TV- Dokumentarserien, 12. Folge: Wildes Russland & Russland — Im Reich der Tiger, Bären und Vulkane
Naturdokus im deutschen Fernsehen: Wie alles begann …
Am 6.3.1960 schlug in der ARD die Geburtsstunde für die vom NDR produzierte TV-Sendung „Expeditionen ins Tierreich“, die mit dem Namen des Naturfilmers Heinz Sielmann (1917—2006) essenziell verbunden ist. Am 27.12.1982 erlebte die inzwischen renommierte Reihe ihr erstes großes Jubiläum mit der 100. Sendung. Natürlich darf bei einem Blick zurück auf die Pioniere der deutschen TV-Naturdokumentationen auch Bernhard Grzimek (1909 —1987) nicht vergessen werden, der in den 1960er- und 1970er-Jahren infolge seiner regelmäßigen TV-Auftritte (Ein Platz für Tiere) der bekannteste Tierfachmann Westdeutschlands war. So mancher Leser dürfte sich auch an Grzimeks in den Kinos gezeigten Dokumentarfilm Serengeti darf nicht sterben (1959) erinnern, der übrigens 1960 als erster deutscher Film nach dem Zweiten Weltkrieg mit einem Oscar ausgezeichnet worden ist.
Die Zeit steht nicht still und auch andere schlafen nicht. So trat im neuen Jahrtausend die BBC mit einigen Maßstäbe setzenden Produktionen ins Rampenlicht. Dabei markierte Unser blauer Planet Die Naturgeschichte der Meere (2001) den packenden Anfang und Planet Earth • Planet Erde (2006) begeisterte erstmalig auch in HD.
Inzwischen hat der NDR-Naturfilm unter seinem Leiter Jörn Röver eine rasante Entwicklung durchgemacht und die gerühmte „Natural History Unit“ der BBC zumindest eingeholt. Freilich steht dabei mittlerweile kaum noch nationales Prestige- und Konkurrenzdenken im Vordergrund, vielmehr wird in wesentlichen Bereichen national wie international kooperiert und dabei natürlich auch voneinander gelernt. Dazu zwingen allerdings auch die für die Präsentation immer eindrucksvollerer Naturbilder erforderlichen immensen Summen, welche die Dokumentarfilm-Etats einzelner Sendeanstalten sprengen.
Beim gegenwärtigen Run auf packende Naturdokus mit noch nie dagewesenen Tierbeobachtungen spielt derzeit das NDR-Naturfilm-Team in der Top-Liga. Einige dieser nun auch auf Blu-ray erhältlichen Highlights werden im Weiteren auch in unserer TV-Dokumentarserien-Artikelreihe vorgestellt. Eine komplett neue Reihe zu eröffnen macht wenig Sinn, auch wenn es sich nun eben nicht mehr ausschließlich um BBC-Produktionen handelt. Entsprechend haben wir an die bestehende Nummerierung nahtlos angeknüpft. Allein die Bezeichnung der Reihe ist für alle weiteren Artikel leicht angepasst (insbesondere das „BBC“ entfernt) worden, um den im Archiv stöbernden Leser möglichst nicht zu verwirren.
Wildes Russland, die TV-Serie
„Man weiß nicht viel über dieses Land: So weit die Füße tragen“ bekennt Christian Baumeister, einer der besonders bekannten und mit vielen Preisen ausgezeichneten deutschen Tierfilmer, verschmitzt im Making-of „Das Abenteuer“ zur TV-Serie Wildes Russland. Allerdings stammen die Bildeindrücke ausschließlich aus den menschenleeren östlichen Regionen dieses riesigen Territorialstaates, des größten Landes der Erde. Sie reichen vom Ural im Westen bis zur ostasiatischen Halbinsel Kamtschatka am pazifischen Ozean. Mehr als 100.000 Streckenkilometer legten die Aufnahmeteams im Bereich dieser großflächigen, landschaftlich so verschiedenen Regionen zurück.
