle muss man sich freilich bewusst machen, dass es sich, wie bereits 2001 im Artikel zu „Living Stereo“ vermerkt auch hier um High-Tech-Reissues handelt, deren originale LP-Ausgaben nicht derart gut klingen konnten wie ihre aktuellen digitalen Pendants. Thomas Fine, Sohn und Nachfolger von Wilma Cozart Fine und Bob Fine, stellt dazu im Übrigen klar heraus, dass auch die aktuell angebotenen neuen LP-Pressungen diverser Mercury-Titel von mit State-of-the-Art erstellten 192/24 digitalen Mastern geschnitten worden sind (siehe das Posting von Myles BAstor im Anhang). Das dürfte manch streng gläubigen Analog-Vinyl-Freak vermutlich ins Schwitzen bringen…

Bis auf die auf einem Datenträger vereinten Tondichtungen zu Smetanas „Mein Vaterland“ sind acht weitere CDs komplett analog zu den damaligen LP-Veröffentlichungen ausgelegt. Damit werden zugleich erstmalig sämtliche Kubelík-Mercury-Aufnahmen auf CD zugänglich, von den ersten Aufnahmesitzungen im April 1951 bis zu den letzten im April 1953. Somit ist CD 1, „Bilder einer Ausstellung“ zwar nur mit einer mageren Spieldauer von gerade mal rund 29 Minuten versehen. Aber dafür sind die Frontseiten der Papptaschen dieser neun Datenträger sehr ansprechend und nostalgisch zugleich mit den alten originalen Coverabbildungen geschmückt – ohne dass auf dem Backcover noch Zweitcover zwangsläufig im gehobenem Briefmarkenformat untergebracht werden mussten.

Ein besonderes Schmankerl bildet die als Bonus fungierende 10te CD: „Perspective, The first reel and experimental Stereo“. Darauf vertreten ist nicht nur die zuvor noch nie veröffentlichte vollständige Probeaufnahme (mit noch nicht perfekt justiertem Aufnahmemikrofon) des Bloch’schen „Concerto Grosso“, entstanden am 23. April 1951. Neben einem 1996 entstandenen, knapp 8-minütigen Interview mit Wilma Cozart Fine finden sich auch erhaltene Aufzeichnungen früher Stereo-Experimente des Toningenieurs Bert Whyte aus den Jahren 1952/53 mit Fragmenten aus allen drei Sätzen von Mozarts Prager Sinfonie sowie der kompletten Tondichtung „Tabor“ aus „Mein Vaterland“. Ein die CD-Kollektion vorzüglich ergänzendes, sehr informatives 36-seitiges Begleitheft kommt noch hinzu.

Anhang (weiterführende LINKS):

„RAFAEL KUBELÍK: Chicago Symphony Sessionography – Thomas Fine explains the background to the Kubelík Mercury Masters“ Eloquence Classics, Universal Music

„Wilma Cozart Fine & C. Robert Fine: Mercury Living Presence Recordings, Tutorial“,  Tom Fine, Tape Op, 2012

„A Fine Art: The Mercury Living Presence Recordings“, Robert Baird, stereophile, 2012.

„Recording Studio History: Fine Recording Inc: Pioneers in High-Fidelity Studio Recording: UPDATED – 5“, Chris Ruggiero, Preservation Sound, 2012.

Zur Produktion der aktuellen Mercury-LP-Pressungen, Posting von Myles BAstor, Admin im Forum von Audionirvana where „Sound Meets Music!“, 8/2021.

Tom Fine: New mercury Living Presence Analog Releases, John Seetoo, Copper Interview – Part 1, in: Copper (Magazine) 73, 12/2018, Part 2, in: Copper (Magazine) 74, 12/2018.

Hifi-Technik: Hartnäckiger Unsinn. Wie sich Falschaussagen am Leben erhalten, im zu diesem Themenkreis lesenswerten Blog der schweizer „B & W Group“.

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© aller Logos und Abbildungen bei Universal Music Australia, Eloquence Classics. (All pictures, trademarks and logos are protected by Universal Music Australia, Eloquence Classics).

Erschienen:
2021-07
Gesamtspielzeit:
459:00 Minuten
Sampler:
Mercury Living Presence Eloquence 10 CDs
Kennung:
ELQ484 3028 (Universal Music Australia)
Zusatzinformationen:
Chicago Symphony Orchestra

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