Gershwin: Rhapsody in Blue

Geschrieben von:
Michael Boldhaus
Veröffentlicht am:
27. März 2005
Abgelegt unter:
Klassik

Da ist sie also, die zweite Staffel der von manchen sicherlich schon freudig erwarteten Ausgrabungen aus dem BMG-RCA-Archiv mit Stereo-Aufnahmen der legendären LIVING-STEREO-Ära. Wiederum erstrahlen zehn Titel dank High-Tech-Überspielung akustisch in neuem Glanz und können da, wo entsprechende Originalmaster vorliegen, jetzt dank SACD erstmalig auch dreikanalig wiedergegeben werden. Das, worauf sich die Klangpuristen im Digitalzeitalter der 90er Jahre besonnen, Stereo-Aufnahmetechnik mit nur wenigen Mikrofonen; exakt so (mit nur zweien oder dreien) hat nämlich alles einmal begonnen. Dabei muss man allerdings festhalten, dass bei aller Qualität, derer sich bereits die im wahrsten Wortsinn legendären LP-Originalausgaben rühmen konnten, gilt: Erst der digitale technische Fortschritt macht es jetzt möglich, diese klingenden Schätze in derart vorzüglicher Tonqualität zu veröffentlichen.

Erfreulicherweise ist man nüchtern an die Sache herangegangen, hat die Aufnahmen weder entrauscht, noch versucht, diese klangtechnisch aufzubereiten. Ebenso sind effektheischerische Spielereien auf den beim SACD-Format zur Verfügung stehenden beiden rückwärtigen Kanälen und ebenso auf dem Bass-Effektkanal unterblieben: genutzt werden allein die drei Frontkanäle. Hier bekommt der Kunde historische Aufnahmepraxis also im puristischen Sinne geboten. Letzteres steht nun keinesfalls für klangliche Kompromisse. Im Gegenteil! Wer’s nicht schon von den Titeln der ersten Staffel her weiß und/oder auch die ebenfalls beachtlichen CD-Editionen der 90er nicht kennt, der ist an dieser Stelle erneut eingeladen zu prüfen, ob es sich lohnt, das bisher Entgangene nachzuholen.

Für den durchweg vorzüglichen Klang der SACD-Ausgaben dürften aber nicht allein Klangfanatiker zu begeistern sein. Dass hier zugleich Orchester, Dirigenten und Solisten sehr gute, zum Großteil zeitlos hochwertige, Maßstäbe setzende Interpretationen geliefert haben, ist dabei mindestens genauso von Belang, wie die hochwertige Tontechnik — siehe hierzu auch „Kleine Klassikwanderung Nr. 4“.
Beim Hören derartiger historischer Aufnahmen ist natürlich immer auch eine Portion Nostalgie mit im Spiel. So mancher reifere Klassikliebhaber dürfte mit dem Schreiber das Schicksal teilen, mit einigen dieser Einspielungen geradezu exemplarische und damit grundsteinlegende (Hör-)Erfahrungen gemacht zu haben: Denn die zuerst bewusst gehörte Einspielung eines Werkes, die prägt das ästhetische Empfinden oftmals mehr als sich besonders der Einsteiger bewusst ist. Und vielleicht empfinden gerade an dieser Stelle besonders einige der jüngeren Leser gegenüber derart gepriesenen „Legenden“ eine (oftmals berechtigte) Skepsis. Hier soll aber nun sicherlich nicht suggeriert werden, dass die Interpreten unserer Tage diese Werke nicht ebenfalls adäquat aufführen können. Ich möchte aber sagen, dass es sich trotzdem lohnt, auch der alten Garde renommierter Interpreten das Ohr zu leihen. Abseits aller nostalgischen Empfindung bin ich fest davon überzeugt, dass viele dieser Aufnahmen nach wie vor Referenz-Qualität besitzen und auch bei den nachwachsenden Generationen begeisterte Hörer finden werden.

