Jerry Goldsmith: „Christus Apollo“
„Christus Apollo“. Was fast schon nach einer bizarren Ökumene von Christen und Heiden klingt, ist in Wirklichkeit ein 1969 entstandener Kantatentext aus der Feder des berühmten Sciencefiction-Autors Ray Bradbury („Fahrenheit 451“, „The Illustrated Man“ etc.). Wobei das Adjektiv „bizarr“ getrost beibehalten werden kann. In dem Gedicht entwirft Bradbury nämlich eine Art euphorische Weltraum-Heilsutopie, die sich dank donnerndem Sprachpathos zwar eindrucksvoll liest, aber inhaltlich insgesamt sehr seltsam ausfällt. Das „Apollo“ im Titel steht demnach auch nicht direkt für die griechische Gottheit, sondern in erster Linie für die bahnbrechenden „Apollo“-Weltraummissionen der NASA. Die Mondlandung im Zuge der „Apollo 11“-Mission 1969 geriet damals bekanntlich zum Mediengroßereignis par excellence und entfachte international Begeisterungsstürme ungeahnten Ausmaßes. Im Dunstkreis genau dieser Hochstimmung, dieses frischen Schwunges an Selbstwertgefühl und Zukunftsoptimismus, der – nur sehr zaghaft abklingend – noch bis in die 80er Jahre hinein vorhalten sollte, wurde auch „Christus Apollo“ geschrieben.
Selbst wenn man diese Tatsache, den starken Einfluss des vorherrschenden Zeitgeistes sozusagen als mildernden Umstand miteinbezieht, darf bei einem ernstlich religiös motivierten Text doch wohl immer ein gewisses Maß an Respekt vor den darin behandelten göttlichen Dingen vorausgesetzt werden. Und genau daran mangelt es „Christus Apollo“. Der Autor treibt seine Scifi-Raumfahrt-Spielchen mit Jesus im Endeffekt einfach zu weit. Aber immerhin, es sind auch gute Ansätze vorhanden. Indem Bradbury zum Beispiel einen völligen Neuanfang der Menschheit auf irgendeinem entlegenen Planeten besingt, beweist er vorerst Treue zu seinem literarischen Hauptfach, der (geschmackvollen) Sciencefiction. In der zweiten Texthälfte wird diese fantasievoll-legitime Zukunftsvision jedoch mit einer hoffnungslos abstrusen, möglicherweise sogar fleischlich gedachten, „Auf-Auferstehung“ Jesu Christi auf jener fernen neuen Welt verbunden. Schade, denn dadurch wird rückwirkend auch der für sich gesehen nicht uninteressante Gedankengang des ersten Gedichtteils – Kann Gott uns da draußen in den Weiten des Alls schützen, herrscht dort nicht vielleicht ewige Finsternis, gottlose Einöde? – der allgemeinen Lächerlichkeit preisgegeben. Anders ausgedrückt: Der über das Ziel hinausschießende pseudo-visionäre Quatsch des Schlusses verleidet einem mitunter den gesamten Text, wodurch dem eigentlich recht ansprechenden Beginn vielleicht Unrecht getan wird.
Mit der sicher nicht ganz leichten Aufgabe, dieser wahrlich exzentrischen Textvorlage musikalisches Leben einzuhauchen, wurde schließlich niemand geringerer als Jerry Goldsmith betraut. Bradbury und Goldsmith lernten einander bereits Mitte der 50er kennen, bei der Zusammenarbeit an zwei Hörspielen im Rahmen des „CBS Radio Workshop“ (1956/1957). Das erfolgreiche Arbeitsverhältnis erfuhr seine Fortsetzung mehr als ein Jahrzehnt später, zuerst anlässlich des von Goldsmith superb musikalisch betreuten Episodenfilms The Illustrated Man (1969), kurz darauf dann in Form eben jenes Oratoriums „Christus Apollo“, das nun erstmals in annehmbarer Qualität auf Tonträger vorliegt.
Wie man sofort hören kann, stammt das Stück aus einer Zeit, in der der Komponist der Zwölftonmusik und anderen seriellen Techniken noch nicht abgeschworen hatte. Heute steht er diesen kompositorischen Ausdrucksmitteln eher skeptisch gegenüber, wobei er im Booklet-Text auch grundsätzliche Bedenken äußert, ob Dodekaphonik die passende Tonsprache für ein spirituelles Sujet wie dieses sei. Ich meine: Ja. Denn ein schräger Kosmos (mit dazu passender ziemlich schräger Auffassung der christlichen Religion), wie ihn Ray Bradbury hier skizziert, darf auch „schräg“ klingen. In diesem Sinne lässt Goldsmith in „Christus Apollo“ in 4 Abschnitten über eine Gesamtlänge von 40 Minuten ungewöhnliche Tonwelten und Klangschichtungen aus Orchester und Stimme erstehen (gemischter Chor, hier die London Voices; und Mezzosopran, hier ausdrucksstark Eirian James). Um dem Ganzen einen zusätzlichen kirchenmusikalischen Anstrich zu verleihen, kommen verschiedentlich auch Orgelklänge zum Einsatz. Die Rolle des zuweilen dezent vom Orchester begleiteten Erzählers übernimmt in der vorliegenden Aufnahme Anthony Hopkins, dessen samtstimmig distinguierter Rezitation man ungeachtet des fragwürdigen Inhalts mit Behagen lauscht. Das London Symphony Orchestra musiziert, wie nicht anders zu erwarten, auf höchstem Niveau.
