Kleine Klassikwanderung 43: Budget-Priced-Sets im Quartett von Warner Classics

Geschrieben von:
Michael Boldhaus
Veröffentlicht am:
6. Dezember 2008
Abgelegt unter:
Special

Kleine Klassikwanderung 43: Budget-Priced-Sets im Quartett von Warner Classics

Warner Classics wertet nun ebenfalls sein Archiv älterer Klassikaufnahmen aus. In diesem Artikel stehen bevorzugt Wiederveröffentlichungen des russischen Olympia- und Melodia-Repertoires auf dem Programm. Jedes der Box-Sets enthält die CDs in Platz sparenden Papptaschen in einer recht stabilen Pappbox. Ebenfalls findet sich darin ein kleines Begleitheft mit ersten Informationen zur enthaltenen Musik.

König Kunde erhält hierbei nicht nur die Möglichkeit der klingenden Begegnung mit wichtiger, primär russischer Musik, in erster Linie des 20. Jahrhunderts. Die drei mit großen russischen Interpretennamen firmierenden Sets sind darüber hinaus nicht zuletzt Werkschauen, gewidmet jeweils einem bedeutenden russischen Dirigenten.

Mstislaw Rostropowitsch dirigiert Sergej Prokofjews Sinfonien

Der Ende April 2007 nach einem erfüllten Leben als 80-Jähriger verstorbene Mstislaw Rostropowitsch gilt nicht nur als einer der ganz großen Cellisten des 20. Jahrhunderts. Er hat sich auch als Dirigent einen Namen gemacht und wird überhaupt zu den bedeutendsten Persönlichkeiten in der Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts gezählt. Alfred Schnittke sah in ihm „eine der wenigen richtungweisenden Gestalten der musikalischen Gegenwart“.

Die in der noch jungen CD-Ära, in den Jahren 1985-1987, entstandenen Einspielungen der sieben Sinfonien seines Landsmannes, Lehrers, Freundes und Weggefährten Sergej Prokofjew (1891-1953) sind dabei besonders zu begrüßen. Neben der Sinfonie Nr. 1, mit dem Beinamen „Symphonie Classique“, zählt das charmante Märchen für Musik und Erzähler „Peter und der Wolf“ zum Geläufigsten des Komponisten. Miklós Rózsa ließ sich davon übrigens zur Konzertsaalbearbeitung seiner Musik zu Alexander Kordas Film The Jungle Book • Das Dschungelbuch (1942) inspirieren: erschienen 1942 bei RCA als erste kommerziell veröffentlichte Filmmusik auf Schallplatte, mit „Elephant Boy“ Sabu als Erzähler.

Aber ebenso die auf die reizend neoklassizistische „Symphonie Classique“ folgenden sechs Sinfonien Prokofjews sind auch, aber nicht ausschließlich für den Filmmusikfreund entdeckenswert. Auf den ersten Hörblick relativ sperrig erscheint die „aus Stahl und Eisen gestanzte“ Zweite, ein recht typisches Produkt der noch jungen Sowjetunion in den brüllenden zwanziger Jahren. Demgegenüber deutlich gemäßigter geben sich die dritte und die in zwei deutlich unterschiedlichen Versionen enthaltene vierte Sinfonie. Neben kühnen Einfällen finden sich in beiden Werken auch klare romantische Bezüge. In der dritten Sinfonie verwendet der Komponist Material seiner Oper „Der feurige Engel“ und in der vierten aus dem Ballett „Der verlorene Sohn“. Auch in der im Herbst 1947 uraufgeführten sechsten Sinfonie steht Lyrisches neben Herbem, wirkt in letzterem wohl der erst zwei Jahre zuvor zu Ende gegangene Zweite Weltkrieg nach.

