Kleine Klassikwanderung 44: „Herbert von Karajan zum 100. — Maestro am Dirigentenpult und vor der Kamera“
Das jüngst abgeschlossene Jahr 2008 war (unter anderem) auch ein Jubiläumsjahr für den Dirigenten Herbert von Karajan. Von Karajan zu lesen, er sei einer der berühmtesten Dirigenten gewesen, erscheint fast schon abgedroschen. Allerdings ist der Wahrheitsgehalt dieser Aussage besonders hoch. Hat doch gerade er, Karajan, es verstanden wie keiner vor ihm, sich und seine Kunst multimedial ins Rampenlicht zu setzen und damit auch die Rezeption von klassischer Musik mit zu prägen. Vieles hat Karajan, der eines der folgenreichsten Phänomene der Musikgeschichte war, heutigen Shootingstars wie Gustavo Dudamel quasi vorgemacht.
Bereits mit 27 wurde er Generalmusikdirektor in Aachen, womit, nach den fünf freilich für seine Entwicklung wichtigen „Galeerenjahren“ am Stadttheater in Ulm, sein Aufstieg begann. Während der NS-Ära war er zweifellos opportunistisch, aber nicht wirklich ein Liebling der Nazis. Um deren Gunst hat er auch erheblich weniger gebuhlt als andere, hat sich in jenen Jahren wohl auch nicht in nennenswertem Umfang mitschuldig gemacht. Die für ihn eher kargen Kriegsjahre und der Zusammenbruch 1945 konnten seine Karriere nur kurzzeitig bremsen. Bereits im Januar 1946 nahm der legendäre Musikproduzent Walter Legge in Wien mit Karajan Kontakt auf und schon im September desselben Jahres startete die Liaison mit der britischen EMI in Form erster Aufnahmen mit den Wiener Philharmonikern. Bereits 1948 war Karajan praktisch wieder voll im Geschäft, wurde 1956 auf Lebenszeit (!) Chefdirigent der Berliner Philharmoniker und 1959 entstanden die ersten Einspielungen auf dem berühmten Gelblabel „Deutsche Grammophon“, das bald darauf zum Hauslabel des Maestros avancierte.
Das vorherrschende Karajan-Bild ist immer noch von vielen Klischees bestimmt, was aus dem stark polarisierten Meinungsbild resultiert, welches sein Werk bis heute hervorruft. Da ist beispielsweise die Aura des Abgehobenen, die nicht zuletzt durch die spezielle Ästhetik der Fotografien Siegfried Lauterwassers bereits in den 50er-Jahren mit begründet worden ist. Das weit verbreitete Bild des mit geschlossenen Augen versunken dirigierenden Maestros war Teil von dessen Selbstinszenierung. (Als sehr gewöhnungsbedürftig bezeichneten selbst Orchestermusiker, z. B. des Philharmonia-Orchesters, diese Attitüde.) Gefördert wurde besagte übertrieben weihevolle Aura noch durch die ebenfalls seit den 50er-Jahren zum generellen Slogan avancierte Schlagzeile der geradezu euphorischen Kritik Edwin von der Nülls zur 1938er Tristan-Aufführung in der Berliner Staatsoper: „Das Wunder Karajan“.
Nicht allein der auf LP-Covern oftmals gegenüber der präsentierten Musik in übergroßen Lettern erscheinende Name Karajan wirkte überzogen. In den 50er und 60er Jahren bevorzugte er dabei zweifelsfrei narzisstische Posen, nahm allerdings in den 70ern davon klar Abstand; ein Umstand, der jedoch weniger geläufig ist. Zweifellos war Karajan ein leidenschaftlicher Künstler, dabei mitunter sicher auch ein unerbittlich streng seinem Kunstideal von der Schönheit des Klanges fanatisch zustrebender Tyrann — etwas, was ihm indirekt bereits die Entnazifizierungskommission 1947 bescheinigte. Auf der anderen Seite präsentierte er sich über die Regenbogen-Presse mondän: als Playboy und Jet-Set-Typ an der Seite schöner Frauen, ausgestattet mit einer Jacht in Saint Tropez.