Unter den dieses Mal gebotenen Titeln ist zweimal der berühmte Arthur Fiedler mit seinem Boston Pops Orchestra vertreten. Dabei ist die ehedem schon vorzügliche Gershwin-Kollektion aller für den Einsteiger wichtigen Werke jetzt noch um die ehedem ausgesparte „Cuban Overture“ ergänzt worden. Der Käufer erhält damit die komplette (RCA-)Fiedler-Gershwin-Kollektion, fast volle 80 Minuten, in sehr inspirierten, dem Geist der Stücke optimal gerecht werdenden Interpretationen. Letzteres gilt auch für die Kopplung der beiden melodieseligen Ballettbearbeitungen berühmter Melodien: zum einen Manuel Rosenthals Offenbach-Adaptionen in „Gaîté parisienne“ und zum anderen entsprechende Stücke Rossinis, adaptiert von Ottorino Respighi in „La boutique fatasque“ (Der Zauberladen). Fiedler und seine Mannen gehen leichtfüßig und (da, wo geboten) schmissig zur Sache. Nicht allein die Arrangements unvergesslicher Melodien des aus Köln stammenden Wahlfranzosen Jaques Offenbach lassen Champagner-Laune aufkommen. Die in beiden Fällen klangsinnlich und überaus farbig instrumentierten und ebenso mitreißend interpretierten Stücke waren bereits ein klangliches Prunkstück der Living-Stereo-CD-Editionen der 90er. Dank der vorzüglichen Transparenz der Aufnahmen (obwohl nur zweikanalig aufgezeichnet) erscheinen besagte akustische Champagnerbläschen jetzt sogar als ganz besonders scharf abgebildet und wirken umso prickelnder.

Dem Komponisten, Arrangeur und Bandleader Morton Gould (1913-1996) ist das Album „Brass & Percussion“ gewidmet. Hier kommen die Freunde effekt- und niveauvoller Blasmusik, also abseits von hm-ta-ta, voll auf ihre Kosten. Im Angebot sind natürlich eine Reihe der unverzichtbaren US-Markenzeichen enthalten: die unverwüstlichen Sousa-Märsche. Aufgelockert wird das Marschieren auf amerikanisch durch eingestreute Stücke anderer Komponisten, wie Goulds „Battle Hymn“ und Mechams „American Patrol“. Auch hier ergänzt Goulds „Jericho“ — bislang noch nicht auf digitalem Medium veröffentlicht — die Spieldauer auf knapp 80 Minuten. Bei diesem Album der Living-Stereo-Reihe hat man sogar etwas Spiel mit dem Stereo-Effekt zugelassen, ohne dabei à la „Stereo-Extrem“ zu überziehen. Die „Parade“ — für reines Schlagzeug — sowie die „American Patrol“ sind dafür den Raum akustisch perfekt widerspiegelnde sehr überzeugend klingende Belege.

Auch dieses Mal ist wieder der Geiger Jascha Heifetz mit von der Partie. Die „Heifetz Concertos“ vereinen die Violinkonzerte von Sibelius und Glasunow mit dem zweiten Violinkonzert von Prokofjew. Heifetz waren diese Werke nicht allein durch viele Konzertauftritte geläufig, er war überhaupt der erste, der die Konzerte von Sibelius und Prokofjew auf LP einspielte. Für Freunde des Geigenkonzerts ist diese superb klingende SACD ein unverzichtbares Dokument dieses berühmten Violinvirtuosen, dessen Interpretationsstil unzählige spätere Einspielungen beeinflusst hat. Dabei erweist sich Heifetz besonders im Sibelius-Konzert gegenüber Vergleichsaufnahmen als beträchtlich schneller. Beim hierzulande leider eher selten gespielten klangvollen und auch melodisch inspirierten Glasunow-Konzert ist übrigens der seinerzeit infolge Krankheit nicht zur Verfügung stehende Fritz Reiner von seinem Kollegen Walter Hendl kompetent vertreten worden.