In Teilen wichtige stilistische Anknüpfungspunkte — wiederum auch, aber nicht nur — für Filmkomponisten (z. B. Franz Waxman und John Williams) sind in den beiden unmittelbar besonders lyrisch-eingängigen Sinfonien, in Nr. 5 und der ausgeprägt volkstümlich wirkenden Nr. 7, zu finden. Rostropowitsch wählt in seiner Darstellung im Finalsatz interessanterweise den ursprünglichen, leiseren Schluss. Seine Darstellung der Prokofjew-Sinfonien ist insgesamt eher bedächtig (aber nicht lahm), einen betont epischen Rahmen setzend.

Trotz Modernität zählt Prokofjew zu denen, die sich ausdrücklich zum thematischen Einfall bekannt haben: „Melodie ist die Seele“ der meisten seiner kraftvollen und oftmals auch tonmalerisch farbigen, häufig theatralisch und auch filmisch wirkenden Tonschöpfungen. Mit Fug und Recht konnte Mstislaw Rostropowitsch sagen, er wisse, wie diese Musiken gespielt werden sollen: „Die Bogenstriche in der Partitur zu Prokofjews siebenter Sinfonie sind von mir. Das muss ich weitergeben“.“ Auch deswegen ist die Gesamteinspielung der Prokofjew-Sinfonien mit dem Orchestre National de France ein wichtiger und außerdem preisgünstiger Beitrag zu den Diskographien Prokofjews wie Rostropowitschs. Einen kleinen Minuspunkt bekommt das etwas verschwommene und leicht hallige Klangbild.

Nikolai Jakowlewitsch Mjaskowski, dirigiert von Jewgeni Swetlanow

In doppelter Hinsicht eine besonders feine editorische Tat ist dieses Set. Nicht nur, dass die Musik des Nikolai Jakowlewitsch Mjaskowski (1881-1950) außerhalb Russlands selbst heutzutage noch kaum geläufig ist, beim Dirigenten Jewgeni Swetlanow (1928-2002) handelt es sich um einen zweifellos besonders bemerkenswerten russischen Interpreten.

Von Swetlanow existieren insgesamt über 300 Aufnahmen mit Musik von ca. 150 Komponisten. Man kann ihn treffend als Allround-Musiker bezeichnen, so erstaunlich umfangreich und ebenso breit gestreut ist das von ihm nicht nur im Konzertsaal Präsentierte, sondern auch auf Tonträger Eingespielte. Seine Darstellungen sind temperamentvoll, dabei durchaus rau und kantig und somit oftmals klar weniger auf Schönklang gebürstet als die vieler seiner westlichen Kollegen. Dabei setzte sich der Dirigent nicht nur entschieden für die Musik seiner Landsleute ein, sondern schaute weit über den Tellerrand des russischen Repertoires hinaus. So führte Swetlanow in der wenig Mahler-freundlichen Sowjetunion sämtliche Sinfonien des Österreichers auf und ebenso engagiert stellte er den heimischen Musikfreunden u. a. Werke des Briten Edward Elgar vor.

Warner Classics hat nun eine erste Box mit Einspielungen des russischen Taktstockmaestros veröffentlicht. Interessanterweise ist man dabei in punkto Repertoire nicht auf „Nummer sicher“ gegangen, sondern hat sich auf hierzulande nahezu unerschlossenes Gebiet vorgewagt: Die 16 jeweils randvollen CDs enthalten den Großteil der Orchesterwerke von Nikolai Mjaskowski: sämtliche 27 Sinfonien und darüber hinaus noch eine Handvoll weiterer seiner Konzertkompositionen.

Über Mjaskowski findet der Neugierige in den Konzertführern eher spärliche, aber immerhin lobende Anmerkungen. Der Russe wirkte als hoch geschätzter Lehrer am Moskauer Konservatorium, hat sich über rund drei Dekaden um das russische Musikleben in besonderer Weise verdient gemacht. In der Eigenschaft als renommierter Pädagoge ist sein Name auch hierzulande immer noch wesentlich geläufiger denn als Komponist. Der aus einer hohen zaristischen Offiziersfamilie stammende Mjaskowski lernte bei Reinhold Glière, Anatoly Ljadow und auch bei Nikolai Rimski-Korsakow. Zu seinen späterhin auch im Westen besonders bekannten Schülern zählten Aram Chatschaturjan und Dmitri Kabalewski. Er war enger Freund und Weggefährte von Sergej Prokofjew, mit dem ihn eine lebenslange Freundschaft verband.

