Mit dem Nibelungenorchester gegen die Nazis: Bernard Herrmanns „Die Schlacht an der Neretva“
Das bewährte Trio von „Tribute Film Classics“, Anna Bonn, John Morgan und William Stromberg, tritt nach einer rund zweijährigen Pause seit der letzten CD-Veröffentlichung erfreulicherweise wieder aktiv in Erscheinung. Das aktuelle Album war ursprünglich zu Bernard Herrmanns 100. Geburtstag 2011 vorgesehen. Obwohl bereits im Herbst 2010 eingespielt, gelangte das fertige Produkt allerdings erst im Januar 2012 in den Verkauf. Das vermittelt zumindest indirekt einen Eindruck von den großen Schwierigkeiten, die (nicht allein) Tribute mit der Refinanzierung seiner aufwändigen Neueinspielungsprojekte klassischer Filmmusikpartituren hat.
Die Filme: Battle of Neretva & The Naked and the Dead
Battle of Neretva (Originaltitel Bitka na Neretvi) • Die Schlacht an der Neretva (1969) ist ein aufwändiges Weltkrieg-II-Schlachtengemälde, das eine wichtige Episode aus dem Kampf der Tito-Partisanen gegen die Deutschen und Italiener im ersten Halbjahr 1943 auf die große Leinwand bringt. Für Jugoslawien war es seinerzeit die bislang aufwändigste Leinwandproduktion überhaupt. Das unter jugoslawischer Federführung entstandene Prestigeprojekt ist letztlich eine Koproduktion, die zusätzlich sowohl mit deutschem, italienischem wie auch amerikanischem Geld realisiert worden ist. Das lassen in der Besetzungsliste auftauchende Namen wie Curd Jürgens, Hardy Krüger, Franco Nero und Renato Rossini bereits erahnen. Wobei internationale Stars wie Yul Brynner und Orson Welles für Interesse auf dem US-Markt sorgen sollten.
Im jugoslawischen Original ist das Opus 175 Minuten lang. Sämtliche im Ausland vertriebenen Fassungen sind dagegen deutlich kürzer, wobei die erste deutsche Schnittfassung mit 154 Minuten wohl die längste im Westen zu sehende Version ist. Daneben waren vor allem in späteren Jahren auch drastisch zusammengeschnittene Fassungen von deutlich weniger als 100 Minuten im Umlauf.
Den Film habe ich vor einer halben Ewigkeit mal in einer TV-Ausstrahlung gesehen, wobei ich nicht mehr mit Sicherheit zu sagen vermag, ob es sich dabei wirklich um die 154-minütige oder eine kürzere Version gehandelt hat. Allzu positive Erinnerungen sind bei mir jedenfalls nicht haften geblieben. Letztlich soll den Partisanen ein Denkmal gesetzt werden. Entsprechend ist Pathos deutlich spürbar, das am Tito- und die Kommunisten verherrlichenden Mythos arbeitet, auch wenn Besagtes freilich nicht mehr derart dick aufgetragen wird wie in Produktionen der 1950er oder gar den Propagandafilmen der 1940er. In diesem Punkt, wie auch in so manch verwendeten Klischees, ist Battle of Neretva klar ein Kind seiner Zeit. Vergleichbares findet sich z. B. in sehr ähnlicher Form auch in dem fünfteiligen sowjetischen Epos über den „Großen Vaterländischen Krieg“, Befreiung (1967-71).
Aber auch das, was neben der dezent geklitterten Geschichtsbetrachtung zu sehen ist, hinterließ keinen besonders packenden Eindruck. Die Gefechtsszenen sind mir eher als banales, relativ unbeholfen choreografiertes Baller-Spektakel, angereichert mit übertriebener Pyrotechnik, in Erinnerung geblieben, denn als seriös in Szene gesetzte Kriegsaktionen. Die arg zusammengeklaubte, wenig Wert auf historische Authentizität legende Ausstattung gibt dem Ganzen dann den Rest. Alles in allem ist Neretva ein eher blasses Kriegsepos, das jedoch ähnlich wie im Falle des mindestens vergleichbar flauen The Devil’s Brigade • Die Teufelsbrigade (1967, Musik: Alex North) über eine sehr beachtliche Musik verfügt.
