Owod (The Gadfly)

Geschrieben von:
Michael Boldhaus
Veröffentlicht am:
19. Februar 2018
Abgelegt unter:
CD

Score

(5/6)

Der Filmkomponist Dmitri Schostakowitsch: Owod (The Gadfly)

Der britische Dirigent Mark Fitz-Gerald (*1954) ist ein Spezialist für außergewöhnliche Filmmusikprojekte. Seine ausgeprägte Neigung zum (Film-)Komponisten Dmitri Schostakowitsch hat dem interessierten Sammler bereits zuvor drei herausragende Alben, erschienen auf dem Naxos-Label, beschert: The Girlfriends, Odna, und The New Babylon. Jetzt hat Fitz-Gerald erneut nachgelegt, mit der rekonstruierten Originalfilmmusik zu Owod (1955). Bislang war dazu ausschließlich die bereits in den 1950er Jahren erstellte Konzertsuite in verschiedenen Einspielungen zugänglich, die hierzulande auch unter dem Titel „Die Hornisse“ geläufig ist.

Owod von Regisseur Alexander Fainzimmer entstand nach dem 1897 in den USA erschienenen Roman „The Gadfly“ der englischen Schriftstellerin Ethel Lilian Voynich (1864–1960). Das Buch ist in der Sowjetunion nicht nur viel gelesen worden, sondern auch die 1955er Verfilmung war sehr erfolgreich. In der DDR ist der Film unter dem in der Übersetzung besonders stimmigen deutschen Verleihtitel Stechfliege gezeigt und auf den Filmfestspielen 1956 in Venedig auch dem westlichen Ausland präsentiert worden. Das den Titel verleihende Insekt ist im Film das Sinnbild für den jungen idealistischen Studenten Arthur, der sich im Norditalien der 1830er-Jahre dem Geheimbund „Junges Italien“ anschließt und gegen die österreichische Besatzung und den Kirchenstaat kämpft. Dass Arthur ein illegitimer Sohn des Paters Montanelli ist und schließlich aufgrund des Bruchs von Zölibat und Beichtgeheimnis verraten und schließlich hingerichtet wird, ist wichtiger Teil der neben dem sozialistisch verklärten revolutionären Freiheitskampf betont antiklerikalen Tendenz der Filmstory.

Der Farbfilm ist übrigens auf Youtube in respektablem Zustand, in nur dezent verblasst erscheinenden Farben, allerdings ausschließlich in Russisch zugänglich. (Das erheblich breiter angelegte, dreieinhalbstündige Remake aus dem Jahr 1980, welches im DDR-Fernsehen, analog zur Übersetzung der Buchvorlage von 1952, sinnigerweise unter dem Titel Der Sohn des Kardinals gezeigt wurde, ist übrigens auf Youtube ebenfalls vertreten.)

Dabei erweist sich die 1955er Version insbesondere visuell als ein mit einigem Aufwand im zeitgenössischen Dekor inszeniertes Historiendrama, das insbesondere visuell einige durchaus ansprechend umgesetzte Momente besitzt, etwa den Einmarsch der österreichischen Besatzer zu Beginn. Das Wirken des jungen Arthur, erscheint jedoch sehr propagandistisch gefärbt dargestellt. Zudem ist alles (selbst wenn man die Dialoge nicht versteht) allzu pathetisch inszeniert. Infolge mangelnder Spannungsdramaturgie und dem Fehlen einiger gut inszenierter Actioneinlagen resultiert daraus ein insgesamt doch recht zäher Film – was übrigens recht typisch für die allermeisten russischen Filmepen jener Zeit ist.

Die Filmmusik von Schostakowitsch könnte man hingegen durchaus als sehr inspirierte Komposition für einen klassischen Mantel- und Degenstreifen aus dem Hollywood jener Jahre durchgehen lassen. Das ist umso bemerkenswerter, wenn man zur Kenntnis nimmt, dass der seinerzeit (wieder einmal) durch offizielle Rüge in Ungnade gefallene Komponist den Filmvertonungsauftrag fast schon aus nackter Not annehmen musste.  Die betont romantische, von kraftvollen Themen bestimmte, effektvoll instrumentierte, in den offenen Formen kompositorisch relativ einfach gehaltene Filmmusik ist leicht zugänglich. Sie unterscheidet sich merklich von den allermeisten sonstigen, meist erheblich komplexeren und nur selten als unmittelbar eingängig zu bezeichnenden Werken des im musikalischen Ausdruck häufig eher kühl, grüblerisch oder von tiefem Ernst geprägten großen russischen Tonschöpfers.