Der Lebensweg dieses russischen Tonsetzers liest sich weniger spektakulär als der von Prokofjew oder Schostakowitsch. In seiner Heimat wird der Name Mjaskowski allerdings stets in einem Atemzuge mit diesen beiden auch im Westen berühmten Vertretern der russischen Musik genannt. Als Inhaber verschiedener hoher offizieller Auszeichnungen, u. a. des Stalin-Preises für die 21. Sinfonie, erscheint sein Dasein auf den ersten Blick von den außerordentlichen künstlerischen Repressionen der Stalin-Ära unberührt. Doch dieser Eindruck dürfte kaum zutreffen. Es ist nicht anzunehmen, dass der stalinistische Terror nicht auch Mjaskowskis Existenz zumindest überschattet hat, auch wenn die derzeit leichter zugänglichen Publikationen darüber nichts verlauten lassen.

Bereits der in weiten Teilen unüberhörbare Ernst und die Melancholie der in der Box vertretenen Kompositionen widersprechen dem Bild einer unkomplizierten Existenz und das nicht erst in Zeiten des Realen Sozialismus. Mjaskowski, den Dmitri Schostakowitsch als den russischen Ralph Vaughan Williams bezeichnete, war durch Kriegserlebnisse im 1. Weltkrieg sowie Schicksalsschläge während der Revolutionsjahre bereits ein schwer gezeichneter, späterhin offenbar zu Depressionen neigender Mensch. Und nicht erst die 1948er „Formalismus-Debatte“ bereitete wohl auch ihm zumindest Sorgen vor dem stalinistischen Parteiapparat. Wie der Komponist in seiner Autobiografie schreibt, ist er bereits für seine 1933 entstandene 13. Sinfonie als „Zerstörer der Tonalität“ gerügt worden.

Zu seinen Lebzeiten war wohl Sergej Prokofjew der rührigste Promoter für das Werk des Freundes im Ausland. Trotzdem ist Mjaskowskis ŒŒŒuvre international im Gegensatz zu Russland, wo es immer gepflegt wurde, weitgehend unbekannt geblieben. Daran hat auch die letztlich sogar als Auftragskomposition für das 50-jährige Bestehen des Chicagoer Sinfonieorchesters im Jahr 1940 komponierte, einsätzige 21. Sinfonie (s. o.) bislang kaum etwas geändert.

Zwar bilden die 27 Sinfonien des überaus fleißigen Mjaskowski keinen vergleichbaren sinfonischen Kosmos wie bei Mahler, Schostakowitsch oder auch Vaughan Williams. Um eher Belangloses aus der Werkstatt eines Vielschreibers handelt es sich deswegen aber keineswegs. Schon allein die durchweg sorgfältige Strukturierung und äußerst gediegene handwerkliche Ausführung der einzelnen Sätze dieses Sinfonienzyklusses weist eindeutig darüber hinaus. So manches davon wäre hierzulande als wertvolle Repertoire-Bereichung durchaus denkbar, und vielleicht auch noch mehr seines Schaffens. Der eigenwillige Pianist Glenn Gould war z. B. von Teilen der Klaviersonaten sehr angetan und führte diese in seinem Repertoire.