Im Zuge der Wandlungen, ausgelöst durch die 68er Studenten-Revolte, war Herbert von Karajan als Hofierter des bundesdeutschen Kulturbetriebs einer der Vertreter des verhassten Establishments, der ins Fadenkreuz derjenigen geriet, die mit dem 1000-jährigen Muff unter den Talaren abrechnen wollten. Durch seinen Opportunismus während der NS-Ära bot er natürlich Angriffsfläche für nicht immer nur sachlich vorgebrachte Kritik in den Kulturfeuilletons.
So manches, was es selbst nach seinem Tod über ihn zu lesen gab, war allzu negativ, mitunter noch vom erbitterten Streit mit „seinen“ Berliner Philharmonikern oder auch den besonders in den frühen 80ern erneuerten NS-Vorwürfen bestimmt. Das in Teilen verzerrte Bild vom multimedialen Megastar, das im Bewusstsein vieler immer noch prägend wirkt ist trügerisch und sollte nicht dauerhaft den Blick auf das zweifelsfrei Wertvolle im Phänomen Karajan verstellen. Jetzt, zum 100. Geburtstag und mit 20 Jahren Abstand seit seinem Ableben, ist es an der Zeit, manches wieder gerade zu rücken, auch überzogene Kritik zu korrigieren, freilich ohne dass man sich alles vorbehaltlos schön „hören“ muss. Im Folgenden sind Sie eingeladen zu einer kleinen Wanderung durch eine subjektive Auswahl aus dem derzeit besonders üppig verfügbaren Karajan-Vermächtnis.
Die „Karajan-Labels“ DG und EMI haben sich zum Jubiläum besonders gut aufgestellt. So hat die EMI sämtliche ihrer Karajan-Aufnahmen in zwei riesigen CD-Boxen „The Complete EMI Recordings“ mit insgesamt 158 CDs zum Schnäppchenpreis zusammengefasst. Ganz soweit ist Universal-DG zwar hierzulande bislang nicht gegangen, aber neben einem umfangreichen Backkatalog („Karajan 2008 — Gesamtkatalog“) war bereits im Vorfeld des Jubiläums am 5. April 2008 auch eine Reihe bemerkenswerter Neuveröffentlichungen zu verzeichnen. (Interessanterweise ist ausschließlich in Japan, wo Karajan sich immer besonderer Wertschätzung erfreuen durfte, derzeit eine DG-Komplett-Box mit 240 CDs erhältlich: „Karajan Complete DG recordings“, JPN-UCCG-90001.)
Insbesondere wären zu nennen: Die Decca-Box „Karajan — Legendary Decca Recordings“ (478 0155) mit sämtlichen Aufnahmen Karajans mit den Wiener Philharmonikern auf 9 CDs, entstanden zwischen 1959 und 1965. Zu den besonderen Perlen der feinen, auch klangtechnisch vorzüglichen Decca-Kompilation gehören Haydns „Londoner Sinfonie“, Dvořáks „Sinfonie Nr. 8“ oder auch die mitreißende erste Einspielung des Dirigenten der Holst’schen Tondichtung „Die Planeten“ — mit einem außergewöhnlich dramatisch gestalteten „Mars“. Ebenso vertreten sind einige bemerkenswerte Richard-Strauss-Interpretationen: „Don Juan“, „Tod und Verklärung“, „Till Eulenspiegel“ sowie „Salomes Tanz“ in einer Darstellung von mitreißender Energie. Dafür ist die 1959er Aufnahme von „Also sprach Zarathustra“ in Teilen etwas blasser geraten. Immerhin verwendete Stanley Kubrick die knackig gespielte Eröffnungsfanfare in 2001 — Odyssee im Weltraum (1968).