Atonale Musik ist nie wirklich leicht zugänglich. Jerry Goldsmith versteht es aber, mit wiederkehrenden Motivsplittern (allen voran ein 5-Noten-Motiv auf Basis der 5 Silben von „Christus Apollo“) und dem gemäßigten Tonreihen-Idiom, das er selbst „seriellen Impressionismus“ (er hatte dabei seine Planet of the Apes-Partitur im Sinn) nennt, die Klippen des Spröden und Sperrigen weitgehend zu umschiffen. Einer der Vorzüge dieser Musik ist der permanent kreative Umgang mit dem Orchester, die seit jeher untrennbar mit dem Namen Goldsmith verbundene Freude an vielseitigen Instrumental- und Klangkombinationen (eine im Spätwerk leider viel zu selten gewordene Eigenschaft!). Als weiteres wirkungsvolles Instrument, das für viel (Klang-)Stimmung sorgt, überzeugt auch der Chor. Die Textverständlichkeit leidet freilich darunter, dass häufig in größter Gefühlsbewegung, aus voller Brust gesungen wird. Das liegt jedoch mehr in der Natur der Sache und ändert nichts an Goldsmiths unbestrittenen Fähigkeiten auf diesem Gebiet. Seine Erfahrungen mit Chor und Gesang reichen ja bis in die künstlerische Frühzeit, bis zu den Ausbildungsjahren am Los Angeles City College zurück. In den späten 40er Jahren belegte er dort zahlreiche Kurse in den Abteilungen für Lied, Chor und Oper, arbeitete sogar als Chorleiter. Am selben Institut hatte er im Rahmen der Kompositionsausbildung überdies Gelegenheit, seine seriellen Techniken, unter anderem auch in Klassen von Ernst Krenek, zu verfeinern. Dieses Know-How aus erster Hand hat später zweifellos auch die „Christus Apollo“-Partitur mitgeprägt.
Insgesamt ist „Christus Apollo“ ein durchaus hörenswertes, wenn auch klar erkennbares Kind seiner Zeit. Diejenigen, die den Scores zu Planet of the Apes, The Illustrated Man und den experimentelleren Stellen der Omen-Trilogie etwas abgewinnen können, sollten auch zu diesem Konzertwerk einen Zugang finden.
Eine durch und durch bittere Pille ist hingegen die „Music for Orchestra“ (1970), die, in zermürbender Eindringlichkeit eingespielt, den Auftakt der CD bildet. Goldsmith malt darin ein musikalisches Schreckensbild, das in seinem Œuvre in dieser kompromisslosen Ausführung wohl einzigartig ist. Das Scheitern der ersten Ehe, eine schwere Krankheit der Mutter, einfach ein in vieler Hinsicht miserables Jahr 1970: Diese negativen Erfahrungen verarbeitet der Komponist mit unsanften Zwölfton-Mitteln, türmt grässliche Dissonanz auf Dissonanz und übersteigert gegen Ende alles zu einem unerträglichen polyphonen Orchester-Ungetüm. Ein qualvoll-deprimierendes Stück Musik, technisch zum Teil beeindruckend, aber sicher nichts, was man sich jeden Tag zu Gemüte führt.
So etwas wiederum, ein süßes Zuckerl für den täglichen Verzehr, schließt das tontechnisch wie immer exzellente Telarc-Album ab: „Fireworks (A Celebration of Los Angeles)“, eine 1999 entstandene reizende, im typisch melodiebetonen Altersstil des Maestro gehaltene Komposition für großes Symphonieorchester. Der Name „Fireworks“ ist einerseits inhaltlich Programm (lebensfrohe, fröhlich-festliche Musik zu Ehren der Geburtsstadt LA), andererseits wurde die Uraufführung in der Hollywood Bowl – gleichzeitig des damaligen Jubilars Goldsmith (70 Jahre) erster Auftritt überhaupt auf dieser bekannten Freibühne – tatsächlich von einer auf die Musik abgestimmten Feuerwerksshow begleitet. Ohne den pyrotechnischen Krach offenbart sich eine schöne, sauber gearbeitete Musik, die zudem eine liebevolle Hommage an Franz Waxman, ein fanfarenartiges Hauptthema ganz im Zeichen von The Spirit of St. Louis, enthält. Ein angenehm lebensbejahender Ausklang für eine CD voll „starkem Tobak“, die unterm Strich aber doch für so manche/n interessant sein dürfte. Für erklärte Goldsmith-Freunde, die sich auch mit den wenigen Abstechern des Komponisten ins ernste Fach vertraut machen möchten, sowieso. Ebenso für all jene, die immer wieder mal gerne „ein Ohr riskieren“ und auch für Ungewohntes offen sind. Und zu guter Letzt kommen sogar etwaige reine Melodienjäger (bei „Fireworks“) auf ihre Kosten.
