Carol-Reeds Film-Klassiker DER DRITTE MANN (1949), Kommentar zum Film

Geschrieben von:
Michael Boldhaus
Veröffentlicht am:
31. Dezember 2024
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Carol Reed (1906–1976) war ein englischer Filmregisseur und Produzent. Heutzutage ist Der dritte Mann (1949), der bereits bei der Premiere in London im September 1949 als Meisterwerk gefeiert und späterhin durch das British Film Institute sogar zum besten britischen Film des 20. Jahrhunderts gewählt worden ist, der mit Abstand bekannteste Film des Regisseurs überhaupt. Die Geschichte des skrupellosen Schwarzmarkt-Schiebers Harry Lime (Orson Welles) und seines dagegen etwas biederen, aber naiv-gutmütigen Freundes, des Autors bescheidener Groschenromane, Holly Martins (Joseph Cotten) zieht auch heutzutage immer noch in ganz besonderem Maße in ihren Bann. Die geschichtsträchtige, üblicherweise mit Gemütlichkeit und Walzerseligkeit assoziierte Donaumetropole Wien liefert hier als vom Krieg stark in Mitleidenschaft gezogene Stätte der Handlung einen geradezu außergewöhnlichen Hintergrund für die Kriminalstory um den sich beim Handel mit gepanschtem Penicillin rücksichtslos bereichernden Schiebers H. L..

Weitgehend ungestellt anmutende Natürlichkeit ist wichtiger Teil des überzeugenden Lokalkolorits dieses auch heutzutage noch so außergewöhnlichen wie beeindruckenden Schwarz-Weiß-Films, der durch seine Schmucklosigkeit zum einen neorealistisch ist, zum anderen aber mit seinem partiellen Noir-Touch auch auf Hollywoods Schwarze Serie verweist. Das Holly Martins, der sich im Verlauf der Handlung zunehmend für Limes Freundin Anna interessiert, am Schluss von dieser schlichtweg links liegen und einsam zurückgelassen wird zählt dazu.

Ein betont ironisch-sarkastischer Unterton ist nicht bloß im eröffnenden Off-Kommentar unüberhörbar. Produziert wurde während der sowjetischen Berlinblockade. Dazu ist hier im Prolog die gemeinsame Verwaltung des Wiener Stadtzentrums durch Amerikaner, Briten, Franzosen und auch Russen zu sehen. Den sarkastischen Höhepunkt bildet der zynische „Kuckucksuhr-Monolog“, den Harry Lime auf dem Riesenrad im Wiener Prater hält. Darin spiegelt sich der seinerzeit immer deutlicher heraufziehende Kalte Krieg und durch dessen Amoral auch die enttäuschten Hoffnungen darauf, dass nach dem Ende des vorherigen großen Krieges alles so viel besser werden würde. Die Auswirkungen auf die Wiener Bevölkerung zeigen sich, indem Letztere sich fast durchweg nur mehr als müde opportunistische Klientel präsentiert, die sich aus allem Politischen und was sonst leicht Ärger bereiten könnte heraushalten möchte. Und zu Beginn treibt einer von denen, die offenbar zu leichtsinnig waren  als Leiche in der hier nicht blauen, sondern eisigen Donau.

Zum quasi Dokumentarischen gehören aber nicht bloß die eindrucksvoll eingefangenen Schauplätze in der vom Krieg schwer gezeichneten Donau-Metropole, sondern ebenso diverse kleine Aspekte. Etwa der erste Auftritt Paul Hörbigers, der, des Englischen nicht mächtig, vor laufender Kamera Himmel und Hölle durcheinander bringt, oder ein in einer nächtlichen Szene durchs Bild eher torkelnder, ausgemergelter Ballonverkäufer, was den Hunger und Überlebenskampf in der ruinösen alten Kaiserstadt symbolisiert. Dabei zählt die insbesondere in den Nachtszenen mit ausgeprägten expressionistischen Schattenspielen und dazu häufig an Das Kabinett des Dr. Caligari erinnernden schiefen Kamera-Positionen operierende Arbeit von Robert Krasker zu den besonders prägenden Aspekten des Films, die auch in der brillant umgesetzten finalen Hetzjagd durch die Kanalisation nochmals exzellent zum Einsatz kommt. Letztere ist allerdings, wie auch manch andere Einstellung, nicht ausschließlich in Wien aufgenommen, sondern in Teilen in den Shepperton Studios produziert worden. Dabei ist es nicht immer einfach, die in aller Regel geschickt montierten Übergänge auszumachen.