Der Decca-Box steht als eine Art Pendant das 10-CD-Set des Karajan-Hauslabels DG „Karajan — Master Recordings“ (DG 477 7155) zur Seite, das ausgewählte Einspielungen mit den Berliner Philharmonikern sowie den Wiener Symphonikern aus dem Zeitraum von 1959 bis 1979 präsentiert (auch einzeln erhältlich). Dieses Set wartet unter anderem mit einer faszinierenden, sehr gut klingenden 1959er Stereo-Einspielung der Strauss’schen Tondichtung „Ein Heldenleben“, der viel gerühmten Aufnahme von „La Mer“ (Debussy, 1964), dem rassig aufgespielten Ravel’schen „Boléro“ (1966), dem nuanciert vorgetragenen Konzert für Orchester (1966) von Béla Bartók, tief empfunden wirkenden Schubert-Einspielungen (Sinfonien Nr. 8 & 9) oder auch dem klangschön und feinfühlig ausmusizierten 1. Klavierkonzert mit Swjatoslaw Richter sowie den „Rokoko-Variationen“ mit Mstislaw Rostropowitsch (beide Tschaikowsky) auf. Besonders zu begrüßen ist darunter aber auch das abwechslungsreiche, geschmeidig und mit superbem Ausdruck musizierte Album „Opera Intermezzi“. Besser dargeboten dürfte man diese reizenden Zugabestücke, wie das „Intermezzo aus Notre Dame“ (Franz Schmidt), anderweitig kaum zu hören bekommen.
Des Weiteren ist ein erstes Hörbuch zum Thema erhältlich: Richard Osbornes „Karajan — Mensch und Mythos“ (DG 480 0365, ISBN 978-3-8291-2108-8) beleuchtet zum Teil wenig bekannte Facetten des Dirigenten Karajan interessant und unterhaltsam zugleich, wenn auch ohne kritische Anmerkungen — gesprochen von Joachim Król, unterlegt mit musikalischen Auszügen. Das hörenswerte „Audiobook“ ist denkbar gut geeignet, den Hörer auf die Lektüre von Richard Osbornes erstmalig 1998 erschienener Biografie „Herbert von Karajan — Leben und Musik“ (ISBN 978-3423344777) neugierig zu machen. Erfreulicherweise ist dieser Klassiker der Karajan-Biografien seit dem Frühjahr 2008 bei dtv ungekürzt wieder zugänglich, in einer mit 1053 Seiten freilich fetten „Taschenbuchausgabe“. Osbornes überaus gehaltvolle Darstellung ist mittlerweile keineswegs überholt. Das elegant geschriebene, fesselnd zu lesende Buch beschreibt den Lebensweg des Dirigenten erfreulich sachlich und sehr detailliert im Spannungsfeld zwischen Politik und Kunst, wobei auch Material aus bis dahin unbekannten Quellen verwertet worden ist. Der Autor schätzt den Maestro, aber er lobhudelt nicht. Dank umfangreicher eigener Recherchen ist es Osborne unter anderem gelungen, den vereinzelt immer noch kursierenden Vorwurf, Karajan sei gleich zweimal in die NSDAP eingetreten, als Falschmeldung zu entlarven.
Dagegen sind die Erinnerungen der Witwe Eliette von Karajan in der bei Ullstein erschienenen Autobiografie „Mein Leben an seiner Seite“ (ISBN 978-3550087226) primär ein nostalgisches Leichtgewicht, dessen Lektüre kaum essentiell neuartige Erkenntnisse vermittelt. Zwar ist das Buch recht kurzweilig zu lesen. In seinem mitunter schwelgerischen Tonfall mutet es aber schon ein wenig wie Regenbogenpresse an. Damit beim Lesen die richtige Stimmung aufkommt, hat die DG mit „Mein Leben an seiner Seite — Meine Lieblingsaufnahmen“ (DG 477 7541) den dazu passenden Doppel-CD-Sampler zusammengestellt. Und noch ein weiteres Doppel-CD-Set ist als Schnupper-Sampler mit Best-of-Touch im Angebot: „Karajan Gold“ (DG 480 0778).
Eine weitere, ebenfalls ansprechende Hommage liefert die 3-CD-Box „Christa Ludwig — Meine Dirigenten“ (DG 442 9975), in der sich die berühmte Mezzosopranistin, die 2008 ihren 80. Geburtstag feierte, humorvoll an ihre Zusammenarbeit mit Herbert v. Karajan, Leonard Bernstein und Karl Böhm erinnert.