Mjaskowski tendierte nie zum radikalen Neutönertum, er war vielmehr so etwas wie ein modern eingestellter, also nach vorn blickender Traditionalist, einer, dessen Kompositionen der 1920er Jahre in besonderem Maße auch experimentellen Charakter besitzen. Stilistisch knüpfte er bei Peter Tschaikowsky, Sergej Tanejew und auch bei Alexander Skrjabin an. Und sicher hat auch die Musik des so genannten „Mächtigen Häufleins“ sein Schaffen mit beeinflusst. Kaum zu spüren ist in seiner unmittelbar wenig auf äußerlichen Effekt und Glanz abzielenden, eher introvertierten Tonsprache allerdings das Vorbild des Lehrers Nikolai Rimski-Korsakow (z. B. Scheherazade). Prokofjew sagte dazu übrigens: Mjaskowski vermeide das Augenzwinkern vor dem Publikum. Auffällig sind vielmehr die Schwermut in weiten Teilen selbst der ersten drei (noch vor dem 1. Weltkrieg entstandenen) Sinfonien, wobei die dritte gar in einen recht düsteren finalen Trauermarsch mündet. Ob man darin bereits eine grundsätzlich zum Pessimismus neigende Persönlichkeit oder gar das Erahnen der bevorstehenden ersten großen Katastrophe des 20. Jahrhunderts sehen mag, muss an dieser Stelle rein spekulativ bleiben. Seinen sinfonischen Erstling schrieb Mjaskowski im bereits relativ reifen Alter von immerhin 27 Lenzen, was sich durch die ursprünglich eingeschlagene militärische Laufbahn erklärt.

Die Kompositionen der 1920er Jahre sind die stilistisch gewagtesten, sie zeichnen sich besonders durch ihre harmonische Kühnheit aus. Aber auch in den stärker der verordneten Ästhetik des Realen Sozialismus verpflichteten Stücken wird keineswegs hausbackene Volkstümlichkeit gepaart mit Schlichtheit spürbar. Vielmehr bleibt stets äußerst gediegene Professionalität präsent, wobei gerade die Bläsersätze häufiger an Schostakowitsch und Prokofjew erinnern.

Sicher ist beim Entdecken des ŒŒuvres dieses russischen Maestros etwas Geduld gefragt. Die bereits in den frühen Sinfonien ausgeprägte Dramatik sowie das häufiger Elegisch-Herbe, Grüblerische im Ausdruck sind auf Anhieb kaum Klassik-Chart-verdächtig. Mjaskowskis von Anfang an durchaus eigenwillige Tonsprache offenbart nach ein paar Durchgängen allerdings zunehmende Reize und so manche anfänglich eher verdeckte Schönheit. So zählt die sich überwiegend recht entspannt gebende lyrisch-romantisch gehaltene 5. Sinfonie zu den Werken, die es dem Einsteiger besonders leicht machen. Ebenfalls leicht erschließen sich die vorwiegend lyrischen und/oder unmittelbar spürbar vom regionalen russischen Volksliedgut geprägten Sinfonien 7, 8, 14, 16, 18, 23, 25 und 26. Gelegentlich wird auch so etwas wie illustrative Landschaftsmalerei und damit eine Nähe zu Filmmusik spürbar. Dabei lassen sich in der 8. auch Einflüsse des Impressionismus ausmachen. Ebenso bemerkenswert ist die sich stimmungsmäßig besonders vielschichtig präsentierende Sinfonie Nr. 16.

Des Weiteren entdeckenswert sind (nicht allein!) die ruhige, trotzdem markante, nur knapp 20 Minuten umfassende, für Chicago komponierte 21. Sinfonie (s. o.), die ausschließlich für Blasorchester gesetzte Nr. 19 und unbedingt die kraftvolle, dramatische 6. Hierbei handelt es sich trotz der niedrigen Opuszahl um die längste Sinfonie des Komponisten. Mit ihrer Spieldauer von rund 65 Minuten erinnert sie in den Ausmaßen an Bruckner oder Mahler. Dieses Werk klingt modern und ungewöhnlich zugleich: so taucht überraschenderweise gerade in einigen der lyrischen Ruhepunkte des Werks das mittelalterliche Schicksalsmotiv „Dies Irae“ in erstaunlich sanft und wenig bedrohlich erscheinenden Varianten auf. Zum unbedingt Hörenswerten zählt aber auch die patriotisch-pathetische Sinfonie Nr. 22 mit dem Beinamen „Ballade“. Diese ist ein Pendant zur berühmten „Leningrader Sinfonie“ von Schostakowitsch. Sie entstand unter vergleichbar bedrückenden Umständen und ist noch etwas früher uraufgeführt worden. Im Vergleich handelt es sich zwar um ein unmittelbar weniger spektakuläres Werk, welches jedoch beim eingehenderen Hören zunehmend beeindruckt. Es ist eine kraftvolle dramatische Musik von elegischem Ausdruck, mit hymnischen Steigerungen und im marschartigen Finale durchsetzt mit trotzigen Fanfaren.

