Der Klassik-CD-Tipp, 4-2019: Haitink zum 90sten (Mahler & Bruckner)

Geschrieben von:
Michael Boldhaus
Veröffentlicht am:
10. April 2019
Abgelegt unter:
Klassik

Bernard Haitink zum 90sten: Zurück zu den Wurzeln, den Jahren bei Philips

Der niederländische Dirigent Bernard Haitink wurde am 4. März 1929 in Amsterdam geboren. Nach dem Studium am dortigen Konservatorium spielte er zuerst als Geiger in einer Reihe von Orchestern. Das Dirigieren lernte er bei Felix Hupka und Ferdinand Leitner in den Jahren 1954/55. Bereits 1955 wurde Haitink zweiter Dirigent des Niederländischen Radiosinfonieorchesters und stand im darauffolgenden Jahr im Alter von nur 27 zum ersten Mal vor dem berühmten Amsterdamer Concertgebouw-Orchester, dessen jüngster Direktor er im Jahr 1961 wurde.

Im März dieses Jahres beging der renommierte Dirigent seinen 90. Geburtstag. Aus Anlass dieses runden Jubiläums ist Universal wahrlich zurück zu den Wurzeln von Bernard Haitinks Einspielungen auf Tonträger und damit zu den Aufnahmen seiner frühen Jahre bei Philips zurückgegangen. Mit den beiden hier vorliegenden Sets knüpfte der junge Haitink an die großen Traditionen des bedeutenden Klangkörpers an, dem zu seinem 100-jährigen Jubiläum 1988 von Königin Beatrix das Prädikat „Koninklijk“ (Königlich) verliehen wurde und das seither international als Royal Concertgebouw Orchestra firmiert. Willem Mengelberg begründete die Mahler-Tradition und dessen Nachfolger Eduard von Beinum die Bruckner-Tradition des Concertgebouw.

Die beiden Geburtstags-Sets, bestückt mit den in der ersten Hälfte der 60er Jahre begonnenen Einspielungen der kompletten Sinfonienzyklen von Anton Bruckner und Gustav Mahler, sind gegenüber früheren Veröffentlichungen jetzt nach neuestem Stand der Technik komplett neu digital überarbeitet auf dem Decca-Label herausgebracht worden. Die im stabilen Pappschuber befindlichen Datenträger sind dabei jeweils in soliden 2er-Kartonstecktaschen untergebracht. Auf den Innenseiten finden sich dazu praktischerweise die Infos zum Inhalt (Tracklisting) der zugehörigen Datenträger. Dabei sind Vorder- und Rückseite nostalgischerweise mit den originalen, freilich eher unspektakulär und etwas bieder wirkenden Philips-LP-Covern geschmückt. Bei der Audio-Bluray des Mahler-Sets ist stimmigerweise als Frontcover das der Sinfonien-Komplett-LP-Box und auf der Rückseite das LP-Cover zur als Bonus (nur auf der BD) vertretenen, 10 Jahre nach der Ersteinspielung im Jahr 1972 erfolgten Neueinspielung der 1. Sinfonie verwendet worden.

Neben den Sinfonien sind im Mahler-Set erfreulicherweise auch die Vokalsinfonischen Werke, die Haitink zwischen 1970 und 1976 eingespielt hat, ebenfalls enthalten: „Das Lied von der Erde“, „Das klagende Lied“ sowie die Liederzyklen „Lieder eines fahrenden Gesellen“, „Des Knaben Wunderhorn“ und „Kindertotenlieder“, vorgetragen von unverwechselbaren, charaktervollen Vokalisten wie Jessye Norman und Hermann Prey.

Annähernd parallel zum Mahler-Zyklus entstanden auch die Bruckner-Einspielungen der neun Sinfonien und des Te Deums. Besonders bemerkenswert ist dabei, dass Haitink die seinerzeit noch weitgehend vernachlässigte, fälschlicherweise als eher unbedeutendes Frühwerk angesehene „Nullte“ bereits im Jahr 1966 zusätzlich mit aufgenommen hat. Zwar hat Haitink in den folgenden Dekaden häufiger Mahler- und Brucknersinfonien (viele mehrfach) mit anderen Orchestern, etwa dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, aufgeführt. Allerdings resultierte daraus bislang nie wieder ein kompletter Bruckner- oder Mahler-Sinfonienzyklus.

Haitink, der auf dem Standpunkt steht, Musik spreche aus sich selbst, mag den Begriff Interpretation nicht. Er sieht den Dirigenten vielmehr in einer dienenden Funktion, als Sachwalter und Erfüllungsgehilfen des jeweiligen Komponisten. Entsprechend war er nie ein Selbstdarsteller, vielmehr waren und sind seine Auftritte als Dirigent immer dezent geblieben, geprägt von zurückhaltender Gestik beim Dirigieren und ebenso beim Medienrummel: Unaufgeregt und frei von irgendwelchen Mätzchen oder sonstwie aufgesetzten Posen, stand bei ihm stets eine analytisch versierte, detailgenaue Darstellung des Notentextes und damit eine im Ausdruck abseits der Extreme anzusiedelnde Werkwiedergabe im Vordergrund. Heutzutage, wo sich Dirigenten vielfach an den Erkenntnissen der historisch informierten Aufführungspraxis orientieren, erscheint Haitinks Herangehensweise wohl besonders zeitgemäß. Dafür ist ihm, der das Understatement liebt, geraume Zeit das weniger Medienwirksame als fehlendes Charisma und zudem eine Leidenschaft vermissen lassende Nüchternheit im Ausdruck attestiert worden. Aber nicht zuletzt die jüngere Generation des musikalischen Nachwuchses schätzt die Solidität und das Unprätentiöse seines Auftretens, z.B. beim Lucerne Festival, wo er seit 2011 jährlich zum Oster-Festival Meisterkurse für junge Dirigenten gibt. Haitink, der am Vierwaldstättersee ein Domizil besitzt, ist seit 2002 Chefdirigent der Staatskapelle Dresden.