Hilfreich bei der Annäherung an Mensch und Mythos Karajan ist die verschiedentlich im TV gezeigte und auch auf DVD erhältliche neue Dokumentation Karajan — oder Die Schönheit wie ich sie sehe (DG DVD 073 4392). Regisseur Robert Dornhelm entwirft über rund 92 Minuten ein lebendiges, vielschichtig schillerndes Bild dieser widersprüchlichen Persönlichkeit. Momentaufnahmen von Proben, Konzertauftritten sowie Dokumentarmaterial aus Wochenschauen etc. werden interessant ergänzt und kontrastiert mit Anmerkungen von Zeitzeugen, wie Helmut Schmidt, Christa Ludwig oder auch Sir Simon Rattle. Dass Dornhelm dabei viel bislang noch nicht gezeigtes Bild- und Interviewmaterial verwendet, macht sein Porträt auch für den sehenswert, der die früheren Karajan-Dokus bereits kennt.
Karajan besaß ein Gespür für Prunk in Musik und kombinierte dies mit seinem Ideal von Reinheit und Schönheit in der Ausführung. Recht häufig ist im Zusammenhang mit der Karajan’schen Neigung zum Schönklang von der polierten, glatten und damit langweiligeren Oberfläche zu lesen. Karajans Präzision, ein Dirigat in den Zeitmaßen ungewöhnlich exakt wiederholen zu können, wurde als statisch interpretiert, er wiederhole nur und variiere sich nicht. Besonders die späteren Dirigate seien entsprechend weniger überzeugend als die aus früheren Jahren. Gerade in der relativen Häufigkeit, wie man diese Feststellung(en) zu lesen und/oder zu hören bekommt, erscheint sie mir stark übertrieben. Hier besteht Gefahr, gerade die späteren Interpretationen pauschal abzuwerten.
So ließ Karajan 1973 den Sinfonien Nr. 2 und 3 („Liturgique“) Arthur Honeggers m. E. mustergültige Interpretationen zuteil werden (DG 447 435-2). Weder der spröde, fast schon Herrmanns Psycho nahe stehende Streicherklang in der 2. noch das nach turbulenten Kriegsreflexionen so verklärt und friedlich ausklingende Finale „Dona nobis pacem“ der 3. verdienen Bezeichnungen wie „glatt“.
Sicher sind manche seiner Sinfonien-Einspielungen, z. B. die von Beethoven oder Mozart, weitab von den musikhistorischen Erkenntnissen historisierender Aufführungspraxis angesiedelt: Sie sind vielmehr aus sehr romantisierter Perspektive betrachtet und mit einem groß dimensionierten Orchesterapparat von mitunter über-Mahler’schen Dimensionen umgesetzt. Das ist — besser war — etwas, was den Autor dieses Artikels, neben der abgehoben und elitär anmutenden Attitüde des Dirigierens, geraume Zeit sehr irritiert und gegenüber dem Maestro eher auf Distanz gehalten hat. Mittlerweile sehe ich das aber merklich lockerer. So manche dieser mitunter etwas übermäßig klangschwelgerischen Darstellungen vermögen mich auf ihre Art inzwischen durchaus zu überzeugen; freilich ohne dass ich sie ehedem lieb gewonnenen Interpretationen generell vorziehe. Wer sich hier eingehender beschäftigen möchte, für den ist die im Oktober 2008 erschienene 38-CD-Box „Karajan — Symphony Edition“ (DG 477 8005) gemacht. Für nahezu unschlagbare rund 1,30 pro CD vereint die Box Sinfonien-Zyklen zu acht Komponisten: Beethoven (Aufnahmen 1975-1977), Brahms, Bruckner, Haydn (Pariser & Londoner Sinfonien), Mendelssohn, Mozart (späte Sinfonien), Schumann sowie Tschaikowsky.