Zwei große Maestros des Taktstocks. Fritz Reiner (mit dem Chicago Symphony Orchestra) und Charles Munch (mit dem Boston Symphony Orchestra), bestreiten den glanzvollen Rest der zweiten Runde. Fritz Reiners Darstellungen der berühmten 9. Sinfonie Antonin Dvoráks und die ebenso hinreißend effektvoll interpretierte Scheherazade Rimsky-Korsakoffs sind Stücke, die jeden Freund sinfonischer Filmmusik zu begeistern vermögen und drum auch in der klassischen Hausapotheke griffbereit gehalten werden sollten. Brahms Erstling der Gattung Klavierkonzert mit dem Pianisten Leonard Rubinstein zählt nicht allein zu den besonders frühen Aufnahmen der Living-Stereo-Ära. Sie klingt dazu, obwohl „nur“ zweikanalig, nicht nur tadellos, sie bietet dieses Werk des jungen Brahms in einer zeitlos-stimmigen Interpretation.

Die Bostoner unter Charles Munch nehmen sich mit einem der größten Interpreten der alten Schule, Gregor Piatigorsky, das berühmte Schlachtross der Cellisten, Dvoráks Cellokonzert, und das Piatigorsky gewidmete Walton-Konzert vor. Piatigorsky hat das Cellokonzert William Waltons (Battle of Britain) nicht allein uraufgeführt, die vorliegende Aufnahme ist zugleich die Ersteinspielung des klangvollen Werkes. Es bietet in seinem gemäßigt modernen, stark mit Lyrismen durchsetzten Stil reizvollen Kontrast zum tschechischen Klassiker der Gattung. Und wohl kaum jemand, der einmal Charles Munch atemberaubende, scharf akzentuierte Interpretationen der Ravel-Stücke „Bolero“ und „La Valse“ gehört hat, dürfte davon unbeeindruckt bleiben.
Verbleibt noch ein letzter Titel im Bunde; einer, den man wohl als das Herzstück der 2. Staffel bezeichnen darf: die 1959er Aufnahme des für seine Zeit ungewöhnlich monumentalen, ja revolutionären Berlioz Requiems. Nicht umsonst bildete Hector Berlioz zusammen mit Franz Liszt und Richard Wagner ein sich gegenseitig (und andere) befruchtendes exemplarisches Triumvirat ihrer Zeit, die so genannte „Neudeutsche Schule“.

Die von Hector Berlioz (1803-1869) komponierte große Totenmesse, „Grande Messe des morts, op. 5“, wurde im Jahr 1837 uraufgeführt. Der für eine Aufführung benötigte Aufwand ist, abgesehen von den großen technischen Anforderungen an die Interpreten, mehr als nur beachtlich: Insgesamt ist ein Minimum von etwa 200 Mitwirkenden erforderlich, allein 10 Paar Becken und 16 Pauken werden benötigt. Neben dem Hauptklangkörper kommen vier im Saal sorgfältig platzierte Bläsergruppen zum Einsatz. Zusammen mit den sich schichtartig aufbauenden Choreinsätze ergibt sich zusammen mit dem Hall quasi eine Art früher Surround-Sound. Kein Werk zuvor hat nur annähernd vergleichbar den Raum als Klangkomponente in die Musik einbezogen. Zwar wurde das Stück zuerst zwiespältig aufgenommen, selbst von Wagner mit „viel Wirkung ohne Ursache“ und als „effekthascherisch“ bezeichnet. Man tut dem Berlioz-Requiem aber unrecht, wenn man es auf die nur ganz vereinzelten Klangausbrüche reduziert. Vielmehr macht die Musik nicht zuletzt wegen ihrer Kontraste und besonders durch die über weite Strecken eher vorherrschende Intimität besonders starken Eindruck. Die dabei raffiniert ausgeführten, zumeist eher leisen Effekte lassen die Vielschichtigkeit dieses keineswegs langweiligen Werkes deutlich zu Tage treten.

