100.000 Dollari per Ringo
Wer sich über Bruno Nicolai auslässt, schreibt meist darüber, wie sehr der bis zur Trennung im Jahr 1974 unermüdliche Dirigent und enge Mitarbeiter Ennio Morricones in seinen eigenen Filmkompositionen nurmehr die Werke des weitaus berühmteren Kollegen plagiiert hätte. Dass es durchaus auch anders geht, zeigt der frühe Western-Score 100.000 Dollari per Ringo • 100.00 Dollar für Ringo, mit dem Nicolai 1965 seinen ersten Kino-Spielfilm sozusagen in eigener Regie betreuen durfte. Und auch wenn Morricone in der Literatur bei dieser Filmmusik oft ein Credit als „Supervisor“ angehängt wird, so hat eine solche Art der musikalischen Koordinierung laut dessen eigener Aussage in der Praxis gar nie stattgefunden, sondern geschah einzig und allein auf Wunsch von Regisseur Alberto De Martino, der sich mit dem renommierten Komponisten-Namen als Aushängeschild eine Erfolgsgarantie für seinen zweitklassigen Western verschaffen wollte.
Mit geradezu entwaffnender und überschäumender Sturm- und Drang-Energie ging Nicolai bei dieser Filmmusik ans Werk, die treffsicher die beiden zuvor entstandenen eher durchschnittlichen Ringo-Partituren von Morricone selbst qualitativ um Längen abhängt. Nicht nur erhält der Revolverheld mit Richard Harrison, dem Star zahlreicher italienischer Billig-Sandalenfilme, ein neues Gesicht, auch die Musik ist aus ganz anderem Holz geschnitzt. Wo Morricone in dramatischen und spannungsvollen Momenten gern zu statisch-repetitiven Mitteln greift, lässt Nicolai wie eigentlich in keiner seiner späteren mir bekannten Western-Musiken ein tempogeladenes und loderndes Orchesterfeuerwerk von der Reling, mit dem nur wenig andere Spaghetti-Western-Scores mithalten können. Die wuchtigen Attacken in Tracks wie „Sfida eroica“, „Tumulti“ oder „Incontro di Fuoco“, in denen den kernigen Bläsern (allen voran Posaunen und Trompeten) Schwerstarbeit abverlangt wird, sind äußerst packend und mitreißend gestaltet und lassen hier einen glänzenden Sinfoniker erkennen, der mit allen Wassern eines Vollblutmusikers gewaschen ist. Es erstaunt nicht nur, wie weit sich Nicolai bei diesen geradezu aufpeitschenden harten Klängen, die irisierend auf den Zuhörer wirken können, von Morricones Stil entfernt, sondern auch auf welch verhältnismäßig großes Ensemble er bei diesem ansonsten schmal budgetierten B-Western zurückgreifen konnte. Selten jedenfalls war Nicolai so fesselnd und niveauvoll wie hier.
Auch der obligatorische Titelsong „Ringe dove vai“ bzw. in der englisch gesungenen Variante „Ringo Come to Fight“ darf getrost zu den schönsten Eingebungen innerhalb des Genres gezählt werden. Hier beschränkt sich Nicolai auf eine Besetzung mit Gitarre, Harmonika und Streichern und vor allem auf die sonore Stimme von Bobby Solo, der dem unmittelbar sich im Ohr festsetzenden sehnsuchtsvollen Song einen Hauch von Tragik und Verbitterung zu verleihen vermag. Sehr effektiv dabei zudem die immer wieder eingeschobenen kurzen Choreinsätze der Cantori Moderni.
Interessanterweise präsentiert die 2002 produzierte GDM-CD auch noch eine alternative Vokal-Version mit dem Sänger Don Powell, der aber mit seiner blässlichen Stimme dem Song wenig Leben einzuhauchen versteht. Man wundert sich folglich als Hörer nicht, dass diese Fassung schlussendlich wohl abgelehnt wurde, da ihr einfach die nötige Effektivität abgeht.
Im Übrigen sei noch angemerkt, dass Nicolai das thematische Grundgerüst des Songs auch für eine orchestrale Version zu nutzen weiß, zudem ein hübsches romantisches Liebesthema in „Il volto nascosto“ ersonnen hat und in 100.000 Dollari per Ringo einen Hauch von Rodrigos bekanntem „Concierto de Aranjuez“ in die Partitur hineinwehen lässt.
Einziger Schwachpunkt dieser CD ist ihre übermäßige Länge mit mehr als 70 Minuten. Das ist eine runde halbe Stunde mehr als auf der konzeptionell besser strukturierten Edipan-LP von 1987 enthalten war, deren Inhalt mit der inzwischen vergriffenen CD desselben Labels von 1994 identisch war — jedoch mussten beide Tonträger noch ohne den jetzt enthaltenen Song auskommen, den es zuvor nur auf einer Single bzw. auf Samplern gegeben hatte. Es kann einfach nicht der Weisheit letzter Schluss sein, drei oder vier nahezu identische Alternativ-Versionen eines Tracks in den Score einzufügen, was im Endeffekt den Hörfluss eher hemmt denn fördert. Das Herausprogrammieren einzelner Tracks dürfte daher die beste Lösung sein, um in den vollen Genuss dieser vor Vitalität strotzenden Nicolai-Filmmusik zu kommen.
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