So manches davon erweist sich m. E. nicht als derart statisch und glatt geraten, wie es sich in verschiedenen Kommentaren liest. Das gilt auch für den hier vertretenen dritten Zyklus der Beethoven-Sinfonien, entstanden 1975-1977. Dort gibt es nicht nur eine vorzüglich impulsive Neunte, sondern auch eine, abgesehen vom aus heutiger Sichtweise zu langsam und pathetisch erscheinenden Trauermarsch, straff rhythmisierte „Eroica“ sowie „Schicksalssinfonie“ und ebenso eine sehr stimmungsvolle „Pastorale“. Ob sich die Genannten vor dem hoch gelobten 60er-Jahre-Zyklus doch eher verstecken müssen, möge jeder für sich herausfinden. Auch Bruckner wird angemessenen zelebriert. Die 4. ist vielleicht etwas zu überbordend romantisch geraten, aber z. B. die Feierlichkeit im 2. Satz der 7., dem Trauer-Adagio zum Tode Richard Wagners, ist exzellent herausgearbeitet. Entsprechendes gilt für den 4. Satz der „Rheinischen Sinfonie“ Schumanns. Mozart und Haydn erstrahlen zwar in gewissem Sinne in sattem CinemaScope-Sound. Trotzdem wirken die Interpretationen überwiegend eher frisch, kaum altbacken. Karl Böhms Mozart erscheint dagegen merklich traditioneller und konservativer.
Karajan war Technikfreak und Visionär, einer, der sich nicht zuletzt für die möglichst frühzeitige Einführung des digitalen Tonträgers CD eingesetzt hat. Nicht nur in der Technikbegeisterung ähnelte er seinem Kollegen Leopold Stokowski, der bereits 1940 in Walt Disneys Fantasia (1940) mit revolutionärem Stereo-Sound überraschte. Die den Reigen dieses Films eröffnende „Toccata und Fuge“ BWV 565 porträtiert dabei zuerst das Orchester und seinen Dirigenten. Möglicherweise hat dies Karajan sogar mit dazu inspiriert, ein Pionier in Sachen Konzertdirigent vor der Filmkamera zu werden. In den auf Film bzw. Video festgehaltenen Aufführungen wird Karajans Sehnsucht nach Perfektion besonders deutlich. Georg Wübbolts mit dem „Czech Crystal-Prize“ ausgezeichnete Dokumentation Maestro for the Screen • Filmstar Karajan (Arthaus DVD 101 459) ist die erste Dokumentation, die sich exklusiv diesem Thema widmet und vermittelt entsprechend umfassende Einblicke.
Besonders die Anfang der 80er-Jahre langsam im Aufschwung befindliche Videotechnik in Kombination mit dem großen Bruder der Compact Disc (CD), die bereits 1982 — also noch ein Jahr vor der CD — eingeführte Bildplatte oder Laserdisc, hatte es dem Maestro angetan. 1982 gründete er seine eigene Produktionsfirma Télémondial, mit der er bis zu seinem Tode 45 Videoproduktionen fertigstellte. Weggefährten berichten über nicht nur die Eigenwilligkeiten so mancher Inszenierung. Auch das Fragwürdige bleibt nicht ausgespart: Neigte der Macher Karajan doch auch dazu, seine Filme durch nachträgliche Bearbeitungen zu entstellen. Letztlich gehören wohl gerade diese, damals als zukunftsweisend angesehenen Produkte Karajan’scher Ästhetik zu denen, welche — von wenigen Ausnahmen abgesehen — die meiste Patina angesetzt haben.
Dabei belegen gerade die wenigen dokumentierten Probenarbeiten, mit welcher Feinsinnigkeit, Intensität und Detailversessenheit der Dirigent beim Einstudieren zu Werke gegangen ist. Henri-Georges Clouzot, mit dem Karajan übrigens einige seiner besten Filme realisierte, hat dazu zwei Beispiele auf bestechende Art in Schwarz-Weiß festgehalten. Probe und Aufführung von Schumanns Sinfonie Nr. 4 (November 1965) und Beethovens Sinfonie Nr. 5 (Januar 1966), Herbert von Karajan in Rehearsal and Performance (EuroArts DVD 2072118). Erst kürzlich hat Universal dazu die offenbar nur als Teilmitschnitt erhalten gebliebenen 30 Minuten der Proben zur 9. Sinfonie im Rahmen des zweiten Beethoven-Sinfonienzyklus (eingespielt im Oktober 1962) erneut zugänglich gemacht. Die Doppel-CD-Box der Reihe „Deluxe Edition“ (DG 477 7568) bietet außerdem die komplette 9. sowie die 8. Sinfonie — beide übrigens in klangtechnisch erstklassig aufgefrischter Qualität.
