François Ozon (geboren 1967) hat sich seit Ende der 90er Jahre mit einer Reihe eigenwilliger, „unberechenbarer“ Filme einen Namen gemacht. Angel ist der zweite Ausflug des französischen Star-Regisseurs in das internationale Filmgeschäft und zugleich der erste in das Genre des Kostüm-Melodrams. Es geht um die junge extrovertierte Schriftstellerin Angel Deverell (Romola Garai), deren bewegendes Schicksal im Großbritannien des Fien de Siècle seinen Anfang nimmt. Als Vorlage diente der gleichnamige Gesellschaftsroman der Britin Elizabeth Taylor (nicht zu verwechseln mit der Schauspielerin gleichen Namens), erschienen 1957.
François Ozon hat mit Angel großes Gefühlskino im Stil der klassischen Hollywoodmelodramen der 40er und 50er Jahre inszeniert. Als Vorbild für seine Protagonistin schwebte ihm Scarlett O’Hara aus „Vom Winde verweht“ vor. In seinem bildgewaltig inszenierten Porträt der eher weltfremden Angel scheut er auch vor kitschigem Zuckerguss á la Douglas Sirk nicht zurück. Entsprechend sollte sich Komponist Philippe Rombi (Merry Christmas, César-Nominierung 2006) auch für seinen Kompositionsauftrag an entsprechenden Vertonungen Frank Skinners orientieren.
Nun, Skinners Vertonungen zu ähnlich gelagerten Filmen wie Magnificent Obsession (1953), Written on the Wind (1955), Interlude (1957), Imitation of Life (1959) und Madame X (1965) sind im positiven Sinne Orchesterscores alter Schule, sehr melodisch geprägt, dabei häufig durchsetzt mit Piano-Soli und gelegentlicher choraler Unterstützung. Orientiert an Max Steiner und Alfred Newman arbeitete Skinner nach dem Prinzip „Thema mit Variationen“, wobei er neben eigenen Themen auch gern aus bekannten Werken des klassischen Repertoires entlehnte verarbeitet hat. Diese Arbeiten Skinners wirken nicht erst heutzutage allerdings trotz ihrer handwerklich soliden Ausführung schnell etwas altbacken, sind vor allem partiell allzu gefühlsselig geraten. Spätestens, wenn zum eher konventionell-konservativen Orchestersound noch ein Frauenchor schmachtend säuselnd hinzutritt, ist die Grenze zum „typischen Hollywood-Kitsch“ — wiederum alter Schule — zweifellos und hoffnungslos überschritten.
Von den genannten musikalischen Ingredienzen Skinners findet sich in Rhombis Komposition zu Angel — im Positiven — einiges wieder: Eine breitorchestral ausgeführte, häufig klassizistisch anmutende, spätromantisch üppige Musik umschmeichelt den Hörer. Den Score bestimmen zwei breit ausgestaltete schwelgerische Hauptthemen. Da ist die direkt im ersten Track („The Real Life of Angel Deverell“) vorgestellte, sehr elegisch anmutende Tonfolge, der in Track 3 das so genannte „Paradise Thema“ zur Seite gestellt wird. Es erklingt dort zuerst vom Klavier und wird von Begleitfiguren der Streicher umspielt, wirkt dadurch träumerisch entrückt und wehmütig zugleich. Anschließend wird es vom vollen Orchester breit ausgespielt. Wobei besagtes „Paradiese Thema“ in der ersten Hälfte nicht allein im Notentext, sondern auch im Gestus mit dem mozartisch gefärbten Andante des 2. Klavierkonzerts von Dmitri Schostakowitsch ganz eng verwandt erscheint. Im als „Overture“ bezeichneten zweiten Stück des Albums erklingen übrigens beide Themen nacheinander. Zuerst erscheint das 1. in einer besonders unbekümmert und jugendlich frisch anmutenden Variante, und Thema Nr. 2 gesellt sich anschließend hinzu.
Über die gesamte Albumspielzeit erscheinen beide Themen fortlaufend in vielseitig abgewandelter Form, wobei zugleich vielfältige Stimmungen durchlaufen werden. Dafür ist auch die äußerst feinsinnig, mit viel Sinn für Klang ausgeführte Orchestrierung mitverantwortlich. Weiterhin sorgen Instrumentalsoli, in erster Linie des Klaviers, daneben von Cello, Klarinette, Violine und Flöte für weitere Abwechslung im Klanggeschehen und sorgen für einen konzertierenden Touch. Partiell tritt auch noch der Crouch End Festival Chorus vokalisierend hinzu. Letzterer verleiht diesen Passagen zwar schon eine gewisse Süße, der oben erwähnte Saccharin-Kitsch-Effekt so mancher Frank-Skinner-Vertonungen findet sich hier allerdings nicht.
Insgesamt erinnert dieser tänzerische und klangschwelgerische Score mit seinen vorzüglich ausgeführten thematischen Variationen in seiner Machart schon deutlich an die Vertonungen zu Melodramen im Golden Age. Das gilt allerdings in erster Linie im Sinne einer lockeren Orientierung. Als primär schematische Modelle kann man in der variationstechnischen Vielseitigkeit im Umgang mit den Hauptthemen z. B. Musiken wie Alfred Newmans Love is a many splendored Thing (natürlich ohne die Klangexotik), Victor Youngs Three Coins in the Foutain oder auch Max Steiners All this and Heaven too heranziehen. Zwischendrin erinnert die Art der Behandlung des Klaviers mit dem Orchester an Rachmaninoffs Klavierkonzerte und damit eben auch an R. Addinsells „Warschauer Konzert“. Desweiteren kann man an Teile der Ballettmusiken Tschaikowskis denken, weniger an den Nussknacker, dafür an „Schwanensee“ und „Dornröschen“ und außerdem an Ballettkompositionen des ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhunderts von Delibes bis zu Respighi. Und obendrauf noch mit einem Spritzer Schostakowitsch versehen, um den Klang dezent zu modernisieren und abzurunden.
Dem einen oder anderen Hörer mögen die gesamten 70 Minuten des Albumschnitts möglicherweise doch etwas lang erscheinen. Derartiges ist letztlich immer Sache des individuellen Geschmacks. Hier gestattet allerdings gerade die großzügige Gesamtspielzeit durch Programmieren problemlos individuell optimal funktionierende Hör-Zusammenstellungen zu fertigen. Ob man nun Rombis Angel in voller Länge oder lieber in kürzerer Fassung genießen mag, auch ohne Bezug zum Film ist dieses Colosseum-Album zweifellos in der Lage, viele Hörer dank seiner aparten Melodik, Ohrwurmcharme inklusive, unmittelbar in seinen Bann zu ziehen.
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