Verdis „Messa da Requiem“ und Benjamin Brittens „War Requiem“
Zwei große Totenmessen, herausragende Beispiele für die Musikgattung Requiem: Giuseppe Verdis (1813-1901) „Messa da Requiem“ und Benjamin Brittens (1913-1976) „War Requiem“: jedes ein Meisterwerk auf seine Art.
Verdis „Messa da Requiem“ wurde von Johannes Brahms, dem Hüter der deutschen Klassiktradition, als die Leistung eines Genies gewürdigt. Uraufgeführt im Jahr 1874, ist es eine in Teilen durchaus bildhafte und tonmalerische Musik, die z.B. den Tag des Jüngsten Gerichts („Dies Irae“) massiv und wuchtig lebendig werden lässt. Der Dirigent Hans von Bülow prägte das Schlagwort von der „Oper im Kirchengewande“. Auch wenn diese Bezeichnung Verdis Werk nicht gerecht wird, im inbrünstigen glutvollen Ausdruck, insbesondere der Chor-Passagen, ist schon ein Schuss opernhafte Theatralik spürbar. Die kraftvolle und ausdrucksstarke Musik ist z.B. in der großen Geste des „Dies Irae“ erschütternd, in anderen Teilen hingegen lyrisch und tröstend.
Der vorliegende Mitschnitt entstand am 27.1.2001 anlässlich des 100. Todestages von Giuseppe Verdi in der Berliner Philharmonie. Claudio Abbado leitete die Berliner Philharmoniker, als Solisten wirkten Angela Gheorghiu, Daniela Barcellona, Roberto Alagna und Julian Konstantinov, unterstützt vom schwedischen Rundfunkchor und dem Eric-Ericson-Kammerchor. Es wird insgesamt schön musiziert und gesungen. Claudio Abbado agiert angemessen, stellt Wuchtiges und Verinnerlichtes derart nebeneinander, dass ein überzeugender musikdramatischer Spannungsbogen entsteht. Für Freunde des Dirigenten, der in diesen Wochen Abschied als Chefdirigent der Berliner Philharmoniker nimmt und an seinen Nachfolger Simon Rattle übergibt, sicher ein willkommenes Dokument.
Die Musik dieses Konzerts ist auf DVD in konventioneller und ordentlicher visueller Abbildung (in guter Bildqualität) – und natürlich auch allein als klassische CD-Version erhältlich. Die DVD-Ausgabe hat den Vorteil, dass man ohne Unterbrechungen und wahlweise mit und ohne Bild genießen kann. Außerdem kann nur von der DVD der Ton in den Formaten AC-3-5.1, dts und außerdem als DVD-Audio (Stereo, 96-kHz) abgerufen werden.
Benjamin Brittens (1913-1976) „War Requiem“ entstand zur Neu-Einweihung der im November 1941 von der deutschen Luftwaffe zerbombten Kathedrale von Coventry. Die Uraufführung erfolgte am 30. Mai 1962.
Britten komponierte das ergreifende Werk speziell für seine Wunsch-Solisten, die zugleich den vom Zweiten Weltkrieg besonders stark betroffenen Nationen entstammen: die Sänger Peter Pears (britischer Soldat) und Dietrich Fischer-Dieskau (deutscher Soldat) sowie die russische Sopranistin Galina Wischnewskaja. Die beiden Sänger agieren vor einem Kammerorchester. Dahinter sind die Ausführenden der eigentlichen Messe platziert, die Sopranistin, der große Chor und ein voll besetztes Sinfonieorchester. Auf der dritten Ebene erklingen – entrückt, wie aus anderen Sphären herübertönend, die Ewigkeit symbolisierend – ein Knabenchor und die Orgel.
Britten hat in seinem (Anti-)Kriegsrequiem den Texten der lateinischen Liturgie die ausdrucksstarken Verse des – nur 25-jährig, wenige Tage vor dem Waffenstillstand 1918 gefallenen – britischen Dichters Wilfried Owen gegenüber gestellt. Es gelang ihm so, dies manch einem zwischenzeitlich vielleicht überholt vorkommende kirchlich-musikalische Mahnmal „Totenmesse“ neu zu beleben.