Unter den in erklecklicher Anzahl auf DVD erhältlichen Karajan-Filmproduktionen möchte ich an dieser Stelle nur die 1978er Aufnahme von „Das Rheingold“ (DG DVD 00440 073 4390) erwähnen, übrigens die einzige von Karajans Ring-Inszenierungen von den Salzburger Osterfestspielen, die auf Video erhältlich ist. Zwar ist längst nicht alles einfach perfekt, auch ein paar videotechnische Kompromisse sind unbefriedigend, aber die abseits moderner/modernistischer Kargheit angesiedelte Opulenz in der visuellen Gestaltung sowie die einfallsreiche Lichtregie machen die DVD zu einem besonders sehenswerten Dokument. Die musikalischen Qualitäten mögen manchen auch auf die ähnlich gelagerte, im Vergleich zur mitreißend-wuchtigen Solti-Decca-Einspielung fast kammermusikalisch transparent wirkende Ring-Gesamteinspielung mit den Berlinern der DG (siehe Karajan-Katalog) neugierig machen.
Die häufiger faszinierende Wirkung von Karajans Klangästhetik, die Eleganz und Perfektion sind besonders unmittelbar bei orchestralen Paradestücken erfahrbar: „Scheherazade“ (DG The Originals 463 614-2), wobei die beiden Tschaikowsky-Zugaben, das „Capriccio Italien“ und die „Ouvertüre Solenelle 1812“, durch die Leuchtkraft, den Glanz, nicht nur der Bläser, ebenso packend sind wie die im Zentrum stehende, effektvoll und zugleich charmant musizierte Rimsky-Korsakoff-Komposition. „Respighi: Römische Brunnen, Römische Pinien“ (DG The Originals 449 724-2) ist vergleichbar überzeugend, wobei hier die intimeren, ebenso kompetent gegebenen Zugaben (Boccherinis „Quintettino“ sowie Albinonis berühmtes „Adagio g-moll“) mit der Opulenz der Tondichtungen Respighis reizvoll kontrastieren.
Wer von den vorstehenden Einspielungen ähnlich beeindruckt wird wie der Autor, der sollte vielleicht auch mal ein Tänzchen wagen. Der Maestro besaß nämlich spürbar ein besonderes Händchen für tänzerische Musik, auch abseits seiner geläufigen Strauß-Aufnahmen. Die prall gefüllten Kompilationen „Famous Ballet Music“ (2 CDs, DG 459 445-2) sowie „Aufforderung zum Tanz“ (DG 474 617-2) vermitteln davon einen Eindruck. Da ist es schon etwas schade, dass der Maestro von den großen Balletten praktisch ausnahmslos die geläufigen Suitenkompilationen aufgenommen hat. Eine der raren Ausnahmen findet sich übrigens in der bereits vorgestellten Decca-Box „Karajan — Legendary Decca Recordings“ (s. o.) mit Adolphe Adams „Giselle“.
Maestro Karajan setzte betont auf die Pflege des Repertoires. Sein erklärtes Ziel war es, „einzigartige und beispielhafte Aufführungen der wichtigsten klassischen und modernen Werke zu liefern“. Karajan war damit eher Traditionalist, weniger ein Wegbereiter der Neuen Musik, wie es sich z. B. Herbert Kegel auf die Fahne geschrieben hatte. Seine Einspielungen von Werken der „Neuen Wiener Schule“ führten dafür in den Schönberg’schen „Variationen für Orchester“ (DG 457 760-2) zu einem besonders denkwürdigen Ergebnis: Offenbar erschien dem Maestro diese, in jeder Variation (!) aufnahmetechnisch individuell speziell ausgeleuchtete Aufnahme, derart gelungen, dass er dieses Stück weiterhin weder live aufgeführt noch jemals erneut aufgenommen hat.
