Kleine Klassikwanderung 38: Jonathan Nott und die Bamberger Symphoniker spielen Igor Strawinsky und Franz Schubert

Geschrieben von:
Michael Boldhaus
Veröffentlicht am:
5. November 2007
Abgelegt unter:
Special

Jonathan Nott und die Bamberger Symphoniker spielen Igor Strawinsky und Franz Schubert

Strawinsky: Le Sacre du Printemps & Sinfonie in drei Sätzen

Die Bamberger Symphoniker — Bayerische Staatsphilharmonie gaben erst kürzlich ihr Debüt auf dem „Lucern Festival im Sommer 2007“. Das dort aufgeführte berühmte Strawinsky-Ballett „Le Sacre Du Printemps — Das Frühlingsopfer“ liegt inzwischen ebenfalls pressfrisch in einer Studioeinspielung vom Februar 2006, gekoppelt mit der „Symphonie in drei Sätzen“ (aufgenommen im Januar 2005), auf SACD vor.

Nott legt seine Interpretation von Strawinskys Sacre in etwas bedächtigeren Zeitmaßen an. Dabei fehlt es der Interpretation in den entscheidenden Momenten jedoch keinesfalls an zupackender Energie. Ebenso erwähnenswert sind das präzise Spiel der solistisch agierenden Holzbläser sowie das sowohl gefühlvoll als auch druckvoll aufspielende Blech. Insgesamt wird die Faktur des energiegeladenen ehemaligen Skandalopus solistisch facettenreich, transparent aufgegliedert und so vorbildlich durchhörbar präsentiert. Das gilt auch für die 30 Jahre später im Auftrag des New York Philharmonic Orchestra entstandene „Sinfonie in drei Sätzen“, die in Teilen ähnlich tänzerisch ausgerichtet, motorisch rhythmisch und spröde angelegt ist wie das Sacre.

Ein besonderes Lob gebührt den Tontechnikern des Bayrischen Rundfunks. Samtig, seidig und kristallklar gestaffelt erscheint dem Hörer das Orchester im Klangraum zwischen den Boxen abgebildet. Bei diesem Eindruck spielt auch die superb ausgewogene klangliche Balance zwischen den einzelnen Gruppen des Orchesters eine entscheidende Rolle. Eine Feststellung, die bereits für die erstklassige CD-Abmischung gilt. Die Freunde des hochauflösenden SACD-Surround-Sounds kommen erst recht auf ihre Kosten.

Schubert-Zyklus: Die Sinfonien und „Schubert Dialog“

Der kürzlich mit der Einspielung der „Großen C-Dur-Sinfonie“ abgeschlossene Schubert-Sinfonien-Zyklus bei Tudor geht auf eine Konzertreihe der Bamberger Symphoniker zurück. Interessanterweise liegen den Einspielungen erstmalig die Notentexte der neuen Schubert-Gesamtausgabe zugrunde. Dabei dürfte den einen oder anderen die in den letzten Sinfonien gegenüber dem aus den meisten Konzertführern Geläufigen ungewohnte Nummerierung überraschen. Die ehedem meist als 8. geführte „Unvollendete“ findet sich hier als die Nummero 7; die „Große C-Dur-Sinfonie“ belegt anstelle von Nummero 9 den 8. Platz. Alfred Beaujean hat zu jedem Begleitheft der Sinfonien-SACDs einen kompetenten, informativen Text abgefasst. Dem steht Ellen Kohlhaas’ Artikel für das CD-Album „Schubert Dialog“ allerdings qualitativ nicht nach.

Jonathan Nott und seine Mitstreiter agieren auch hier klangschön und mit hoher spieltechnischer Präzision. Notts Schubert ist romantisch und dramatisch zugleich. Letzteres zwar nicht im Sinne Beethovens, sondern besonders von einem Ausdruck markant pulsierender Energie geprägt. Dabei gehen im satten, vollen Klang des Orchesters Details eben nicht unter oder neigen zum Verschwimmen. Auch hier spielen die sauber und feinfühlig intonierenden Holzbläser eine entscheidende Rolle in der Interpretation: beim Freilegen klangfarblicher Schichtungen und damit kompositorischer Finessen.

