Wenn sein Terminkalender es ihm erlaubt hätte, hätte Don Davis außer dem zweiten Kino-Score zu Matrix: Reloaded und den Scores für die neun thematisch verwandten Animations-Kurzfilme The Animatrix wohl auch noch die Musik zum Videospiel „Enter the Matrix“ geschrieben. Da das Spiel mit etlichen Auftritten der echten Darsteller jedoch erstmals parallel zu den Filmdreharbeiten produziert wurde, musste sich Davis in der Postproduktionsphase verständlicherweise auf den Kinofilm konzentrieren.
Die Vertonung des Videospiels legte der Komponist in die Hände seines vertrauten Mitarbeiters Erik Lundborg (∗ 1948), der in der Filmbranche bisher vor allem als Orchestrator (unter anderem seit 1999 regelmäßig für Davis) in Erscheinung getreten ist. Die beiden Kollegen verfuhren dabei ähnlich wie Davis und John Williams bei Jurassic Park III. Lundborg standen alle Notenmaterialien der ersten Matrix-Partitur, der Animatrix-Episode Flight of the Osiris und teilweise auch der damals gerade in Arbeit befindlichen Reloaded-Musik zur Verfügung. Seine Aufgabe bestand darin, in ständiger Rücksprache mit Davis dessen motivisches Ausgangsmaterial für das Spiel zu arrangieren und eigene Stücke im etablierten avantgardistischen Davis-Matrix-Stil beizusteuern.
Das Ergebnis sind annähernd drei Stunden (großteils orchestraler) Musik. Welch irrwitziger Aufwand heutzutage mitunter für Computerspiele betrieben wird, macht noch eindrucksvoller die Anzahl von rund 1000 (!) Partiturseiten deutlich. Etwas mehr als eine halbe Stunde des riesigen Scores – vorrangig Actionpassagen für Kampfszenen – sind laut Lundborgs Angaben seine eigene Kreation, wobei er aber auch in diesen Teilen auf Motive von Davis zurückgreift.
Erik Lundborg weiß mit einem großen Orchesterapparat umzugehen. Während seiner vier Jahrzehnte umfassenden Laufbahn hat der in Boston und New York ausgebildete neben Kammermusik vor allem zahlreiche Ballettmusiken, symphonische Dichtungen, Instrumentalkonzerte und andere orchestrale Werke komponiert. Wie viele talentierte und produktive amerikanische Komponisten seiner Generation ist er trotz beachtlichem Werkkatalog, permanenten Kompositionsaufträgen von Orchestern und Stiftungen sowie mehreren Auszeichnungen und Stipendien außerhalb des provinziellen US-Konzertbetriebs dennoch praktisch unbekannt. Ein Schicksal, dass viele teilen, die wie er keinen Vertrag mit einem der Global Player der Plattenindustrie haben und daher diskographisch und kommerziell gleichsam nicht existent sind (in Lundborgs Fall scheinbar noch nicht einmal auf kleinsten, aber feinen Labels wie z. B. Denouement Records).
„Enter the Matrix“ sagt freilich nicht allzu viel über die individuellen Fähigkeiten des Komponisten Lundborg aus. Die von seiner Agentur in Umlauf gebrachte 47-minütige Promo-CD bestätigt, was er in Interviews stets betont: dass es sich hier hauptsächlich um eine quantitativ gewaltige Adaptions-Arbeit des Davis-Materials handelt. Die CD ist in fünf Abschnitte – „Action/Fighting“, „Suspense“, „Impending Danger“, „Asian Wind“ und „Cineractives“ – gegliedert und liefert genügend Nachschub für jene, die sich an den bekannten brachialen ostinaten Rhythmen, dissonanten Bläser-Clustern, verschachtelten kontrapunktischen und polyphonen Strukturen aus Don Davis’ Matrix-Scores nicht satt hören können.
Von Lundborgs weitgehend eigenständigen Beiträgen scheint auf der CD eher wenig vertreten zu sein. Ich muss an dieser Stelle ohnehin eingestehen, dass mir selbst die einigermaßen gute Kenntnis der beiden Davis-Scores bei dieser Art von Musik nicht dabei hilft, immer mit Sicherheit festzustellen, wo Davis aufhört und wo Lundborg beginnt. Das ist einerseits beachtlich, da es dem Komponisten gelungen ist, sich zu Gunsten des einheitlichen Matrix-Musikdesigns künstlerisch selbst zu verleugnen. Andererseits zeigt es indirekt auch die Grenzen des von Davis gewählten musikalischen Konzepts auf. In den Filmen funktioniert seine Musik hervorragend, und auch kann niemand behaupten, dass sie nicht von raffinierter Arbeit mit kurzen Motiven und ausgezeichneter, einfallsreicher Orchestrierung geprägt sei. Dennoch sind ihren Hörqualitäten außerhalb des Films – besonders angesichts der schieren Menge relativ ähnlich gelagerter Musik – gewisse Grenzen gesetzt. Im Einzelnen als ungewöhnliches Klangerlebnis überzeugend bis sogar beeindruckend, scheint bisher ein größerer musikdramatischer Rahmen über die geradezu mikroskopische Motivarbeit hinaus zu fehlen, der die sich bald über drei CDs erstreckende musikalische Matrix-Trilogie auch ohne Filmbilder tragfähig und durchgehend anhörbar machen würde. Ohne einen solchen Rahmen, der selbstverständlich nicht zwingend ist (siehe Jerry Goldsmiths [url id=1234]Planet of the Apes[/url], in dem ebenso fast ausschließlich mit kleinsten Musikpartikeln gearbeitet wird), gelingt es erfahrungsgemäß aber nur ganz wenigen Musiken, den Hörer dauerhaft zu fesseln. Ob die Matrix-Scores dies zu leisten vermögen, dürfte daher in besonderem Maße vom persönlichen Geschmack des Hörers abhängen.
Ungeachtet dieser grundsätzlichen Bedenken ist Lundborgs „Enter the Matrix“ sicher eine sehr kompetent gearbeitete Ergänzung und Erweiterung zu den Davis-Ideen, die Bewunderer der Originalmusiken auf jeden Fall zufriedenstellen wird. Vorerst scheint keine offizielle CD-Veröffentlichung geplant zu sein. Lundborgs Arbeit kann von einem größeren Publikum derzeit also nur direkt im Computerspiel begutachtet werden. Falls sich dieses wie erwartet zum Verkaufsschlager entwickelt, wären die Bedingungen für ein kommerzielles Album auch tantiemenrechtlich günstig, da die Musik von einem Re-Use-Fee-freien Orchester in Seattle aufgenommen wurde. Nebenbei bemerkt mit einer Professionalität (unter Leitung des Komponisten), die bei US-Produktionen mit kleinerem Budget auf öfteres Ausweichen in diese Stadt hoffen lässt, wenn London und Prag aus irgendwelchen Gründen nicht in Frage kommen.