Auch so manche der sehr späten oder auch der nahezu letzten Dinge in Sachen Einspielungen vermögen durchaus zu überzeugen. So das einzige Neujahrskonzert, das Karajan 1987 dirigiert hat (DG 477 6336). Sicher sind die Tempi gegenüber früheren Einspielungen ein merkliches Stück zurückgenommen und auch der Klang des Orchesters wirkt abgeklärter. Von schleppend oder gar uninspiriert kann hier m. E. jedoch keine Rede sein. Die Videoaufzeichnung (auf Sony DVD erhältlich) macht außerdem deutlich, welch offensichtliche Freude der zu diesem Zeitpunkt bereits schwer Kranke an diesem Neujahrstag an seinem Dirigentenauftrag gehabt haben mag. Karajan wirkt hier unmittelbar und natürlich wie selten. (In der „Karajan — Symphony Edition“ (s. o.) findet sich auch noch der Live-Mitschnitt, Mai 1987, einer Aufführung von Schumanns 4. Sinfonie mit den Wiener Philharmonikern.)
Geradezu entrückt wirkt der Live-Mitschnitt des letzten Konzerts in Salzburg 1988 (DG 423 613-2). Die auf Wagner fixierte Auswahl der Stücke, vom Tannhäuser-Vorspiel über das Siegfried-Idyll bis hin zu Tristan und Isolde, ist gewiss auch eine Art letztes Resümee zur Musik dieses von Karajan lebenslang sehr geschätzten Komponisten. Isoldes Liebestod, interpretiert von Jessye Norman, wird dabei zum geradezu hinreißenden Höhepunkt.
An dieser Stelle dürfen noch zwei reizende Kuriosa der Karajan-Diskografie nicht fehlen: „Preußische & Österreichische Märsche“ (2 CDs, DG 439 346-2) und „The Anthems Album“ (DG 477 5957). Vielleicht gerade wegen ihrer nicht historisierenden, sondern vielmehr üppig instrumentierten wilhelminischen Darstellung sind die dazu äußerst präzise dargebotenen Piècen für die Marschierer von so guter Wirkung. Von Karajan höchstpersönlich stammt übrigens das Orchesterarrangement der, Beethoven sei Dank, so geläufigen Europäischen Hymne.
Operneinspielungen Karajans:
Mussorgskys „Boris Godunow“ mit den Wiener Philharmonikern (1970) (Decca „The Originals“ 475 7718) ist eine in der Sattheit des perfekt ausbalancierten Klanges wohl geradezu optimal den Intentionen des Freundes und Bearbeiters Rimsky-Korsakoffs entsprechende Interpretation der berühmten Oper. (Erfreulicherweise hat man es bei diesem so gelungenen Karajan-Klassiker belassen und sich nicht zusätzlich mit einem in verschiedenen Vorankündigungen genannten Mitschnitt der Salzburger Festspiele 1965 unnötigerweise hausinterne Konkurrenz geschaffen.) Aus den frühen Wiener Jahren sind Verdis „Aida“ (siehe Klassikwanderung 37) sowie die ebenso vorzügliche, lyrisch-sinnliche aber auch leidenschaftlich-hitzige, von motorischer Energie geprägte Einspielung des „Otello“ (Decca „The Originals“ 475 9984) unbedingt hörenswert.
Primär an den Karajan-Spezialisten wendet sich der erstmalig veröffentlichte Rundfunkmitschnitt einer Aufführung des „Fidelio“ an der Wiener Staatsoper im Jahr 1962 (2 CDs, DG 477 7364). Sicher bekommt man hier einen der raren Livemitschnitte und damit Spontaneität abseits von ausgefeilter Studioakkuratesse geboten. Allerdings ist das klangliche Ergebnis unterm Strich — trotz Stereo! — derart unbefriedigend, dass es kaum verwundert, dass diese Aufnahme zu Lebzeiten des auf Klangqualität versessenen Karajans offiziell unveröffentlicht bleiben musste. Nicht nur beim recht blassen Orchesterklang stimmt es nicht richtig, die Vokalisten klingen viel zu weit entfernt und auch der Applaus wirkt eher matt denn begeistert.