In The Naked and the Dead (1958) nach Norman Mailers 1948 erschienenem Roman geht es um Männer im Krieg und dabei letztlich um den Alltag einer Gruppe von Soldaten im mörderischen Pazifikeinsatz. Wobei Mailer seine Geschichte historisch nicht exakt fixierte, sondern realen Vorfällen Nachempfundenes an rein fiktiven Orten und Personen spiegelt. Im Ergebnis wird die Sinnlosigkeit des Krieges am verlustreichen Einsatz einer US-Kompanie eindringlich veranschaulicht, deren Opfer sich am Schluss als völlig überflüssig erweisen. Der unprätentiöse Film ist immer noch sehr sehenswert, da er interessante psychologisierende Charakterstudien in den Mittelpunkt stellt und im Übrigen auch atmosphärisch erheblich besser abschneidet als das eher vordergründig heldische, jugoslawische Neretva-Epos.
Erstmalig komplett auf Tonträger: Bernard Herrmanns Musik zu Battle of Neretva
Das mit Abstand Interessanteste an Battle of Neretva ist die Herrmann-Musik, die zuvor nur als knapp 31-minütige Zusammenstellung auf einer 1975 bei John Lashers Entr’acte-Label erschienenen LP (späterhin auch als CD) zugänglich war.
Im 32-seitigen, gewohnt sehr informativen und außerdem gut illustrierten Begleitheft vermittelt Jim Doherty interessante Einblicke, sowohl in die Filmproduktion als auch zur ausschließlich für den internationalen Markt komponierten Bernard-Herrmann-Filmmusik, im Artikel mit dem bezeichnenden Titel „The Enigma of Neretva“/„Das Rätsel von Neretva“.
Manches dabei erscheint nämlich in der Tat rätselhaft. So hat Herrmann, der ins Boot geholt wurde, als die 127-minütige britische Schnittfassung produziert wurde, wohl überhaupt nicht eine fertig editierte Fassung vertont. Es scheint erheblich wahrscheinlicher, dass er sich an den markanten Punkten in der ihm gezeigten jugoslawischen Komplettfassung orientierte, und so letztlich ein rund einstündiger Musik-Vorrat resultierte, der späterhin im Schneideraum nach Belieben passend angelegt werden konnte. Dabei taucht merkwürdigerweise wiederum etwa ein Drittel der insgesamt 30 Stücke der Gesamtpartitur im fertigen Film überhaupt nicht auf. Dazu zählen der bereits von der LP/CD-Kompilation bekannte und sehr markante Partisanenmarsch (Track 30, „End Title“) sowie das Finale. Die übrigen Stücke sind meist mehr oder weniger stark gekürzt eingesetzt. Dafür sind einzelne Teile davon x-fach wiederverwendet auffindbar. Die Herrmann-Musik fand ausschließlich in für den internationen Markt bestimmten Kopien Verwendung. Die jugoslawische Originalfassung und auch die deutsche wie italienische Schnittfassung enthalten eine in Umfang und Ausdruck sehr zurückhaltende und sparsame Musikuntermalung von Vladimir Kraus-Rajteric.
Außerdem fällt gerade im Vergleich mit der LP/CD-Kompilation mit den veröffentlichten Teilen der Originaleinspielung auf, dass Herrmann besonders im bislang ungehörten Musikanteil zu Neretva so manches aus seinen Film- und Konzertkompositionen wiederverwendet hatte. Unmittelbar sticht da für den Hörer die Mordsequenz aus Torn Curtain hervor, deren fünf-nötiges Eröffnungsmotiv in Neretva, erstmalig in „Nazi Attack“ auftauchend, zum Leitmotiv für die Nazi-Wehrmacht wird. Desweiteren findet sich recyceltes Musikmaterial aus dem Klarinettenquintett „Souvenirs de Voyage“ sowie aus der Sinfonie von 1941, und neben einem nicht verwendeten Stück aus Fahrenheit 451 kommen sogar insgesamt fünf Piècen aus On Dangerous Ground erneut zum Einsatz. Besonders markant ist davon das von den Moskauern unter Bill Stromberg absolut mitreißend gespielte „The Death Hunt“, das Herrmann, wie auch das übrige adaptierte Musikmaterial, in der Instrumentation angepasst, also entsprechend verstärkt hat. Herrmann hat für die Neretva-Musik nämlich ein knapp 100 Musiker umfassendes Mammut-Ensemble vorgesehen, dass neben einer groß besetzen Sektion schweren Blechs (neun Hörner, je sechs Trompeten und Posaunen) auch über eine dreifache Schlagwerksektion verfügt.