Der Rezensent ist mit Haitink erst mit dessen vorzüglichen Schostakowitsch-Zyklus für Decca – siehe dazu auch „Kleine Klassikwanderung 33“ –, eingespielt in den Jahren 1977 bis 1984, sowie seinem zwischen 1984 und 1998 entstandenen, ebenfalls starken EMI-Zyklus (heute Warner Classics) der Sinfonien von Ralph Vaughan-Williams so richtig auf Tuchfühlung gegangen. Insofern war die jetzige erste eingehendere Begegnung mit seinen frühen Mahler- und Bruckner-Einspielungen ganz besonders reizvoll. In vielem belegen die beiden in den 1960er Jahren begonnenen, jetzt als schick rausgeputzte Jubiläumsausgaben vorliegenden Sinfonien-Sets den hohen Rang des damals noch jungen Dirigenten wie auch des exzellenten Klangkörpers, der mit superbem Orchesterspiel und ungemein warmem Klang aufwartet. Haitinks frühe Darstellungen sind wohl in besonderem Maße in der Mitte des Denkbaren anzusiedeln. Sie wirken unpathetisch, versonnen, mitunter vielleicht auch etwas kühl, sind aber nie langweilig. Wobei im spätromantisch üppigen Orchesterklang durchaus auch mal geschwelgt wird, freilich ohne dabei dick aufzutragen. Und so glänzt Mahler hier nicht nur in markant ausmusizierten Steigerungen und zeichnet sich zugleich durch besonders sorgfältig beachtete abwechslungsreiche Tempi aus. Er wirkt entspannt und ist dabei insgesamt auch weniger laut als er gerade heutzutage häufiger gespielt wird. Haitinks Bruckner bleibt ebenfalls bodenständig, setzt das unerlässliche Pathos in den monumentalen Steigerungen nur wohldosiert ein. Die Darstellungen bleiben so in ihrer leuchtkräftigen, prächtigen Gesamtwirkung unpathetisch und meiden ebenso den mancher Einspielung allzu ausgeprägt innewohnenden sakralen Weihrauch.

Der Klang beider Sets ist tadellos, sehr voll und dynamisch, auf einem soliden Bassfundament ruhend und lässt auch die Raumwirkungen insbesondere bei der Mahler’schen Sinfonik schön zur Geltung kommen. Vom vereinzelt zu den Philips-LP-Aufnahmen zu lesenden „muffigen“ Klang, kann hier absolut nicht die Rede sein. Dezent auffällig ist freilich der selbst bei Aufnahmen von Anfang der 70er Jahre, noch besonders merkliche Rauschpegel. Decca hatte dazu bereits seit 1967 erfolgreich auf Dolby A gesetzt, wofür man sich bei Philips offenbar nicht erwärmen konnte. Dass sich neben den üblichen CDs auch noch eine Blu-ray Audio mit an Bord befindet, ist zweifellos etwas, das auf die High-Tech-Freaks abzielt. Für den Käufer besitzt die Blu-ray-Präsentation unabhängig von sämtlichen, oftmals völlig überzogenen Qualitätsdiskussionen einen klaren Vorteil: Da sich aufgrund der hohen Datenkapazität alles auf einem einzigen Datenträger befindet, entfallen bei der Wiedergabe unschöne Unterbrechungen, die aus der Kapazitätsgrenze der CD mitunter resultieren. Beide Haitink-Zyklen sind in der aktuellen Ausgabe erfreulicherweise bei der CD-Belegung derart großzügig und damit fein ausgestattet worden, dass nur einmal, wo es absolut unvermeidlich ist, CDs gewechselt werden müssen: nämlich ausschließlich bei Mahlers dritter Sinfonie. Die Begleithefte warten jeweils neben den Gesangstexten mit einem guten Einführungsartikel von Andrew Stewart auf.

Fazit: Gegenüber einigen der früheren Veröffentlichungen sind die beiden sehr empfehlenswerten aktuellen Sets zum 90. Geburtstag von Bernard Haitink nicht allein besser ausgestattet, sie befinden sich auch dank eines behutsam ausgeführten Remasterings klangtechnisch in einer Topform, welche das Alter der Einspielungen weitgehend vergessen lässt. Diese Produkte aus der goldenen Ära der Langspielplatte, ursprünglich aufgezeichnet auf Magnetband, sind jetzt in perfekt digitalisierter Form und damit frei von den diversen, systembedingten Unzulänglichkeiten der LP-Wiedergabe verfügbar, welche ehedem nur mit erheblichem Aufwand optimierbar war. Dass neben Bernard Haitink auch das Decca-Label seinen 90. Geburtstag begeht, sei der Vollständigkeit halber noch angemerkt.

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Erschienen:
2019/03

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