Die wie eine traumhaft anmutende Reminiszenz aus längst vergangenen, besseren Zeiten die Filmszenen begleitenden, meist einschmeichelnden Soloklänge des Zitherspielers und Komponisten Anton Karas bilden zur meist eher tristen Hintergrundkulisse einen eher seltsam-unwirklich anmutenden Kontrapunkt, was zusammen mit der eigenwilligen Bildsprache dem Leinwandgeschehen auch einen surrealen Touch verleiht. Das Hauptthema wurde übrigens bereits im Jahr der Uraufführung rasch zum Selbstläufer und hat auch seinen Beitrag am sich im Anschluss über die Jahrzehnte entwickelnden Mythos um dieses außergewöhnlichen Films.

Hinter der Produktion standen der Brite Sir Alexander Korda — Der Dieb von Bagdad (1940) —, Executive Producer der London Films Productions und der unabhängige US-Produzent David O. Selznick — Vom Winde verweht (1939). Selznick wurde ins Boot geholt, um sich die amerikanische Vermarktung zu sichern. Er brachte zudem die bei ihm unter Vertrag stehenden Schauspieler Joseph Cotten und die kaum als Hollywood-Diva einzustufende, eher dezent unscheinbare Alida Valli, als Anna Schmidt die Freundin des Schurken Harry Lime verkörpernd, ein. Meist übersehen wird allerdings der mitentscheidende Einfluss des rund 40-köpfigen Außenteams der österreichischen Wien Film AG, darunter Techniker und auch Kameraleute wie Hans Schneeberger, der etwa den markanten Prolog gestaltet hat.

Das Drehbuch ist von Carol Reed und Graham Greene speziell für den Film verfasst worden, d.h. dass der Roman daraus erst nachträglich entstanden ist und nicht umgekehrt. Als Roman aufbereitet erschien das Buch erstmalig im Jahr 1950. Selznick, der praktisch keine Gelegenheit hatte, der Filmproduktion seinen Stempel aufzudrücken, war mit dem fertigen Film sehr unzufrieden. Entsprechend ließ er Der dritte Mann für die amerikanische Roadshowpräsentation nicht bloß neu schneiden. Der Film ist dabei auch um rund 11 Minuten gekürzt worden. Auch die erste westdeutsche Kinofassung weist ein paar, allerdings marginale Eingriffe und Kürzungen auf (nur rund eine Minute), die man kaum sinnvoll als Zensurschnitte ansehen kann.

Regisseur Oliver Reed trat infolge allerdings erst wieder knapp zwanzig Jahre später erneut ins Rampenlicht.  Sein opulent inszeniertes Musical Oliver wurde im Jahr 1969 mit insgesamt sechs Oscars — u.a. für Bester Film und Beste Regie — zum großen Sieger gekürt. Dagegen ging der auch heutzutage noch bestechend innovative 2001 – Odyssee im Weltraum von Stanley Kubrik nur mit einer Trophäe für die besten visuellen Effekte nach Hause. Mit Oliver erlebte der britische Regisseur Carol Reed seinerzeit ein spätes, unerwartetes Comeback, denn seine größten Erfolge Odd Man out ∗ Ausgestoßen (1947), The Fallen Idol ∗ Kleines Herz in Not (1948) und ganz besonders The Third Man ∗ Der dritte Mann (1949) lagen schon zwei Dekaden zurück.

Martin Scorsese, ein großer Verehrer von Der dritte Mann, ist der Meinung, dass Carol Reed von heutigen Kinogängern wiederentdeckt werden sollte. Angesichts der in recht kurzen Abständen veröffentlichten (s.u.) und dabei seit 2015 auch qualitativ besonders hochwertigen Vorläufer kann getrost auf eine weitere, etwa „80th Anniversary Edition“ des dritten Mannes verzichtet werden. Dafür sollte baldmöglichst neben einigen von Reeds hierzulande praktisch unbekannten Kriegsdokumentarfilmen auch The Fallen Idol und insbesondere Odd Man out, mit James Mason in der Hauptrolle dem Publikum in vergleichbarer Qualität zugänglich gemacht werden. Letztgenannter war übrigens der erste Film, den Reed auch als Produzent kontrollierte. Mason, erreichte mit seiner überzeugenden Darstellung eines irischen Widerstandskämpfers seinen internationalen Durchbruch. Gedreht wurde in Belfast und in den Denham Studios, wobei hier ebenso wie in Der dritte Mann die hervorragende Kameraarbeit von Robert Krasker hervorsticht. Im Resultat ist Odd Man out ein vergleichbar dichter und packender Schwarz-Weiß-Film wie der heutzutage noch bekanntere Der dritte Mann, wobei in beiden Filmen kein patriotischer, sondern ein betont skeptischer wie auch sarkastischer Blick auf die frühe Nachkriegszeit die jeweils bemerkenswerte Atmosphäre mitbestimmt.

Zur „75th Anniversary Edition“ von Studiocanal geht’s hier.

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Originaltitel
The Third Man

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