Das „War Requiem“ ist ein Werk von packender Dramatik, das den Zuhörer tief bewegt, ihn aber trotz des in Töne gefassten Schmerzes und der Trauer nicht in völliger Trostlosigkeit zurücklässt. In Brittens leidenschaftlicher, sehr individuell gestalteter Musik finden sich sparsam eingesetzte Klangausbrüche von großer Wucht neben vielen innig-zarten und lyrischen Passagen, die Versöhnung und Hoffnung zum Ausdruck bringen. Dem Hörer begegnet Vertrautes aus der Sinfonik Gustav Mahlers, wie der groß angelegte – hier in drei Ebenen gegliederte – Klangraum, aber auch tonmalerische Klischees, wie martialische Trompetenstöße und -fanfaren und damit Bildhaftes. All dies ist in der kontrastreichen und farbigen Partitur äußerst wirkungsvoll integriert. Die Tonsprache ist gemäßigt modern und dabei so gehalten, dass das Werk relativ leicht zugänglich bleibt.
Die vom Komponisten 1963 im Studio vorgenommene Einspielung ist mit verschiedenen Preisen ausgezeichnet und seit der LP-Erstausgabe mehrfach wiederveröffentlicht worden. Die zwischenzeitlich mit Hilfe modernster Digitaltechnik aufbereitete Aufnahme erklingt jetzt frischer und rauschärmer. Das somit verstärkt aufgelichtete Klangbild – der bereits in der zweiten Hälfte der 50er Jahre auf hohem technischen Standard befindlichen Decca-Aufnahmetechnik – macht das klangliche Geschehen noch besser durchhörbar. Die auf der zweiten CD erstmals beigegebenen Ausschnitte aus den Proben zur Einspielung unterstreichen den hohen Rang dieser zurecht schon legendären Aufnahme. Auch wenn man nicht jedes gesprochene Wort versteht, nicht mit jedem genannten Begriff etwas anfangen kann, dem musikalischen Laien wird trotzdem faszinierend deutlich, mit welch menschlich-warmer Ausstrahlung der erklärte Pazifist Benjamin Britten hier bei der Sache war, wie entspannt, harmonisch und auch humorvoll er mit den Mitgliedern des Ensembles zusammengearbeitet hat.
Zwei deutsche Romantiker: Robert Schumann und Johannes Brahms
Robert Schumann (1810-1856), der Romantiker und Komponist vieler berühmter Klavierstücke und Lieder, schuf seine sämtlichen Sinfonien zwischen 1841 und 1850. Bis heute sind jedoch gerade die sinfonischen Werke von einer Reihe von Vorurteilen, Legenden und Missverständnissen umgeben, die das Bild dieses Meisters der Frühromantik überschatten. Natürlich war es für Schumann und seine Zeitgenossen nicht leicht, ihren Vorsatz zu verwirklichen, eine moderne Sinfonik nach neuen Grundsätzen zu schaffen, die aus dem Schatten des übermächtigen Vorbildes Beethoven durch Eigenständigkeit heraustritt.
Im ausgehenden 19. Jahrhundert war man dazu übergegangen, auch die Werke früherer Epochen mit dem klanglich opulenten Riesenorchester der Spätromantik aufzuführen. Insbesondere aus dieser Zeit stammt die immer noch vorherrschende Meinung, der Komponist sei eher ein begabter Dilettant gewesen, der in der Umsetzung seiner musikalischen Poesie in orchestrale Formen überfordert gewesen sei – etwas das wohl auch durch Schumanns 1854 voll ausbrechende Geisteskrankheit Nahrung bekommen hat. Gustav Mahler und andere haben dementsprechend gemeint, sie müssten bei Schumanns Orchester-Werken Hand anlegen und die Orchestrierung verbessern.
Hier muss man sich aber auch verdeutlichen, dass die musikalische Aufführungspraxis im 19. Jahrhundert, in der nachnapoleonischen Ära, im Zuge eines an Bedeutung gewinnenden Bürgertums und einsetzender Industrialisierung einem ähnlich großen Wandel unterlag, wie die gesellschaftlichen Umbrüche. Nicht allein die Maestros des Taktstockes – die Dirigenten – und der Repertoirebetrieb unserer Tage begannen sich herauszubilden, auch der Orchesterapparat veränderte sich. Richard Wagner und sein Umfeld setzten den Trend zur Ausgestaltung des klassischen sinfonischen – von Mozart, Haydn und Beethoven ausgeformten – Klangkörpers eher kleinerer bis mittlerer Größe hin zum Riesenorchester der „Ring“-Opern und in Folge zu den ins übergigantische gesteigerten Werken z.B. eines Gustav Mahler, Richard Strauss und Arnold Schönberg.