Charles Munchs Einspielung mit den Bostonern ist mittlerweile zwar rund 45 Jahre alt, hat aber an prächtiger Wirkung bis heute nichts eingebüßt. Auch klangtechnisch macht die jetzt als Doppel-SACD-Set wiederveröffentlichte Einspielung einen hervorragenden Eindruck; wie vorzüglich hier die Positionierung der verschiedenen Chöre und Bläsergruppen geortet werden, wie sauber und dynamisch sich die gerade im „Dies Irae“ gewaltigen klanglichen Schichtungen aufbauen, das besitzt nach wie vor Klasse. Ein Kritikpunkt bleibt allerdings anzumerken: Im Vergleich mit den meisten der bislang veröffentlichten Titeln der Reihe, bei denen durch attraktive Kopplungen auch von der Spielzeit ansehnliche Zusammenstellungen resultieren, hinterlässt das Berlioz Requiem als Doppel-SACD mit gerade mal knapp 84 Minuten einen doch etwas schalen Eindruck. Wieso hier nicht, wie bei der 1987er CD-Ausgabe (RCA-Red-Seal), mit Munchs ebenso glanzvoller Interpretation der „Symphonie fantastique“ gekoppelt worden ist, bleibt unverständlich, ist letztlich schade. Denn gerade diese Kopplung hätte bei dieser — natürlich auch so — wertvollen Veröffentlichung geradezu das ultimative Tüpfelchen auf das „i“ gesetzt.

Trotz dieser punktuellen Einschränkung bleibt (wie zu erwarten) auch für die zweite Staffel Living-Stereo-SACDs ein insgesamt eindeutig positives Fazit. Mögen einige der jetzt erstmalig in dreikanaliger Wiedergabe zu hörenden Aufnahmen manchem Hörer noch eine (entscheidende) Spur besser verräumlicht erscheinen; auch wer bislang „nur“ in der Lage ist CDs abzuspielen, kann an den klanglichen Verbesserungen schon jetzt teilhaben. Dem CD-Mix liegt die neue zweikanalige DSD-Stereo-SACD-Version zugrunde.

Im Internet finden sich übrigens teilweise Konkurrenzprodukte zum gegenwärtigen RCA/BMG-Projekt. So existiert beispielsweise von JVC (Japan) eine sehr teure SACD-Ausgabe der Bartók-Reiner-Einspielungen auf zwei Hochpreis SACDs (!). (Bei dieser bekommt der Käufer übrigens künstlichen Surround-Effekt inklusive.) Dagegen offerieren sich die vorgestellten RCA/BMG-Ausgaben deutlich entgegenkommender: Sie sind nicht nur meist großzügig bestückt, vereinen in der Regel zwei der ehemaligen LP-Schnitte auf einer SACD, sondern sind außerdem im Mid-Price-Segment angesiedelt. Das Aussehen (der sog. Look) der SACD-Hüllen der neuen Staffel ist gegenüber dem der ersten merklich verändert. Recht gewöhnungsbedürftig ist dabei allerdings die einiges Fingerspitzengefühl erfordernde (!) ungewöhnliche „Prozedur“, das Begleitheft zu entnehmen, ohne dieses dabei zu beschädigen.

Den Machern und denen, die das RCA/BMG-Projekt mitbetreuen gebührt entsprechendes Lob, wie auch anderen, die sich um die Erhaltung kultureller Werte verdient machen. Dabei helfen sie nicht allein hochwertige Interpretationen klassischer Musikstücke in Top-Qualität für die Nachwelt zu erhalten. Die jetzt besonders vorzüglich klingenden Ergebnisse belegen ja außerdem den superben Klang so manches Konzertsaales, wie der längst nicht mehr existierenden Orchestra Hall in Chicago. Dies alles lässt bereits jetzt der dritten Staffel der Reihe mit einiger Vorfreude entgegenharren.

Komponist:
Gershwin, George

Erschienen:
2005
Gesamtspielzeit:
79:22 Minuten
Sampler:
BMG
Kennung:
SACD 82876 61393 2
Zusatzinformationen:
Boston Pops Orchestra, Arthur Fiedler

Weitere interessante Beiträge:

Tristan & Isolde

Tristan & Isolde

Der Schuh des Manitu (Hörspiel)

Der Schuh des Manitu (Hörspiel)

Iris

Iris

Scott of the Antarctic

Scott of the Antarctic

Cinemusic.de