Gerade in der Abteilung „Zugaben“ finden sich noch weitere musikalische Perlen, die den Hörer besonders leicht für sich zu gewinnen vermögen. Da sind beispielsweise die „Sechs Skizzen für Orchester, Op. 65“ versehen mit dem Beinamen „Kettenglieder“, die sich sowohl fanfarenartig-festlich als auch beschwingt und heiter geben, wobei der finale Walzer Tschaikowsky nahe steht. Ebenso die ungewöhnlich effektvolle, auf altslawischen Themen aus dem 16. Jahrhundert basierende „Slawische Rhapsodie“ und nicht zuletzt die Sinfonietten, in denen Mjaskowski mitunter einen geradezu serenadenhaften und auch charmant balletthaften Ton anschlägt. Ebenfalls tänzerisch, fast schon verspielt gibt sich das „Divertimento für Sinfonieorchester, Op. 80“ und einen vergleichbar feinen Einstieg ermöglicht das reizende, neoklassizistisch geprägte „Concertino Lirico, Op. 32 Nr. 3“.

Das Begleitheft dieser Box ist eindeutig das schwächste aus den vorgestellten Sets. Neben einem detaillierten Tracklisting, das unglücklicherweise nicht auch auf den CD-Taschen dupliziert wird, enthält es nur oberflächliche, ganz knappe Informationen zum Dirigenten sowie dem Komponisten und seinem ŒŒuvre. Außerdem fehlen jedwede Hinweise zu den Aufnahmedaten. Fairerweise muss hierzu natürlich angemerkt werden, dass eingehende Werkeinführungen bei der Fülle des hier vertretenen Materials in Anbetracht des sehr günstigen Preises außerhalb des Möglichen liegen. Nun, hier leistet das Internet erste Hilfe mit der offiziellen Hompage des Komponisten Nikolai Mjaskowski.

Wie dem auch sei, das zu Hörende klingt nicht nur ambitioniert dargeboten, sondern darüber hinaus durchweg derart frisch und klar, dass die ältesten Einspielungen wohl kaum weiter zurück als in die frühen 1980er zu datieren sein dürften.

Möge dank des vorliegenden CD-Sets nicht nur die Neugier entdeckungsfreudiger Klassiksammler geweckt werden, sondern vielleicht auch bezüglich Konzertaufführungen etwas in Bewegung geraten. Vielleicht gilt ja für Mjaskowski ebenfalls das, was Arnold Schönberg bereits 1921 der erst rund 75 Jahre später wirklich erschlossenen Musik eines engen Freundes prophezeite: Er (Zemlinsky) könne warten.

Jewgeni Mrawinski und die Leningrader Philharmoniker

Die Leningrader Philharmoniker haben im Zuge der Wende ihren Namen geändert, sind zur St. Petersburger Philharmonie geworden. Mit dem Namen Jewgeni Mrawinski (1903-1988) ist die lange, bis 1888 zurückreichende Tradition dieses Klangkörpers eng verbunden. Rund 50 Jahre lang hat er die Geschichte dieses Orchesters geprägt und es zu einem international gerühmten Klangkörper geformt. Sein Name und der des Orchesters sind ebenso mit den Uraufführungen vieler Werke von Dmitri Schostakowitsch verknüpft. Der Schreiber dieses Artikels hat Mrawinski 1984 beim Internationalen Dmitri-Schostakowitsch-Festival in Duisburg erlebt. Wie der hagere Dirigent trotz äußerst zurückhaltender, ja schon unauffälliger Gebärden beim Dirigieren eine ungemein virtuose und zugleich fulminante Interpretation der 7., der Leningrader Sinfonie, entfesselte, war ein besonderes Erlebnis.