Die gewaltige Steigerung der klanglichen Möglichkeiten lag aber nicht einfach nur in entsprechender Verstärkung der einzelnen Gruppen des Orchesters, sondern war ganz wesentlich in der Modernisierung des verwendeten Instrumentariums mitbegründet. (Nicht allein Mozart und Beethoven kannten bei festlichen Anlässen den Klang groß besetzter Orchester von bis zu etwa 100 Spielern. Sie bevorzugten jedoch klar die differenzierten Ausdrucksmöglichkeiten eher schlanker Ensembles.) Nicht allein die so genannten Holzbläser (z.B. Flöten, Oboe, Fagott) und Blechbläser wurden verfeinert und schließlich ganz aus Metall gefertigt, ebenso wurden Saiteninstrumente als auch Schlagwerk modernisiert, was nicht unbedeutende klangliche Konsequenzen nach sich zog. Jedes klassische Instrument seiner Gruppe unterscheidet sich geringfügig von seinem modernen Gegenstück. Die Instrumente klassischer Bauart sind im Sound nicht so geschmeidig und brillant und außerdem im Dynamikumfang deutlich eingeengter. Jedes besaß dafür jedoch eine klanglich stärker ausgeprägte markant-individuelle Note. Insbesondere die Holzbläser hoben sich deutlicher voneinander ab, die mit Darmsaiten bespannten Streicher artikulierten klagender und die kleinen mit schwerem Schlegel bedienten, noch lederbespannten Kessel-Pauken hatten einen markant trockenen Klang. Hinzu kommen Unterschiede im zeitgenössischen Interpretationsstil und damit in den stilistischen Regeln der Zeit: Hier spielen die Tempi, Tondauern sowie Bogenführung und Phrasierung eine entscheidende Rolle; etwas, was den akustischen Eindruck merklich beeinflusst. Das somit merklich andersartig klingende Resultat sämtlicher Elemente ergibt allerdings nicht in jedem Fall einen im heutigen Sinne „schönen“ Klang, vielmehr resultiert ein aufregender und spannungsvoller Dialog.
So klingt beispielsweise ein Hammerklavier der Ära Mozarts und Beethovens gegenüber einem modernen Konzertflügel merklich leiser, trockener und spröder, „funktioniert“ aber mit den Musikstücken seiner Epoche nicht nur sehr gut, ja, der klassische Hammerklavier-Sound wird hier, insbesondere nach etwas Eingewöhnung, häufig sogar reizvoller empfunden als der seines modernen Gegenstücks.
Der Dirigent John Eliot Gardiner gehört zu denen, die sich um Musik in historisierender Aufführungspraxis verdient gemacht haben. Er arbeitet mit verschiedenen von ihm gegründeten Klangformationen und ist dafür berühmt, Musik von der Renaissance bis hin zur Romantik auf restaurierten Instrumenten zu Gehör zu bringen – hingegen sind die Bezeichnungen „Original-Instrumente“ und „Original-Klang“ eher verfälschend wirkende Werbeattribute.
Gardiner hat sich auch des Falles Robert Schumann angenommen und seine sorgfältig die instrumentalen Details ausleuchtenden, rhythmisch zupackenden Interpretationen der wichtigsten sinfonischen Werke des Komponisten in einer Dreier-CD-Box vorgelegt. Das „Orchestre Révolutionnaire et Romantique“ spielt hier in einem auf ungefähr 50 Musiker reduzierten Ensemble, das in etwa den Verhältnissen des Leipziger Gewandhausorchesters in den 40er Jahren des 19. Jahrhunderts entspricht, für das Schumann seine Sinfonien erdacht und entworfen hat.
Die anmutige, zum Teil zarte und sirenenartige Wirkung und Poesie Schumannscher Musik zeigt Parallelen zu der seines Zeitgenossen und Freundes Mendelssohn Bartholdy. Schumann bevorzugte eine klare transparente Struktur des Klanges, welche die Klangfarben der einzelnen Instrumente deutlich hervortreten lässt. Die geistige Verwandtschaft zu großen Vorbildern, natürlich Beethoven, aber auch die schöpferische Auseinandersetzung mit Bach und Mozart (und dem von Schumann wiederentdeckten Franz Schubert) ist spürbar, ohne dass die Eigenständigkeit seiner Werke dadurch in Frage gestellt wird.