„Wildes Russland“ wird damit zwangsläufig zu einem Sammelbegriff für eine kleine Auswahl aus einer gigantischen Fülle. Und das kollidiert ein wenig mit der ein umfassendes Bild suggerierenden Produktwerbung, die ja verspricht, „weltweit die erste umfangreiche Dokumentation über die russische Natur“ zu sein. Aber von dieser dezenten Irreführung einmal abgesehen, ist das Gesamtergebnis schlichtweg faszinierend. Gigantische Naturaufnahmen, etwas, das selbst ein Reisender niemals auch nur ansatzweise zu sehen bekommt, sind hier genauso zu erleben, wie die Begegnung mit seltenen Tieren, z. B. mit dem possierlichen sibirischen Pfeifhasen oder dem Moschustier, das dem beliebten Hirschkalb Bambi nicht unähnlich ist. Und neben bei minus 30 Grad Celsius wie durch eine Sprengung zerplatzenden Bäumen fehlen natürlich auch die russischen Bären nicht. Die für hochauflösende, fast durchweg gestochen scharfe und detailfreudige Bilder in leuchtenden, natürlichen Farben sorgende HD-Technik ist seit Planet Erde merklich perfektioniert worden und sorgt z. B. für die besonderes eindrucksvollen, völlig ruckelfreien Flugaufnahmen oder faszinierende Superzeitlupen mit bis zu 2000 Bildern pro Sekunde. Das verleiht selbst eher geläufig erscheinenden Aufnahmen eine geradezu neue, atemberaubende Ästhetik. Es ist dabei schon fantastisch, welch packende Eindrücke die moderne HD-Technik ins eigene Heim zu liefern in der Lage ist. Da wird selbst der klirrende Frost anhand der extremen Klarheit der Bilder und den darin erkennbaren, vom Wind mitgetragenen, im Sonnenlicht funkelnden Eiskristallen förmlich spürbar. Und das wiederum liefert einen besonders scharfen Kontrast zu den vulkanischen Aktivitäten auf der Halbinsel Kamtschatka.
Aber auch das hier Geschriebene markiert natürlich erst recht einen nur winzigen Ausschnitt aus der gebotenen Fülle der hier versammelten Eindrücke. Die TV-Serie war nicht nur hierzulande, sondern auch international sehr erfolgreich. Selbst die Russen waren von den über den größten russischen Sender ChannelOne erfolgten Ausstrahlungen offenbar hingerissen. Kein Wunder! Das, was es hier unter anderem auch in technisch perfekten Flugaufnahmen aus der Vogelperspektive zu sehen gibt, sind kaum zugängliche Teile Russlands, wie Kamtschatka, das bis 1990 sogar militärisches Sperrgebiet war. Das sind Orte, wo sich bislang nur ganz wenige Russen haben umschauen können.
Es ist freilich in der Fülle des Gebotenen schwierig, die geographische Orientierung nicht zu verlieren. Was hierzu etwas fehlt, wären häufigere Einschübe mit Kartenabbildungen, was auch die Entfernungen zwischen den einzelnen Schauplätzen noch etwas deutlicher herausstellen würde. Das bleibt allerdings eine relative Kleinigkeit, die den vorzüglichen Gesamteindruck nicht wesentlich beeinträchtigt.
Die Präsentation auf Blu-ray-Disc
Der Bildeindruck der sechs Serienfolgen ist fast durchweg erstklassig, die Qualität der meist gestochen scharfen und äußerst detailfreudigen Bilder bewegt sich oftmals in der Referenzklasse. Hier und da werden auch mal gewisse Einschränkungen wie Bildrauschen sichtbar. Das als quasi siebte Folge fungierende Making-of „Das Abenteuer“ ist zwar auch in HD, aber bei den darin enthaltenen, weniger technisch kontrollierten Momentaufnahmen sieht das Bild häufiger mal etwas weicher und damit leicht unscharf aus.
Der leicht frontlastige Tonmix ist äußerst solide, bietet allerdings keinen Blockbuster-Surround-Sound. Aber dessen bedarf eine derartige Dokumentation auch nicht.