Die Box von Warner Classics präsentiert auf 12 CDs Live-Mitschnitte, entstanden in den Jahren 1964 bis 1984. Dabei findet sich natürlich auch Schostakowitsch, aber neben russischem Repertoire von Tschaikowsky (Sinfonien 5 und 6), Mussorgsky, Glinka und Glasunow auch ein beträchtlicher Anteil an Beethoven-Werken (Sinfonien 1, 3, 5, 6 und 7), Mozarts Sinfonien 33 und 39 sowie eine Reihe Orchesterstücke aus Opern Richard Wagners; wobei zu letzteren auf der 12. CD Auszüge zu den Orchesterproben nebst einer kurzen Ansprache Mrawinkis vertreten sind. Der Dirigent spricht über die Natur und das Leben. Eine deutsche Übersetzung dazu findet sich erfreulicherweise im ordentlichen Begleitheft.

Straffe Tempi, machtvolle, aber nicht dröhnende Steigerungen und ein saftig voller Sound sind Attribute der hohen Spielkultur der Leningrader Philharmoniker unter Jewgeni Mrawinski. Leidenschaftlich, aber ohne hohles Pathos und überzogenes Sentiment lässt er hier aufspielen. Eine beeindruckende Begegnung mit durchweg hochkarätigen, in einigen Fällen auch geradezu exemplarischen Interpretationen. Letzteres gilt zweifellos für die beiden vertretenen Sinfonien des Dmitri Schostakowitsch: Nr. 5 und Nr. 12. Gerade der 1984er Mitschnitt der in der Literatur eher geringschätzig betrachteten 12. wird hier dank des spürbar hochmotivierten Musizierens zum beeindruckenden Plädoyer für dieses Werk. Interessant ist aber auch der Vergleich der Schlussapotheosen beider Sinfonien. Lässt Mrawinski im Jubel-Finale der 5. durchaus das Aufgesetzte hörbar werden, gestaltet er den Schluss der 12. unvoreingenommen strahlend und prachtvoll zugleich.

Was nicht bedeutet, dass man zwangsläufig von allem in der Box gleichermaßen begeistert wird. So bekommt für meinen Geschmack der allzu energiegeladene temporeiche Interpretationsansatz dem Vorspiel zum 1. Akt des „Lohengrin“ weniger gut, dadurch wird das Mystisch-Geheimnisvolle dieses Stücks denn doch beeinträchtigt.

Zwangsläufig sind gerade die aus den 60er Jahren stammenden Aufnahmen technisch am wenigsten zufriedenstellend. Trotzdem ist hier vom bei LP-Sammlern der ehedem als „Original-Aufnahmen aus der Sowjetunion“ berüchtigten, verhallten und verrauschten, eher blassen, bis in die 60er oftmals noch in Mono daherkommenden Sound kaum etwas zu spüren. Vermutlich sind die Originale behutsam und versiert zugleich aufgefrischt worden. So erscheinen selbst die ältesten Archiv-Schätzchen in einem zumindest durchaus passablen Stereo-Sound.