Bernard Herrmanns Musik zu The Naked and the Dead
Eine 16-minütige Suitenkompilation mit den Highlights aus der Musik zur Norman-Mailer-Verfilmung bringt das vorliegende TFC-Album nicht nur auf die attraktive Gesamtspielzeit von rund 78 Minuten. Diese weitere Herrmann-Kriegsfilmvertonung sorgt nämlich außerdem für einen faszinierenden Kontrast zu der Klangwelt, die der Komponist für Neretva gewählt hat. Herrmann hat in dieser Filmpartitur nicht nur ausschließlich auf Bläser, Harfe und Schlagwerk gesetzt. Der Tonfall der Musik ist insgesamt noch deutlich moderner als sonst bei Herrmann üblich. Abgesehen vom am Anfang und Ende erklingenden, minimalistischen Kriegsmarsch sind im Score weder Themen noch Motive auszumachen, mit denen gezielt gearbeitet und gestaltet wird. Die damit in besonderem Maße modernistisch wirkende Filmmusik erscheint vielmehr fast durchweg auf Klangfarben bezogen. Allein im vorletzten Track, „Gebet und Rettung“, findet sich eine kurze choralhaft anmutende Passage. Kevin Scott versorgt dazu in seinem Begleitheftartikel, „The Power of The Naked and the Dead“, den Leser mit wertvollen Infos zur Entstehung des Films und zur Filmmusik.
Resümee
Battle of Neretva (1969) und The Naked and the Dead (1958) sind die beiden einzigen Beiträge, die Bernard Herrmann für das Genre Kriegsfilm komponierte. William Stromberg hat sich bei beiden Scores in Tempi und Intonation spürbar an den Original-Einspielungen orientiert. Punktuell ist er sogar etwas zügiger als das Original. Zusammen mit den Musikern des Moskauer Sinfonieorchesters hat Stromberg ein weiteres Mal eine erstklassige Neueinspielung vorgelegt. Da geht es, wo geboten, sehr kraft- und effektvoll zur Sache, aber in den intimeren Momenten wiederum auch sehr einfühlsam. Aufnahme- und Abmischungstechnik haben das komplexe Klangbild zudem vorzüglich, betont analytisch, hallarm und damit exzellent durchhörbar eingefangen. Der analytische Aspekt wird auch noch dadurch unterstützt, dass Stromberg bestimmte Instrumente anders aufgestellt hat als üblich, um bestimmte Klangeffekte klarer herausarbeiten zu können, beispielsweise indem er die sechs Posaunen als zwei Dreier-Gruppen links und rechts, also einander gegenüber platziert hat.
Wer sich nicht zu der Sammlerklientel zählt, welche die Bedeutung der jeweiligen Originaleinspielung mitunter geradezu mythisch überhöht einstuft, der liegt hier richtig. Das aktuelle Herrmann-TFC-Album ist aber in jedem Fall auch eine lohnende Anschaffung für diejenigen, die von Neretva bereits die seit Mitte der 1970er zugänglichen Originaltracks besitzen, denn diese allein werden der Musik nicht wirklich gerecht. Neretva erweist sich dabei besonders in den jetzt erstmalig überhaupt zu hörenden Musikteilen als eine mitunter geradezu außergewöhnlich brachiale Schlachtplatte der ganz besonderen, für den Komponisten — zumindest in Teilen — eher untypischen Art. Zwar ist Herrmann durchaus für seine extravagante Instrumentierung und außerdem für so manche stark besetzte, klangmächtige Passage bekannt. Aber so ausladend häufig, wie er in Neretva die Muskeln des voll besetzten Klangkörpers spielen lässt, das besitzt in seinem Œuvre doch absoluten Seltenheitswert. In welcher Quantität sich Herrmann hier gerade in den Kampfszenen auslässt, das ist zudem ganz besonders erstaunlich. Jim Doherty bezeichnet im Begleithefttext das fast fünfminütige „Battle and Fanfares“ geradezu als eine Hommage an Max Steiners komplett durchkomponierte Schlachtsequenz im 1936er The Charge of the Light Brigade.
Vergleicht man beide Neretva-Versionen, stehen sie einander spieltechnisch nur wenig nach, können, abgesehen vom eindeutig besser aufgelichteten Klangbild und auch dem erheblich größeren Dynamikumfang der Neueinspielung (das Original klingt zwar ordentlich, allerdings deutlich enger und flacher), als vergleichbar angesehen werden. Allerdings entsteht beim mit doppelter Lauflänge aufwartenden TFC-Album doch ein merklich anders gelagerter Eindruck von dieser späten Herrmann-Musik. Die rund dreißig Minuten zusätzlichen Materials sorgen hier nämlich für eine deutliche Akzentverschiebung: hin zu mehr Schroffheit und Grimmigkeit im Ausdruck. Dagegen wirkt die insgesamt nur halb so lange Lasher-Kompilation aus Originaltracks durch die prominenter erscheinenden, ja geradezu leitmotivisch agierenden Hauptthemen (dem breit melodisch angelegten und slawisch angehauchten für die Tito-Partisanen sowie den beiden integrierten Liebesthemen) in gewissem Maße (!) konventioneller. Dazu zählt auch das Finale, in welchem der noch in der Ferne liegende Sieg der Tito-Partisanen in sich raffiniert steigernden, jubelnden Fanfaren vorweggenommen und pathetisch überhöht wird. Auch unter diesen Gesichtspunkten nimmt diese Musik eine Sonderstellung im Œuvre des Komponisten ein. Insofern ist auch Jim Dohertys Steiner-Vergleich (s. o.) gar nicht abwegig.