Von den Sinfonien Schumanns sind die mit den Beinamen „Frühlingssinfonie“ (Nr. 1) und die „Rheinische“ (Nr. 3) die bekanntesten geworden. Die von Frische, Rhythmik und Vorwärtsdrang neben strömender Melodik geprägte „Frühlingssinfonie“ ist zwar keine Programmmusik, allerdings diente Schumann als Inspirationsquelle ein Gedicht von Adolph Böttger, dessen zwei Schlussverse die romantische Stimmung des Werkes sehr schön umschreiben: „… O wende, wende deinen Lauf/Im Tal der Frühling blüht auf!“
Die „Rheinische“ ist Schumanns bekannteste Sinfonie geworden. Ein sehr eingängiges, von markanten melodischen Einfällen und neben festlichem von volkstümlich-tänzerischem Charakter bestimmtes Werk. Das Hauptthema des ersten Satzes ist nicht allein klares Vorbild James Horners in seinem Hauptthema zu Willow, es dient (wie auch das des zweiten Satzes) traditionell als Intro für verschiedene nordrhein-westfälische Regional-Magazine in Rundfunk und Fernsehen (z.B. „Hier und Heute“). Dass Gustav Mahler die „Rheinische“ sehr geliebt hat, zeigt sich auch darin, dass er im Finale seiner ersten Sinfonie auf die ausdruckstarke Schlusswendung im letzten Satz der Rheinischen anspielt.
Die zweite Sinfonie entstand unter dem Eindruck der ebenfalls von Schumann entdeckten und mit Hilfe Mendelssohns in Leipzig uraufgeführten „großen“ C-Dur-Sinfonie von Franz Schubert. Sie gilt heutzutage als das wohl bedeutendste Werk im Schaffen des Komponisten.
In Schumanns vierter Sinfonie gehen die vier Sätze nahtlos ineinander über. Diese „Sinfonie in einem Satz“ ist sowohl in der ersten – von Brahms bevorzugten – Fassung von 1841 als auch in der – von Clara Schumann eindeutig protégierten – Zweitfassung von 1851 eingespielt. Wobei sich die Erstfassung von der im Klang dichteren und etwas schwerfälligeren späteren Version durch Transparenz und anmutige Bewegung abhebt: Der Hörer kann sich hier sein eigenes Urteil bilden.
Darüber hinaus bietet das 3er-CD-Set noch einige reizvolle Zugaben: Den unvollendeten sinfonischen Erstling, die „Zwickauer Symphonie“, „Ouvertüre, Scherzo und Finale“ sowie ein „Konzertstück für vier Hörner und Orchester“. Im Konzertstück F-Dur erprobt der Komponist die solistischen Möglichkeiten der damals neuartigen Ventilhörner vor dem Hintergrund eines Sinfonieorchesters. Das gegenüber dem klassischen Naturhorn deutlich vielseitiger und geschmeidiger agierende Ventilhorn, mit dem der „Märchenton“ von scheinbar aus großer Ferne herüberklingenden warmen Soli erst in Vollendung möglich wurde, ist bis heute Inbegriff von Romantik in der Musik geblieben.
Johannes Brahms wurde 1833 in Hamburg geboren, er starb 1897 in Wien. Durch einen lebenslangen Freund, den Geiger Joseph Joachim, lernte er Franz Liszt und Robert und Clara Schumann kennen. Robert Schumann war vom Talent des jungen Künstlers beeindruckt, wurde zum Freund und Förderer. Sein Aufsatz „Neue Bahnen“ in der von ihm in Leipzig gegründeten „Neuen Zeitschrift für Musik“ wurde zum Ausgangspunkt von Brahms Aufstieg.
Brahms zählt heutzutage zu den ganz großen Sinfonikern seit Beethoven und lebte wie dieser lange in Wien, wo beide auch begraben liegen. Erst spät wagte er sich an die große Form der Sinfonie und bereicherte diese Gattung mit vier meisterlich-vollendeten Werken. Mit großem Formgefühl suchte er in den klassischen Formgerüsten den romantischen Überschwang seiner Epoche zu zügeln. So wurde er von dem berühmten Wiener Musikkritiker Eduard Hanslick – Todfeind Richard Wagners – zum Gegenpol und „Neoklassiker“ aufgebaut. Die Bestrebungen der fortschrittlichen „Neudeutschen“ des Kreises um Wagner (Hector Berlioz und Franz Liszt) zur Programm-Musik hatten ein Aufweichen und Bröckeln der traditionellen Musikformen wie Sinfonie und Konzert im Gepäck – was in Folge hin zur Atonalität, 12-Ton- und Neuen Musik führte. Den „Brahmsianern“ um Hanslick schien der Weg der „Wagnerianer“ ins Chaos und damit die Musik ins Verderben zu führen. Brahms selbst stand allerdings den heutzutage allein noch musikhistorisch bedeutsamen heftig emotional-leidenschaftlichen Auseinandersetzungen beider Gruppen gleichgültig gegenüber.