Schostakowitsch beweist dabei nicht zuletzt auch sein Talent für eingängige melodische Themen, von denen gerade Owod nicht nur mehrere enthält, sondern zudem auch noch einen Ohrwurm par excellence, der als „Youth“ im Score und als „Romanze“ in der geläufigen Orchestersuite vertreten ist. Direkt zu Beginn wird in „The Cliffs“ tonmalerisch die Meeresbrandung hörbar – in der seit den 1970er Jahren geläufigen Orchestersuite (s.u.) erst direkt vor dem Finalstück als „Scene“ eingeschoben. Auch zwei sehr hübsch historisierend auskomponierte zeittypische Tänze („Contredanse“ und „Galop“) sind enthalten. Darüber hinaus gelingt es dem Komponisten an mehreren Stellen, die Schauplätze der Handlung in Form eines folkloristisch gefärbten Hauchs mediterraner Leichtigkeit („Barrel Organ“, „Bazar“ und „Folk Dance: Tarantella“) überzeugend musikalisch zu spiegeln. Der Vergleich mit dem Filmsoundtrack belegt, wie dicht am Original sich Mark Fitz-Geralds Interpretation der mit einigem Aufwand rekonstruierten Original-Filmmusik hält.

Die im Film eingesetzten Teile der Originalkomposition umfassen rund 53 Minuten, welche sich aus insgesamt 29 zum Teil ultrakurzen Stücken zusammensetzen. Drei davon, „The River“, „Youth“ sowie das Orgelstück „Divine Service“, finden praktisch unverändert doppelte Verwendung. Rund vier Minuten entfallen darüber hinaus auf einen Ausschnitt aus Bachs berühmter h-Moll-Messe, das „Dona nobis Pacem“, das allerdings als ein reines Source-Cue, als Hintergrund für eine liturgische Szene fungiert und somit dem eigentlichen Score nicht zwangsläufig hinzuzurechnen ist. In einem Anhang sind außerdem noch zwei im Film nicht verwendete Stücke vertreten: das Orgelsolo „Confession“ sowie das späterhin durch den Ausschnitt aus Bachs H-Moll-Messe ersetzte, aus einer Messe von A. de Févin stammende „Ave Maria“.

Dmitri Schostakowitsch übergab nicht nur in diesem Falle seine Filmkomposition Levon Atovmyan (1901–1973), um daraus eine Suite für den Konzertgebrauch zu erstellen. Atovmyan, ein talentierter Arrangeur und Orchestrator, war nicht nur Schostakowitsch eng verbunden, sondern auch ein Freund und langjähriger Assistent Sergej Prokofjews. Das bloße Aneinanderreihen kurzer und ultrakurzer Stücke ist für den Konzertbetrieb praktisch untauglich. Entsprechend hat er aus Schostakowitschs Material eine etwa 40 bis 44 Minuten Spielzeit ergebende zwölfsätzige Konzertsuite gemacht, die im Schostakowitsch-Werkverzeichnis als Opus 97a geführt wird. Zwar gibt die Suite die ursprüngliche Chronologie weitgehend auf. Die in der Reihenfolge frei umgestellte und in längeren Abschnitten neu zusammengefasste Musik lässt aber nicht nur kein entscheidendes Material vermissen, sondern sie darf auch in der Summe als annähernd vollständig bezeichnet werden. Definitiv unter den Tisch gefallen sind lediglich „Arrest“, der kleine „March: The Church Supports the Austrians“, die recht modern-dissonant wirkenden „Fanfares“ sowie „Folk Dance: Tarantella“ und „Montanelli leaves the Prisoner’s Cell“.

Im Vergleich der Gesamtaufnahme mit der Konzertsuite zeigt sich: Trotz der auf den ersten Blick recht drastisch erscheinenden Abweichungen in der Instrumentierung und einiger weiterer Freiheiten, die sich der Bearbeiter beim Einrichten der Konzertsuite genommen hat, hat Atovmyan im vorliegenden Fall eine sogar besonders gelungene, den Geist der Original-Filmmusik weitgehend bewahrende Konzertfassung geliefert.

Abgesehen von gewissen Akzentverschiebungen in der Interpretation zwischen Originalfilmmusik und Einspielungen der Konzertsuite fällt Letztere daher in der Wirkung gegenüber der Originalkomposition keineswegs dramatisch ab. Dies erklärt sich, da die Abweichungen in der Instrumentierung (etwa die zusätzlichen Stabglockeneffekte in der originalen „Overture“) die klanglichen Akzente zwar schon etwas verschieben, allerdings ohne dabei den Gesamteindruck gravierend zu verändern. Um die Konzertsuite im Sinne von leicht aufführbar möglichst attraktiv zu machen, war Atovmyan praktisch dazu gezwungen, sowohl die Einsätze der Orgel als auch des folkloristischen Instrumentariums (Mandolinen und Gitarren) zu entfernen. Entsprechend hat er sowohl das reine Orgelstück „Divine Service“ als auch die „Guitars“ für Orchester gesetzt.