Die Boni-Sektion beschränkt sich auf das o. g. Making-of, was m. E. völlig ausreichend ist. Hier gibt’s eindrucksvolle Hinweise zu sehen, die zeigen, welch nicht nur unkomfortablen, sondern auch gefährlichen Job die beteiligten Tierfilmer hier machen. Das hier meist zu Sehende erscheint nicht (nach-)gestellt, derart überzeugend wirkt die mitunter auf den Gesichtern erkennbare Betroffenheit. Beispielsweise als ein Packpferd des Kaukasus-Teams, dessen Ladung verrutschte, unaufhaltsam ins Straucheln geriet, stürzte und gegen einen Baum rutschte. Dabei wäre fast ein Kameramann eingequetscht worden. Glücklicherweise blieb auch das Pferd unverletzt. Das Drehteam im Ural erlitt einen Unfall mit einem Heißluftballon, bei dem der Kameramann aus dem Korb geschleudert wurde und sich das Schulterblatt zertrümmerte. Besonders beeindruckend sind die Bilder einer gigantischen Schlammlawine, die das Quartier der Forscher des Kamtschatka-Teams nur knapp verschonte und das „Tal der Geysire“ zur Hälfte verschüttete.
Russland — Im Reich der Tiger, Bären und Vulkane
Ähnlich wie bei der 2006er BBC-TV-Dokumentation Planet Erde, die wenig später auch als gekürzte Version unter dem Titel Unsere Erde in die Kinos kam, wird auch Wildes Russland zweimal vermarktet. Unter dem Titel Russland — Im Reich der Tiger, Bären und Vulkane ist auch hier eine auf Spielfilmstandardlänge von rund 90 Minuten komprimierte Fassung nach der Kinoauswertung nun auch auf Blu-ray zu sehen.
Im Gegensatz zur TV-Serie, bei der Christian Brückner (geläufig als deutsche Synchronstimme von Robert De Niro) als Sprecher fungiert, erledigt dies in der Filmversion „Traumschiff“-Kapitän Siegfried Rauch. Das klingt dann schon ein wenig, wie wenn der Opa zum Enkel spricht. Brückner ist mir da lieber, aber das ist letztlich Geschmackssache. Ansonsten gibt es zu diesem visuell brillanten „Hochglanzprospekt zur TV-Serie“ gegenüber der kompletten TV-Serie wenig anzumerken. Natürlich balanciert gerade eine derartige Kurzfassung auf einem schmalen Grat. Sie ist in erster Linie ein auf Massentauglichkeit setzendes bildgewaltiges Kompendium und zwangsläufig keine detaillierte Studie. Als ein Appetizer auf die komplette TV-Serie oder eventuell auch als Kurzfassung für zwischendurch ist die Filmversion aber zweifellos eine sehr ansprechende Sache.
Die Präsentation auf Blu-ray-Disc
Das Bild ist mit dem der o. g. TV-Serie identisch. Der Tonmix ist, abgesehen vom anderen Sprecher, mit dem zur TV-Serie ebenfalls praktisch identisch. Als Boni gibt’s das dreiviertelstündige Serien-Making-of und neben sechs Interviews noch ein paar Einblicke zur Einspielung der Musik von Kolja Erdmann in „Making of Music“ (7:01).
Obendrauf kommt noch ein hübsch bebildertes Begleitheft, das mit einer Reihe von Infos zur Serie sowie Interviews, u. a. mit Jörn Röver, seit 2001 Leiter von NDR Naturfilm, zum Stöbern einlädt.
Die Filmmusik von Kolja Erdmann auf CD
Der 1981 in Wiesbaden geborene Kolja Erdmann hat auch zur relativ sparsam mit Musik unterlegten TV-Serie die Filmmusik komponiert. Für die fast durchgängig mit Musik unterlegte Kinoversion hat er nicht nur auf dieses Musikmaterial zurückgegriffen, sondern zusätzliche Stücke komponiert. Die für Sinfonieorchester mit Chor gesetzte Musik wurde mit dem Akademisch-Sinfonischen Orchester Belarus sowie dem Akademischen Chor Belarus aufgenommen.