In der brahmsschen Sinfonik bilden grüblerisch-melancholische, verträumte und innig-lyrische Elemente, gekoppelt mit meisterlich verarbeiteter Polyphonie, die der Komponist von den barocken Meistern erlernte, eine kongeniale Einheit – die schöpferische Auseinandersetzung mit der Vergangenheit findet sich bei Brahms also in ähnlicher Form wie auch bei Schumann. Die sinfonischen Werke sind eine kontrapunktisch perfekte Synthese aus Klassik und Romantik und damit etwas, das in keiner ordentlichen klassisch-musikalischen Hausapotheke fehlen darf.
Dies gilt aber auch für die beiden melodie- und poesiegetränkten Serenaden, beides weniger bekannte Kleinodien der Orchesterliteratur. Die 1858 und 1859 entstandenen leicht fasslichen Werke sind in ihrer Unbeschwertheit, Leichtig- und Sorglosigkeit ein musikalisches Spiegelbild für eine besonders glückliche Periode im Leben des jungen Brahms.
Das 3er-CD-Set von Telarc bietet neben den Sinfonien als Zugaben noch die bekannten „Haydn-Variationen“ und die seinerzeit für Puristen (ob ihrer Fülle an zitierten Studentenliedern) schockierende, „Akademische Festouvertüre“ – eine reizende kleine Gelegenheitskomposition. Obendrauf gibt’s noch eine Alternativ-Version des langsamen Satzes der 1. Sinfonie (in der vorläufigen Fassung), die sich merklich von der endgültigen (heutigen) Druckversion unterscheidet, was einen interessanten Blick in die Komponistenwerkstatt ermöglicht. Aber das ist noch nicht alles: Als quasi verborgene Zugabe enthält die Box noch eine nicht ausgewiesene vierte CD, auf der Charles Mackerras von Alyn Shipton im Rahmen eines rund 36-minütigen Interviews zum Brahms-Zyklus befragt wird.
Auch vor dem an sinnfälliger Melodik reichen Oeuvre des Johannes Brahms hat das Kino nicht Halt gemacht. So tauchen nicht nur das jeweils lyrische Thema aus dem Finalsatz der 1. sowie dem dritten Satz der 3. Sinfonie und auch die grüblerisch-melancholische Melodie des Kopfsatzes der 4. adaptiert (nicht allein) in Hollywood-Musiken auf. Als Beispiele seien hier nur die zum Teil süßlich kitschigen Melodrammusiken Frank Skinners zu Magnificent Obsession • Die wunderbare Macht (1953) und Madame X (1965) genannt.
Der Dirigent Charles Mackerras ist für seine Brahms-Einspielungen den Fragen einer historisch korrekten Aufführungspraxis sorgfältig nachgegangen. Neben den bereits bei Schumann angerissenen klanglichen Konsequenzen aus Veränderungen beim Bau der Instrumente, liegen die wichtigsten Unterschiede zwischen damals und heute auch hier in der Spielweise (insbesondere der Streicher, wobei damals erste und zweite Violinen getrennt rechts und links vom Dirigenten einander gegenüber saßen, was interessante Effekte ergibt), aber ebenso spielt die Größe des Ensembles eine nicht unwichtige Rolle. Auch Brahms (s.o.) bevorzugte eher Klangkörper mittlerer Größe und wählte daher für die Uraufführung seiner ersten Sinfonie 1876 das Karlsruher Orchester, mit seinen für die damalige Zeit eher bescheidenen 49 Spielern. Und von 1880 an entwickelte er eine Vorliebe für das gleich große Hoforchester in Meiningen. Er schätzte insbesondere die Interpretationen des Dirigenten Fritz Steinbach, der seit 1886 das Meininger Orchester leitete.
Die eingehenden Erläuterungen im Booklet unterstreichen das Bemühen, dem von Brahms bevorzugten Interpretationsstil und dabei auch den damaligen Hörgewohnheiten möglichst nahe zu kommen. Charles Mackerras und das geschmeidig und virtuos agierende Schottische Kammerorchester liefern – unterstützt durch eine hervorragende Aufnahmetechnik – eine sehr nuancierte, dabei ungewöhnlich schlank und luftig klingende, bis ins Detail kristallklar durchhörbare Interpretation dieser bekannten Musik, die vom Gewohnten merklich absticht. Aufnahmen, die – wie auch die oben vorgestellten zu Schumann – kaum als einzig wahre Darstellung dieser Musik missverstanden werden sollten, sondern vielmehr etwas für aufgeschlossene und entdeckungsfreudige Hörer sind. Dies gilt gleichermaßen für Brahms-Kenner und für Einsteiger.
Antonín Dvořák
Der tschechische Komponist Antonín Dvořák (1841-1904) war einer der vielseitigsten und bekanntesten Vertreter der tschechischen nationalen Schule. Dank der Fürsprache von Johannes Brahms erlangte er internationale Anerkennung, worauf sich eine noble lebenslange Künstlerfreundschaft entwickelte.
