Eine wertvolle Bereicherung für die spärliche Diskographie des Oscarpreisträgers Fred Karlin (geb. 1936) kam vor kurzem vom fünften Kontinent: The Stalking Moon • Der große Schweiger (1968), die erste Veröffentlichung des frisch gegründeten australischen Labels „Reel Music Down Under“. Robert Mulligans düsterer Spätwestern erzählt von der gefährlichen Flucht der Weißen Sarah Carver (Eva-Marie Saint) mit ihrem halbindianischen Sohn aus einem Apachen-Reservat in Arizona. Kurz nach dem geglückten Ausbruch begegnet sie dem pensionierten US-Army-Späher Sam Varner (Gregory Peck), der sie auf der weiteren Reise unterstützt und begleitet. Sarahs psychopathischer Apachen-Ehemann Salvaje (Nathaniel Narcisco) fühlt sich um seinen Sohn betrogen und nimmt die Verfolgung auf, was zum Anlass für ein spannendes Katz- und Mausspiel vor imposanter Naturkulisse wird.
Der mehr oder weniger völlig in Vergessenheit geratene Film regte Fred Karlin zu einem bemerkenswerten Score an, in dem er zu einer raffinierten Symbiose aus bekannten Western-Filmmusikschemata und atmosphärisch-experimentellem Klangdesign fand. Obwohl von Karlin geschickt zu einem organischen Geflecht verwoben, kann man bei dieser Partitur von drei musikalischen Ebenen sprechen. Sie sind im weitesten Sinne den drei zentralen Figuren Sam, Sarah und Salvaje zugeordnet und unterscheiden sich grundlegend in Instrumentierung und thematischem Material.
Sam Varners Musikumfeld prägt ein schönes hispanisch beeinflusstes Hauptthema ebenso wie wohldosiert eingesetzte Americana nach dem Vorbild Coplands, Bernsteins und insbesondere Goldsmiths. Gitarre und Tamburin tragen zu einem intimen, durchsichtigen Klangbild bei, das ganz Sams eher stillem, einzelgängerischen Heldentum zu entsprechen scheint. Um „seiner“ Musik eine zusätzliche humane Qualität, das Gefühl menschlicher Nähe zu verleihen, wird das Hauptthema desöfteren gepfiffen.
Rein physisch ist Sarah zwar vorerst frei, doch dass man 10 Jahre entbehrungsreicher Apachen-Gefangenschaft innerlich nicht einfach abschütteln kann, wird schnell klar. Karlin verdeutlicht dies in seinem Score mit einem Komplex eng miteinander verwandter Themen, der in gewisser Weise Sarah Carvers „psychische Nachwehen“ zum Ausdruck bringt. Hier liegt das Hauptgewicht auf einem Trostlosigkeit und – als Konsequenz davon – Rückzug ins Innere andeutenden, auf- und absteigenden, gleichsam um sich selbst kreisenden Motiv von 4 Noten. Dieses kehrt in unzähligen Variationen und Ausformungen wieder, wobei ein Arrangement für eintönig gesetzte Holzbläser und darüber liegende Alt-Vokalise (von Karlins Frau Megan) den Ausgangspunkt bildet. Zwar gibt es bei Sarah auch Momente, in denen neu gewonnene Hoffnung und optimistische Zukunftsaussicht überwiegen – musikalisch reflektiert in einem wunderschönen, verspielten zweiten Sarah-Thema voller Lebensfreude („Sarah’s New Home“); dennoch ist die dunkle Vergangenheit nie weit entfernt, selbst diese fröhliche Musik entsteht erst aus dem kontrapunktischen Wechselspiel mit einer Dur-Abart des oben genannten Gefangenschaftsmotivs. In ähnlicher Weise leitet Karlin aus diesem Motiv auch ein weiteres für Sarahs Sohn ab.