Zwar mag manch einer die schon mit sehr dickem und breitem Pinselstrich aufgetragene, überaus brachial-wuchtige Schlachtplatte erst einmal als musikalischen Overkill empfinden. Aber Lautstärke ist kein Qualitätskriterium. Neretva ist, wenn auch nicht in der allerhöchsten Wertungskategorie angesiedelt, so doch eine sehr inspirierte und handwerklich über jeden Zweifel erhabene und auch in Anbetracht der genannten Aspekte hochinteressante Komposition. Die rund 60 Minuten sind darüber hinaus auch insgesamt, trotz des in nicht ganz unbedeutendem Umfang recycelten Musikmaterials, ein sehr gut funktionierendes, durchhängerfreies Hörerlebnis.
The Naked and the Dead ist unter den genannten Gesichtspunkten zweifellos die insgesamt feinfühligere und betonter psychologisierend angelegte der beiden Musiken. Die vorzügliche Aufnahmetechnik spielt beim so faszinierend räumlich abgebildeten Klangfarbenspiel dieser Komposition ihre Trümpfe denn auch ganz besonders elegant aus.
Dabei ist das Album unbedingt ein Leckerbissen für diejenigen HiFi-Freunde, die gern mal so richtig im opulent-wuchtigen Klang baden mögen. Man teste dazu nur „Nazi Attack“, das zwar zweifellos „laut“ ist, aber ebenso als eine in ihrer gnadenlos zermalmenden Wucht doch wiederum faszinierend in Töne gefasste Kriegsmaschinerie daherkommt, zu der sich außerdem beim Thema Kriegsfilmmusik wenig Vergleichbares finden lässt. Und das gilt ebenso für den hier geradezu fantastisch mitreißend musizierten Kriegsmarsch aus The Naked and the Dead. Vergleiche zur Musik anderer Komponisten gestalten sich bei Herrmann zwar praktisch immer schwierig, aber an dieser Stelle könnte man zumindest folgende ähnlich unkonventionelle marschartige Kompositionen anführen: das jeweilige Prelude zu Hugo Friedhofers Between Heaven And Hell (1958), In Love And War (1956) sowie zu Benjamin Frankels Battle of the Bulge (1968) oder auch den Kriegsmarsch zu Things to Come (1935) von Arthur Bliss.
Fazit: Das Herrmann-erfahrene TFC-Team hat auch mit dem vorliegenden Album wieder ins Schwarze getroffen, das die zwei einzigen und zugleich sehr unterschiedlich angelegten Kriegsfilmmusiken des großen Tonsetzers vereint. Zwar handelt es sich bei The Naked and the Dead eindeutig um den subtiler ausgeführten der beiden Herrmanns. Aber auch die hier erstmalig vollständig zugängliche, in Teilen besonders brachiale Musik zu Battle of Neretva hat schon noch einiges mehr zu bieten als das bislang verfügbare Material. Spiel-, aufnahme- wie begleithefttechnisch steht ebenfalls alles zum Besten.
Da bleibt nur inständig zu hoffen, dass diese wiederum sehr feine Offerte für die Filmmusikklientel von genügend Sammlern als solche wahrgenommen und zügig gekauft wird, denn sonst dürfte es womöglich bald außergewöhnlich still um das so verdiente TFC-Label werden. Dort steckt man nämlich unübersehbar in existentiellen Schwierigkeiten. So hat sich auch das zusammen mit dem vorliegenden Herrmann-Album bereits für Anfang März angekündigte Steiner-Projekt wiederum ganz erheblich verzögert. Das Doppelalbum Adventures of Don Juan & Arsenic and Old Lace ist erst kürzlich endlich erschienen.
Hier finden Sie einen Überblick über alle bei Cinemusic.de besprochenen CDs des Labels Tribute Film Classics.
Dieser Artikel ist Teil unseres Spezialprogramms zu Pfingsten 2012.
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