Wobei im Segment Oper auch einige der besonders wertvollen EMI-Produktionen nicht ungenannt bleiben dürfen, die neben dem o. g. Komplett-Set erfreulicherweise auch einzeln erhältlich sind: Da sind die legendären Londoner-Einspielungen der 1950er-Jahre mit dem Philharmonia Orchestra und Elisabeth Schwarzkopf: Humperdincks „Hänsel und Gretel“ (2 CDs, EMI 5 67061 2, Mono, entstanden 1953), die 1957er Aufnahmen von Verdis „Falstaff“ (2 CDs, EMI 3 77349 2) sowie Richard Strauss’ „Der Rosenkavalier“ (3 CDs, EMI 3 77357 2). Karajan arbeitet bei Humperdinks keineswegs nur für kleine Leute bestimmter Märchenoper so manches klangliches Detail herrlich heraus und sorgt dabei zugleich für so treffliche Stimmung und Atmosphäre. Der altersweise Abgesang des greisen Verdi wird hier zum besonders geschmeidig federnd und leichtfüßig spritzigen Klangereignis; etwas, das ebenso für die walzerselige, zugleich etwas bittersüße Komödie um den Kavalier der silbernen Rose gilt.
Die folgenden Aufnahmen stammen aus den 1970ern. Eine mitreißende Wiener „Salome“ (2 CDs, EMI 5 67080 2), die so perfekt, differenziert und einfühlsam die poesievollen Stimmungen der Musik auslotende Interpretation von Debussys „Pelléas et Mélisande“ (3 CDs, EMI 5 67057 2) sowie zwei Wagner-Opern: die in satten, quasi-mittelalterlichen Gemäldefarben leuchtenden Dresdner „Die Meistersinger von Nürnberg“ (4 CDs, EMI 5670862) sowie der trotz äußerst schwieriger, langwieriger Produktion ebenfalls sehr klangschöne Berliner „Lohengrin“ (3 CDs, EMI 5 66519 2).
Interessanterweise sind die auf außerordentlich hohem Niveau befindlichen, auf ihre Art oftmals quasi „perfekten“ Mono-Einspielungen der EMI den hauseigenen frühen Stereo-Experimenten häufiger klangtechnisch eindeutig überlegen. Die Tontechnik der Decca war damals schon erheblich weiter — siehe dazu auch Klassikwanderung 37. Diese Feststellung gilt allerdings nicht für die drollige 1957er Fundsache „Peter und der Wolf“ (EMI 5 18024 2), die neben einem gut klingenden tadellosen Vortrag der Musik mit einer unbeschwert, anmutig und natürlich wirkenden 19-jährigen Romy Schneider als Erzählerin beim Prokofjew’schen musikalischen Märchen aufwartet. Dass Romy Schneider damals noch als Sissi die Gemüter der Nation bewegte, ist freilich eine andere Geschichte.
Fazit: Abseits der Jubiläen und Ehrentage ist es mittlerweile eher ruhig und unpolemisch, ja still um H. v. Karajan geworden. Trotzdem ist er im Bewusstsein breiter Schichten von Klassikfreunden offenbar immer noch ein Markenzeichen, ein Garant für Qualität; was sich in den nach wie vor sehr guten Verkaufszahlen seiner Alben spiegelt. Seit kurzem ist übrigens der Mythos um den Taktstockmaestro sogar wieder ganz am Puls der Zeit, bei iPhone und iPod, angekommen: Mit dem Programm „KARAJAN“ soll man spielerisch das Erkennen von Intervallen, Akkorden und Tonleitern trainieren und so dem absoluten Gehör jeden Tag ein Stück näher kommen können. Wer da noch immer nicht glauben mag, dass uns Karajan auch zukünftig beschäftigen wird …
Dieser Artikel ist Teil unseres Spezialprogramms zum Jahresausklang 2008.
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