Die zwei jeweils achtteiligen Zyklen „Slawische Tänze“ Opus 46 & 72 entstanden auf Anregung des weltweit einflussreichen Berliner Verlegers Fritz Simrock als eine Art Pendant zu den „Ungarischen Tänzen“ von Johannes Brahms. Im Gegensatz zu den Stücken von Brahms, die teilweise bearbeitete ungarische Tanzweisen enthalten, übernahm Dvořák allein charakteristische rhythmische Muster der Tänze und komponierte ansonsten frei im slawischen Idiom eigene mitreißende Melodien. Beide Zyklen gehören zum Populärsten des Komponisten und sind unmittelbar eingängig; der erste begründete seinen internationalen Durchbruch.
Nikolaus Harnoncourt ist in Böhmens Hain und Flur schon länger auf Spurensuche gegangen und hat sich den bereits x-fach eingespielten populären Werken abseits der ausgetretenen Pfade genähert und zuvor weniger geläufige Werke des tschechischen Komponisten studiert und eingespielt. So verlässt sich die vorliegende unsentimentale Interpretation nicht einfach auf die schon abgedroschenen zündenden Effekte. Sie legt vielmehr die Fülle raffinierter Ideen in der mitunter verführerisch einfach scheinenden Tonsprache offen, macht damit den hier oft übersehenen großen Meister erkenn- und spürbar. Die abgedroschenen Stücke klingen unverbraucht und erstrahlen somit in frischem Glanz.
Alexander von Zemlinsky
Der vom Kölner Generalmusikdirektor James Conlon als Großvater Hollywoods bezeichnete österreichische Komponist Alexander von Zemlinsky wurde bereits in „Keine Angst vor der Musik des 20. Jahrhunderts!“ eingehender vorgestellt. Conlon beschließt seinen Zemlinsky-Zyklus jetzt mit dem wohl bekanntesten Werk des Komponisten, der „Lyrischen Symphonie“ in bewährt guter interpretatorischer wie aufnahmetechnischer Qualität. Soile Isokoski (Sopran) und Bo Skovhus (Bariton) deklamieren mit sauberer, kraftvoller Intonation und werden vom Gürzenich-Orchester Kölner Philharmoniker adäquat begleitet.
Nach der Uraufführung in Prag 1922 waren die Kritiker schnell mit dem Vorwurf des Epigonentums bei der Hand, schienen doch die Ähnlichkeiten zu Mahlers „Lied von der Erde“ allzu offensichtlich. Dabei wurde aber übersehen, dass dieses Werk in einer Zeit radikaler musikhistorischer Umbrüche zwar zweifellos ein klares Bekenntnis zur Tradition war, keinesfalls jedoch einfach ein überlebtes Mahler-Plagiat ist. Vielmehr handelt es sich um eine sehr persönliche, eigenwillige und grenzüberschreitende Synthese aus Sinfonie und Orchesterlied, die sich bei eingehenderem Hören von Mahler deutlich abgrenzt; etwas Eigenständiges von ganz eigener Atmosphäre, geprägt von Wärme und zugleich Entrücktheit. Die klangsinnlich, schillernd-schwebend wirkende abwechslungsreiche Tonsprache ist bis zur stark erweiterten Tonalität (und damit bis zum Äußersten) gedehnt, ohne dabei den letzten Schritt hin zur Atonalität des Freundes Arnold Schönberg mitzuvollziehen. Ergreifend schön ist der melancholisch-abgeklärte, innig-warme Schlussgesang: „Friede mein Herz, lass die Zeit für das Scheiden süß sein …“.
Die als Zugaben vertretenen Vor- und Zwischenspiele aus den Zemlinsky-Opern „Sarema“, „Es war einmal“, „Kleider machen Leute“, „Der Kreidekreis“ und „Der König Kandaules“ erhöhen den Reiz dieser Veröffentlichung. Die bislang fast ausschließlich im Rahmen der Opern zugänglichen Stücke spiegeln 40 Jahre wechselnder Stile und Tendenzen der Operngeschichte wider und sind dabei besonders leicht zugänglicher Beleg des Könnens (und machen hoffentlich viele Hörer neugierig auf mehr) des Musikdramatikers Zemlinsky. Geradezu Ohrwurmcharakter haben hierbei die walzerseligen Zwischenspiele aus der Märchenoper „Es war einmal“ und der hintergründigen Komödie „Kleider machen Leute“.
Unterm Strich also ein sehr schönes und besonders geschickt zusammengestelltes Zemlinsky-CD-Album, das auch allein, aber besonders zusammen mit der spätromantischen Tondichtung „Die Seejungfrau“ ein reizvolles Doppel zum Einstieg in das Oeuvre eines faszinierenden Komponisten des Überganges bildet.
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