„The György Ligeti Project“

Knapp ein Jahr nach dem 80. Geburtstag György Ligetis 2003 brachte das Telefunken-Label eine den Orchesterwerken des eigenwilligen Komponisten gewidmete CD-Reihe zum Abschluss — zu Ligeti siehe auch „Clear or Cloudy“ in Klassikwanderung 42. Der jetzt zusammengefasst in einer Box vorliegende fünfteilige Albenzyklus ist in gewissem Sinne die Fortführung der von Sony als Gesamtausgabe geplanten „György Ligeti Edition“, die nach internen Auseinandersetzungen (nach der achten Veröffentlichung, der Oper „Le Grand Macabre“) abgebrochen worden ist. Wie die Sony-Veröffentlichungen entstanden auch die zwischen 2000 und 2002 erfolgten Einspielungen des Ligeti-Projekts der Telefunken unter der Aufsicht des Komponisten. Sie dürfen daher als von erster Hand autorisiert und damit als authentisch gelten. Auf der Seite der Interpreten vertreten sind dabei die Berliner Philharmoniker unter Jonathan Nott sowie mehrere niederländische Klangformationen unter der Leitung von Reinbert de Leeuw: das Schönberg Ensemble, das Asko Ensemble, die Capella Amsterdam sowie das Amadinda Percussion Ensemble. Ihnen stehen vorzügliche Solisten zur Seite, wie Heinz Holliger (Oboe), Siegfried Palm (Cello) oder Pierre-Laurent Aimard (Klavier). Die durchweg von höchster Genauigkeit und Präzision gekennzeichneten Interpretationen werden unterstützt von einer Top-Tontechnik. Das Resultat ist ein glasklar eingefangener Klang, der sowohl die Eigenwilligkeiten und Raffinessen als auch die stilistische Vielfalt des Ligeti-Sounds geradezu optimal hör- und damit auch erfahrbar macht. Letzteres gilt, obwohl es sich bei ein paar der Aufnahmen um (nicht wirklich merkliche) Live-Mitschnitte handelt.

Selbst für diejenigen, der bereits einiges von Ligeti besitzt, ist Telefunkens Ligeti-Projekt (besonders in der preiswerten Box-Version) mehr als nur eine Überlegung wert. Einmal sind die Dubletten wegen der mindestens ebenso kompetenten alternativen Interpretationen kein wirklicher Verlust, sondern zum Vergleich eher wertvoll. Darüber hinaus sind es natürlich die hier vertretenen Raritäten und Weltersteinspielungen, die das Set ungemein interessant werden lassen. So finden sich beispielsweise die einsätzigen „Melodien“ (1971) für groß besetztes Kammerorchester, die von den Berlinern packend interpretierte „San Francisco Polyphonie“ (1973-74), die von zwölf Sängerinnen mit Kammerorchester bestrittenen „Clocks and Clouds“ oder auch die drei Arien aus der grotesken Oper „Le Grand Macabre“, hier neu arrangiert: anstelle des Koloratursoprans für Trompete und Kammerorchester gesetzt.

Und nicht allein historisch interessant sind auch die klingenden Blicke auf den Werdegang, die frühen, vor 1956, unter stalinistischem Reglement entstandenen Arbeiten. Dabei schimmert im noch nicht aus dem Rahmen Fallenden, wie dem „Rumänischen Konzert“ (1951), das Temperament eines Bartók und auch Kodaly hindurch. Geradezu auf die ersten Schritte Ligetis verweisen die aus dem historischen Erbe, aus der Folklore, gewonnenen liedhaften Stücke der „Musica Ricerata“ (ursprünglich für Klavier, hier in einer ebenso reizvollen späteren Fassung für Akkordeon vertreten) aber auch „Ballade und Tanz für Schulorchester“ oder die drollige, für ein Puppenspiel entstandene „Schildkrötenfanfare“ für Solotrompete. Eine ebenso reizende Kuriosität sind die 1949 von Ligeti orchestrierten alten ungarischen Gesellschaftstänze „Régi magyar társas táncok“.

Diese Box enthält ein besonders ordentliches Begleitheft. Erfreulicherweise sind darin die Texte der Einzel-CD-Ausgaben (knappe Werkeinführungen, aber immerhin vom Komponisten höchstpersönlich) vollständig vertreten — in Deutsch, Englisch und Französisch. Das gilt ebenso für die einigen Stücken zugrunde liegenden Texte.

Alles in allem liefert Telefunkens Ligeti Project ein hochinteressantes, umfassendes Porträt eines der markantesten und eigenwilligsten Vertreter der Neuen Musik des 20. Jahrhunderts mit Fokus auf die Orchesterstücke sowie Werke für Chor und Orchester.

Dieser Artikel ist Teil unseres Spezialprogramms zum Jahresausklang 2008.

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