Schon einmal etwas von Leigh Harline (1907-1969) gehört? Bevor jetzt gerade jüngere Leser den Kopf schütteln, sollten sie sich zuerst noch die Frage beantworten, ob sie Close Encounters of the Third Kind kennen. John Williams zitiert in dieser Musik nämlich eine berühmte Harline-Melodie: den warmherzigen Song „When You Wish upon a Star“ aus Walt Disneys Zeichentrickfilm Pinocchio aus dem Jahr 1940 — übrigens, diese Musik ist ein Geheimtipp. Die meisten, denen der Name Harline überhaupt etwas sagt, assoziieren ihn ohnehin primär mit seinen Arbeiten für die Disney-Studios. Dass der Komponist nach seiner Arbeit an Pinocchio Disney verließ, als Freelancer arbeitete und während dieser Zeit zumindest als Ko-Komponist an einer Vielzahl interessanter Filmmusiken mitgearbeitet hat, wissen nur diejenigen, die bei vielen der alten Filme aufmerksam die Rollen-Titel gelesen haben.
Während der frühen CinemaScope-Ära vertonte Harline für 20th-Century-Fox im Jahr 1954 den Western Broken Lance • Arizona (auch unter dem Titel Die gebrochene Lanze gezeigt). In Regisseur Edward Dmytryks recht unterhaltsamen Film geht es um den herrschsüchtigen Großrancher Matt Devereaux (Spencer Tracy), der nicht einsehen will, dass die Pioniertage des Westens vorüber sind. Handlungsbestimmend sind — neben Konflikten mit dem Gesetz — große innerfamiliäre Spannungen. Joe (Robert Wagner), der jüngste Sohn — aus Matts zweiter Ehe mit einer Indianerin — nimmt sogar eine Gefängnisstrafe auf sich, um den Vater zu schützen. Er schwört Rache, als seine drei charakterschwachen Brüder den Vater ruiniert und in den Tod getrieben haben. Nachdem Joe die finale Konfrontation mit seinem ältesten Bruder, Ben (Richard Widmark), überlebt hat, zerbricht er das Symbol der Rache: die auf dem Grab des Vaters aufgepflanzte Lanze.
Harlines markante, eigenständige musikalische Lösung ist eine Art Synthese aus der Wärme und Verbindlichkeit Alfred Newmans sowie der Kühle und Strenge eines Hugo Friedhofer (und/oder Franz Waxman) — wobei die für die Indianer stehenden Klangschemata auf den vom Vater der Tonfilmmusik, Max Steiner, begründeten Standards aufbauen (siehe auch Steiners They Died with Their Boots On und Friedhofers Broken Arrow) und zugleich auf Cheyenne Autumn (1963) von Alex North verweisen.
Eine prägnante Tonfolge für den Patriarchen Matt Devereaux erklingt gleich zu Beginn des Main Title und erweist sich als essentielles Motiv des gesamten Scores. Neben kraftvollen, packend dramatisch gestalteten breitorchestralen Passagen stehen lyrisch-warme und kammermusikalisch-transparent gehaltene, von Holzbläsersoli (insbesondere des Englischhorns) dominierte Teile: z. B. ein herrlich inspiriertes Love-Theme für die Affäre zwischen Joe und der Tochter des Gouverneurs, ein — in bester John-Ford-Tradition — eingearbeitetes irisches Volkslied und auch Copland-Americana fehlt nicht. Leigh Harline hat zu Broken Lance eine raffiniert ausgefeilte Westernmusik geschaffen, wie sie besser kaum sein kann. Eine, die den Vergleich mit den gelungensten Arbeiten dieses Filmgenres — Arbeiten von Dimitri Tiomkin über Alfred Newman und Max Steiner bis zu Hugo Friedhofer — nicht zu scheuen braucht!
Anzumerken bleibt noch der herausragende Zustand der Magnetton-Master: Derart klar, sauber und frisch klingend sind nur wenige filmmusikalische Aufnahmen aus dieser Zeit erhalten geblieben; die Qualität ist durchaus mit jener der besten legendären Living-Stereo-Aufnahmen der 50er zu vergleichen (siehe Living-Stereo-Artikel) — und gereichte dazu manch deutlich blasser klingendem Master-Tape der 60er zur Ehre.
Leigh Harline gehört, ähnlich wie sein Kollege Roy Webb (siehe auch The Cat People), zu den nahezu Vergessenen des Golden Age. Das FSM-Album mit der Musik zu Broken Lance ist die zur Zeit einzige reine Harline-CD auf dem Markt. Neben der edlen musikalischen Qualität ist es der hervorragende Repertoirewert dieses erstklassigen Albums, der einen Zuschlag in der Bewertung auf volle 6 Sterne rechtfertigt.