Für die stete, geradezu übernatürlich wirkende Präsenz des unsichtbaren Verfolgers Salvaje entwarf der Komponist ein aufwändiges Sounddesign aus vielen Einzelelementen. Als Basis dient ein dissonanter Streicherteppich, der je nach Bedarf alleine oder in Verbindung mit weiteren Klangbausteinen eingesetzt wird. Neben harschen Holzbläserfiguren und rhythmischen Akzenten von Streichern und Perkussion können auch unkonventionelle Klänge, wie z. B. ein tontechnisch nachbearbeiteter Schlag auf einer ungestimmten Zither und fernes Wolfsgeheul Teil der beunruhigenden Klangkulisse werden.
Schon im Verlauf des Scores spielt Karlin gekonnt mit diesen drei Klangebenen, wechselt etwa schlagartig vom neuen Familien-Idyll zur unheimlichen „Stalking“-Atmosphäre oder führt kurzzeitig zwei Ebenen parallel. Musikalisch besonders eindrucksvoll ist aber die Schlusskonfrontation zwischen Sam und Salvaje gestaltet. In einem 8-minütigen wilden Action-Marathon stellt Fred Karlin bei der vielseitigen Variation und Kombination aller drei Ebenen sein feines musikdramatisches Gespür endgültig unter Beweis. Dass The Stalking Moon trotz des ausgeklügelten, streng berechnenden Formkonzeptes im Hintergrund keine sperrige, sondern im Gegenteil eine durchwegs eingängige Musik geworden ist, ist dem Komponisten darüber hinaus hoch anzurechnen.
Auch zur CD-Edition dieses hochinteressanten Scores gibt es nur Gutes zu sagen. In mühevoller Arbeit haben Fred Karlin und sein Toningenieur Mike Stern die damals in unterschiedlichen Aufnahmesitzungen in New York und Los Angeles realisierte, teils auf Mehrkanalbändern, teils auf unzähligen Einzelfilmrollen überdauernde Musik wieder zusammengefügt, alle Tonspuren synchronisiert und verloren gegangene Elemente (z. B. den originalen Zitherschlag) neu ergänzt. Zum in Anbetracht des Alters nachgerade sensationellen warmen Stereoklang kommt noch ein dickes Booklet, das mit seinem guten Dutzend Farbfotos, aufschlussreichen Texten zu Film (Bob Feigenblatt), Musik (Fred Karlin) und Musikrekonstruktion (Mike Stern) beinahe die bekannt hohen FSM-Standards erreicht. Hier gilt es zuzugreifen, solange noch Exemplare dieser extrem limitierten Auflage von nur 1000 Stück erhältlich sind.
Zur tristen Veröffentlichungssituation:
Seit den späten Sechzigern hat Fred Karlin Filmmusiken für beinahe 130 Kino- und TV-Produktionen (unzählige TV-Filme, Miniserien und Serien) komponiert. Diesem umfangreichen Output stehen heute jedoch gerade einmal 3 Score-CDs gegenüber, The Stalking Moon bereits mit eingerechnet. In der LP-Ära gab es immerhin insgesamt 9 Platten mit Karlin-Kompositionen zu verzeichnen. Die bisher einzige CD-Neuauflage davon besorgte 2000 das mittlerweile sanft entschlafene Label Chapter III Records mit Westworld (1973) – mit Chapter III verabschiedete sich im letzten Jahr aber auch die CD vom Markt und ist seitdem nur mehr auf Umwegen erhältlich. Diese wenig erfreuliche Veröffentlichungssituation ist insofern einigermaßen nachvollziehbar, als der Großteil von Karlins Arbeiten für das Fernsehen entstand und somit in den meisten Fällen keine Budgetmittel für Filmmusik-Alben vorhanden gewesen sein dürften. Heute, in Zeiten von Film Score Monthly, SAE/BYU, Intrada und vielen anderen kleineren Labels, die sich das Heben alter Filmmusik-Schätze auf die Fahnen geschrieben haben, steht der Veröffentlichung weiterer Karlin-Musiken aber weitaus weniger im Wege. Konkret sind bei „Reel Music Down Under“, einem Projekt des australischen Karlin-Begeisterten Ichiro Koji, bereits weitere CDs dieses zu Unrecht wenig bekannten Komponisten in Planung. Und mehr Fred Karlin auf CD – das ist auf jeden Fall zu begrüßen.