Das gilt hier besonders für die in der Betrachtung mitunter (immer noch) etwas abseitig angesiedelten „Jugendwerke“. Etwas, das neben der Fehleinschätzung, ein Zwerg neben Beethoven gewesen zu sein, auch darauf zurückzuführen ist, dass Schuberts Kompositionen zur Großform Sinfonie zu seinen Lebzeiten längst nicht alle und, wenn überhaupt, nahezu ausschließlich einzelne Aufführungen durch Laienformationen im privaten Rahmen erlebten. Ihr Schöpfer erhielt daher kaum Gelegenheit, im Umgang mit professionelleren Klangformationen seiner Zeit praktische Erfahrungen zu sammeln, die in den kompositorischen Prozess hätten einfließen können. Entsprechend galten die ersten sechs Sinfonien noch bis in die 50er-Jahre des 20. Jahrhunderts als eher belanglose, angeblich rein epigonale „Jugendwerke“ — eine Sichtweise, die allein angesichts des bereits mit rund 31 Lenzen verstorbenen Franz Schubert vergleichbar problematisch wie im Falle von W. A. Mozart ist.

Entdeckt wurde der Sinfoniker Schubert übrigens erst nach seinem Tod durch Robert Schumann, der das Autograph der unaufgeführten „Großen C-Dur-Sinfonie“ auffand, welches durch Felix Mendelssohn Bartholdy 1839 uraufgeführt worden ist. Im Konzertleben waren lange Zeit praktisch allein die besonders populär gewordene „Unvollendete“, daneben die „Große C-Dur-Sinfonie“ präsent. Zur Unvollendeten ist hier übrigens auch der nur rund 10 Sekunden währende, von Schubert ausgeführte Torso des dritten Satzes zu hören.

Jonathan Notts Gesamteinspielung der Sinfonien Franz Schuberts ist besonders in den ersten sechs Sinfonien von erfrischend zupackenden Tempi und Klarheit im ausführungstechnischen Detail bestimmt. In der „Unvollendeten“ sowie der „Große(n) C-Dur-Sinfonie“ hingegen wird stärker das Epische im Ausdruck und das auf die Zukunft (bei Bruckner und Mahler) Verweisende herausgearbeitet. So ist z. B. besonders im Kopfsatz der „Unvollendeten“ das Tempo besonders stark zurückgenommen. Und auch bemerkenswert ist die hier an den Tag gelegte Partiturtreue. So werden in der „Großen C-Dur-Sinfonie“ in den Ecksätzen sämtliche Wiederholungen ausgespielt, was dem ersten Satz mit rund 16 Minuten fast schon Brucknersche Ausmaße verleiht.

Wie oben bereits zur neuen Einspielung des Sacre angemerkt, hat auch beim Schubert-Zyklus die Aufnahmetechnik ganz vorzüglich gearbeitet.

„Schubert Dialog“

Eine Schubert-Sinfonie sowie ein vom Schaffen des Romantikers und Liedkomponisten inspiriertes modernes Werk als Gegenüberstellung und Kontrastprogramm. Das war das Programmkonzept, das Jonathan Nott im Rahmen der den Studioeinspielungen der Schubert-Sinfonien vorangegangenen Konzertzyklen verfolgte. Das Label Tudor hat die insgesamt neun Kompositionen dem interessierten und dem Ungewöhnlichen aufgeschlossenen Hörer erfreulicherweise ebenfalls (auf zwei CD-Alben) zugänglich gemacht. Nach den bereits im Album „Schubert Epilog“ (siehe Klassikwanderung Nr. 21) enthaltenen fünf Werken versammelt „Schubert Dialog“ die übrigen vier Schöpfungen. Vereint sind neben den musikalischen Stellungnahmen der fast schon „klassisch“ zu nennenden Veteranen Wolfgang Rihm (• 1952) und Dieter Schnebel (• 1930) Schöpfungen der Komponisten Bruno Mantovani und Jörg Widmann.

Bruno Mantovanis (• 1974) „Mit Ausdruck“ befasst sich mit Klavier-Begleitfiguren aus acht Schubert-Liedern, die der Komponist in Form eines ungewöhnlichen Konzerts für Bassklarinette und Orchester (Solist: Alain Billard) verarbeitete: eine ausgeprägt rhythmische, von holzschnittartigen Kontrasten bestimmte Musik. Jörg Widmanns (• 1973) „Lied für Orchester“ hingegen ist eine unmittelbar wenig kantige, besonders anmutig wirkende Orchester-Studie, die ein wenig auf Mahler verweist: gehalten in einem — allerdings — brüchig, schwebend anmutenden Wohlklang. Beide Werke (uraufgeführt 2003) entstanden übrigens als Auftragskompositionen speziell für den Schubertzyklus.