Die Mandolinen kommen übrigens nur ein einziges Mal zum Tragen, in der überaus kurzen, nur knapp 20 Sekunden umfassenden Tarantella (Track 12). Dieser schon fragmentarische musikalische Schnipsel ist mit der übrigen Filmmusik auch überhaupt nicht weiter verbunden. Er bildet vielmehr ein reines Source-Cue, welches im Film durch das Einschreiten eines österreichischen Offiziers radikal abgebrochen wird und von Schostakowitsch offenbar auch nicht, etwa im Hinblick auf konzertante Verwendung, weiter auskomponiert worden ist. Dafür hat Atovmyan das besonders wirkungsvolle, charmante „Youth“ in der Lauflänge gedoppelt und als „Romance“ in die späterhin besonders populäre Orchestersuite überführt. Dabei hat er die zuerst wie im Original von der Violine intonierte Melodie in der Wiederholung auf das gesamte Orchester übertragen. Im „Finale“ der Orchestersuite nimmt sich Atovmyan in der Gestaltung wohl die größten Freiheiten, indem er nach dem hier zuerst platzierten, im Film bereits zu Beginn ertönenden Marsch für die österreichischen Besatzer das eigentliche Finale gegenüber dem Original unüberhörbar abweichend gestaltete. Den originalen, die Befreiung vom österreichischen Joch vorwegnehmenden, jubelnden Dur-Abschluss bekommt der Hörer allerdings in der Konzertsuite ebenfalls, dort jedoch bereits als Abschluss der eröffnenden „Overture“ zu hören.

Den Abschluss der CD bildet als Füller eine überaus vielversprechend klingende, drei Sätze umfassende, insgesamt leider (!) nur rund neunminütige Konzertsuite aus der Musik zum Film Der Gegenplan (1932). Auch hier bildet ein zum Ohrwurm taugliches Liedthema ein wichtiges tragendes Element, das übrigens nicht nur in der Sowjetunion besonders populär geworden ist. Als „Entgegen dem kühlenden Morgen“ war es späterhin auch ein Hit für die Jungen Pioniere der DDR.

Fazit: Auch Mark Fitz-Geralds aktuelle Schostakowitsch Filmmusikrekonstruktion The Gadfly (Stechfliege) ist eine willkommene Ergänzung des Repertoires, auch wenn die seit langem geläufige, sehr repräsentative Konzertsuite im Vergleich keinesfalls schlecht abschneidet. Ich würde mir allerdings wünschen, dass sich zukünftige Dirigenten die vorliegende, dicht am Original befindliche Fitz-Gerald-Einspielung eingehender anhören, um sich davon für Ihre Interpretation inspirieren zu lassen. So kann der im Film zu Beginn, in der Konzertsuite erst im Finalstück erklingende Marsch der Besatzer in keiner der vorherigen Einspielungen dem Vergleich mit dem Original wirklich standhalten und vermag daher nicht so recht zu überzeugen. Indem man sich bei den Akzentuierungen stärker am Original orientiert, kann diese insgesamt besonders schöne, eingängige und dabei geradezu glutvolle Filmmusik wirkungsmäßig nur hinzugewinnen.

Owod zeigt zudem, dass die auch heutzutage immer noch verbreitete, geringschätzige Einstufung von Kompositionen, die unter der politisch verordneten Kunstdoktrin des „Sozialistischen Realismus“ entstanden, ein pauschaliertes Vorurteil ist. Und die als Zugabe vertretene Mini-Suite aus Der Gegenplan stützt die These, dass es gerade beim Filmkomponisten Schostakowitsch wohl noch am meisten zu erschließen und zu entdecken gibt.

weiterführende LINKs:

Homepage von Mark Fitz-Gerald, Music Conductor

Über die literarische Vorlage (aus DER SPIEGEL 29/1958)

Zeitgenössische Filmbesprechung zu The Gadfly aus der New York Times vom 17. September 1956

Das Lied aus Der Gegenplan (1933): „Entgegen dem kühlenden Morgen“

Nachtrag zu Mark Fitz-Gerald auf Naxos:
An dieser Stelle soll noch ein weiteres, ebenso vorzügliches Mark-Fitzgerald-Naxos-CD-Album nicht unerwähnt bleiben: Das mit der faszinierenden Musik von Ernesto Halffter (1905–1989) zu Jacques Feyders 1926er Stummfilmadaption Carmen.

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Erschienen:
2017
Gesamtspielzeit:
61:47 Minuten
Sampler:
Naxos
Kennung:
NX 8.573747
Zusatzinformationen:
Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz, Dirigent: Mark Fitz-Gerald

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