Kolja Erdmanns Musikbeitrag ist recht eingängig und durchaus anhörbar, aber leider insgesamt sehr konfektioniert geraten. Damit sind gerade die schlichteren Stilismen gemeint, entlehnt aus der Hans-Zimmer-Schule, welche die Auftraggeber offenbar als beim anvisierten jüngeren Publikum als besonders beliebt ansehen: Entsprechend bekommt man diese in TV-Serienmusiken oder auch Dokumentationen in den letzten Jahren am laufenden Band zu hören. Gemeint sind die mitunter stampfenden, rockigen Rhythmusstrukturen, dazu ein sehr übersichtlich, nämlich unisono ausgeformter Orchestersatz, kombiniert mit einem Hang zum schlichten Klangbombast, wozu die von der Musik immer wieder angesteuerten hymnischen Höhepunkte zählen, bei denen dann in der Regel der Chor unterstützend eingreift.
Im musikalischen Ablauf kommen einem dabei klare Vorbilder in den Sinn: das Hauptthema erinnert frappant an Goldsmiths’ The Sum of all Fears • Der Anschlag (2002), und das gilt auch für das wiederum auf Zimmer verweisende „Russkie“-Feeling der Chorsätze. Dabei klingt es mitunter ein wenig wie eine Mischung aus The Rock, Crimson Tide und King Arthur. Im Finale kommt dafür ganz eindeutig Fluch der Karibik zum Zuge und damit die Zimmer’schen Piraten an das Ruder. Dadurch entsteht schon der Eindruck, dass hier von Seiten der Produktion mit einem dem Komponisten „die gewünschte Richtung vorgebenden“ Musik-Mix (Temp-Tracks) unterlegt worden ist.
Was Erdmanns Musik etwas abgeht, das ist ein farbiger Orchestersatz und ausgeprägte thematische Arbeit. Das sich über die rund 65 Minuten dadurch immer wieder einmal dezent einstellende Gefühl von Monotonie ist aber auch etwas dem Albumschnitt geschuldet. Dieser spart die stärker auf das Bild komponierten, mit etwas Mickey-Mousing versehenen Passagen der Musik komplett aus, die dem Ganzen doch etwas mehr Abwechslungsreichtum verliehen hätten.
Dem Cinemusic.de geübten Leser ist an dieser Stelle bereits klar, dass die formulierten Vorbehalte nun ganz gewiss nicht ein Anlauf zum gepflegten Verriss sind. Nein, solide drei Cinemusic.de-Sterne und damit eine kleine Empfehlung für dieses handwerklich ordentliche Souvenir zum Film, die gibt es hier in jedem Fall.
Fazit: Großartige Naturaufnahmen in umwerfenden Bildern, dieses Mal produziert von Aufnahmeteams aus deutschen Landen, vom NDR. Das bietet Wildes Russland in mehrheitlich sehr guter bis Top-Qualität sowohl in der TV- wie auch der Kino-Version. Wer an technisch hervorragenden Naturdokus seine Freude hat, ist hier sehr gut aufgehoben und holt sich zugleich Demomaterial für seinen HD-Fernseher nach Hause.
Alles in allem ist Wildes Russland eine tolle Dokumentarreihe. Angesichts der Menge des zwangsläufig aus dem russischen Riesenreich dennoch nicht Vertretenen bleibt zu hoffen, dass hier mittelfristig noch eine zweite Staffel nachgelegt wird. Aber vielleicht ist es ja genau das, was Jörn Röver vom NDR meinte, als er die Frage in den Raum stellte: „Was kann nach Wildes Skandinavien noch kommen? In drei Jahren präsentieren wir Ihnen die sendefertige Antwort“.
Zur Erläuterung der Wertungen lesen Sie bitte unseren Hinweis zum Thema „Blu-ray-Disc versus DVD“.
Dieser Artikel ist Teil unseres Spezialprogramms zum Jahresausklang 2011.
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