Wolfgang Rihms „Erscheinung“ ist eine „Skizze über Schubert“, entworfen für neun Streicher und Klavier. Laut Aussage des Komponisten handelt es sich um etwas sehr Nervöses, nichts behaglich Zurückgelehntes, vielmehr ständig auf dem Sprung Befindliches. Der 1930 geborene Dieter Schnebel ist der älteste der hier vertretenen Komponistengarde Neuer Musik. Seine „Schubert-Phantasie“ ist Teil zweier Zyklen, „Revisionen“, die sich ebenso mit Bach, Beethoven, Janáček, Mahler, Mozart, Schumann, Wagner, Webern und Verdi auseinandersetzen. Schnebel greift auf Schuberts Klaviersonate G-Dur op. 78 zurück. In seiner „Schubert-Phantasie“ verarbeitet er Material aus dem ersten Satz zu einem bunten Puzzle an Klangfarben, frei nach Anton Webern. Im Ergebnis ein kunstvoller Brückenschlag zwischen Tradition und Moderne. Auch den hier vorgestellten Einspielungen stand eine tadellose Aufnahmetechnik zur Seite (s. o.).

Seascapes

„Vier verschiedene Arten, das Meer musikalisch zu beschreiben“: Dies könnte man dem BIS-SACD-Album „Seascapes“ als Untertitel zur Seite stellen. Das 1979 gegründete Singapore Symphony Orchestra (SSO) ist einer der führenden sinfonischen Klangkörper Asiens. Auf seiner abwechslungsreichen Reise durch die verschiedenartigen musikalischen Meeresstimmungen hinterlässt es beim Hörer einen ganz vorzüglichen Eindruck. An den Start geht es mit dem von „französischem Fieber“ geprägten „La Mer“ Claude Debussys. Es folgt Zhou Longs exotisch angehauchtes Seegedicht „The Deep, Deep Sea“. Ein dezent moderner anmutendes, die impressionistischen Vorbilder aber nicht verleugnendes Stück, das fast wie ein kleines Konzert für Alt- und Piccoloflöte und Orchester wirkt. Und im Anschluss an die lichte viersätzige sinfonische Suite „The Sea“ von Frank Bridge, bildet Glasunows durch das Schwarze Meer inspirierte Orchesterfantasie „La Mer“ das Schlusslicht der maritimen musikalischen Entdeckungsreise. Ein Stück, das sich infolge seines ausgeprägt spätromantischen und zugleich wagnerianischen Tonfalls so markant vom Namensvetter im Oeuvre Debussys abhebt. Der Chinese Lan Shui erweist sich dabei als feinfühliger, aber zugleich energischer Dirigent, dem es bei jedem der Stücke gelingt, einen angemessenen Ton anzuschlagen.

Möglicherweise spiegelt sich in der hörbar hochstehenden Spielkultur des SSO britischer Einfluss wider. In jedem Fall erweisen sich die gegenüber aus Fernost stammenden Interpreten abendländischer Orchestermusik unterschwellig eventuell immer noch vorhandenen Vorbehalte einmal mehr als grundlos. Als weiter Pluspunkt kommt noch das Resultat der superben Aufnahmetechnik hinzu, welche die orchestralen Finessen der Partituren im Detail lupenrein ausleuchtet und in den kraftvollen Tuttipassagen dazu ein Gefühl von salziger Meeresgischt vermittelt.

Aladdin

Der aus New York stammende Carl Davis dürfte vielen Lesern eher als Komponist meist sehr überzeugender neuer Musiken für Stummfilme wie Ben Hur (1926) oder Intolerance (1916) bekannt sein. Das Doppel-CD-Album präsentiert ihn hingegen als Komponisten eines romantischen, abendfüllenden Balletts. „Aladdin“ entpuppt sich als Auftragskomposition des Schottischen Balletts, entstanden Mitte der neunziger Jahre, uraufgeführt 2000. Die Stilvorbilder dazu finden sich besonders in der russischen Schule, in den Balletten Peter Tschaikowskys und der klanglichen Exotik Rimsky-Korsakoffs.

Wie im vorstehend vorgestellten Album „Seascapes“ ist auch hier ein exotischer Klangkörper zu Werke gegangen: mit Erfolg! Die Mitglieder des unmittelbar kaum geläufigen Malaysian Philharmonic ziehen sich vorzüglich aus der Affäre, lassen der charmanten Davis-Komposition eine farbige und beschwingte Interpretation zuteil werden. Nun, schaut man auch hier genauer hin, sprechen Namen renommierter Gastdirigenten wie Sir Neville Marriner, Rafael Frühbeck de Burgos, Lorin Maazel und nicht zuletzt der dem Orchester derzeit als Chefdirigent vorstehende Matthias Bamert für sich. Und da auch hier die Toningenieure ihren Job hörbar überzeugend erledigt haben, steht einer klaren Empfehlung für das zudem überaus preiswerte CD-Set nichts im Wege.

Das achtseitige Begleitheft wartet dazu mit detaillierten Stückbezeichnungen auf und vermittelt anhand sorgfältiger Anmerkungen zu jedem Abschnitt der Ballettmusik solide Informationen zur Handlung.

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