Ralph Vaughan Williams: 49th Parallel, the complete music written for the film (1940–41)

Geschrieben von:
Michael Boldhaus
Veröffentlicht am:
22. August 2023
Abgelegt unter:
CD, Hören, Score

Score

(6.0/6)

Zwei bemerkenswerte CD-Neuerscheinungen aus Großbritannien von Dutton Epoch:

49th Parallel, die vollständige Filmmusik von Ralph Vaughan Williams

Der Dirigent Martin Yates, dem wir bereits die Kompletteinspielung der Musik zu Scott of the Antarctic* Scotts letzte Fahrt (1948) verdanken, vermerkt zu 49th Parallel im Begleitheft, dass ihm während der umfangreichen Recherchen und sonstigen Vorbereitungen für die Einspielung der Scott-Musik erst klar geworden sei, wie ähnlich umfangreich auch im Falle von Vaughan-Williams’ Erstling für die tönende Leinwand die Materialsituation ist. Die Filmmusik zum britischen Propagandastreifen 49th Parallel (1940), der in den USA unter dem Titel The Invaders gezeigt worden ist, war für den bereits fast 68-jährigen Ralph Vaughan Williams das Debüt in der damals noch recht jungen, im rasanten Aufschwung befindlichen Tonfilm-Ära.

Dass der Name des im Metier Film ja noch völlig unbekannten Komponisten im Vorspann trotzdem sehr prominent, nämlich gleich nach den Hauptdarstellern, noch vor dem Filmtitel erscheint ist bemerkenswert. Es dürfte Teil des Gesamtkonzepts gewesen sein, ihn als renommierte Komponistenpersönlichkeit des sich gegen die Nazi-Aggression zur Wehr setzenden Großbritannien zu positionieren. Der 49. Breitengrad, die Grenze zwischen den USA und Kanada, wird vom Sprecher im direkt anschließenden Prolog als die einzige völlig entmilitarisierte und damit unverteidigte Grenze der Welt vorgestellt, als ein völlig ungesicherter, friedlicher Ort der Begegnung zweier Nationen. Die Filmhandlung folgt einer Gruppe von sechs Mann der Besatzung des deutschen U-Boots U-37, das vor der ostkanadischen Küste erfolgreich Jagd auf britische Schiffe macht. Die Gruppe, ausgeschickt um Proviant zu organisieren, wird Zeuge wie U-37 von der kanadischen Luftwaffe versenkt wird. Sie beschließen, sich nach Süden durchzuschlagen, um in die damals noch neutralen USA zu gelangen. Angeführt vom fanatisch-strammen Nazi-Leutnant Hirth begegnen sie Einheimischen mit Arroganz und Brutalität. Allerdings wird im weiteren Verlauf auch die Gruppe dezimiert. Einer, der offenbar beschlossen hat, in Kanada bleiben zu wollen, wird auf Befehl von Hirth als Verräter erschossen. Am Schluss ist nur noch Hirth übrig, dem es gelingt sich in einen Güterzug zu schmuggeln, der die Grenze überquert. Dort begegnet er delikaterweise einem Deserteur, der ihn und sich selbst schließlich beim US-Zoll denunziert. Dem Deserteur gelingt es, die Zollbeamten davon zu überzeugen, dass der Zug inklusive der beiden zwangsläufig nicht in den Frachtpapieren gelisteten beiden blinden Passagiere direkt nach Kanada zurückgeschickt werden muss.

Mittlerweile ist der hierzulande zumindest offiziell nie gezeigte komplette Film auch auf youtube in passabler SD-Qualität verfügbar. Es handelt sich dabei sicher nicht um ein minderwertig oder gar tumb gemachtes Propagandawerk. Allerdings wirken die Handlung und die Figuren auf heutige Zuschauer schon allzu sehr konstruiert, und auch die Nazis sind zwar schon differenziert, aber dennoch allzu stereotyp angelegt. Daher ist der Streifen wohl kaum mehr in der Lage zu fesseln und besitzt in erster Linie historisches Interesse. Ich habe ihn einmal komplett gesichtet, ohne dabei in Details zu gehen. Erstaunlich war, wie wenig von der Filmmusik (grob geschätzt ca. 25 min) mir dabei überhaupt aufgefallen ist. Über weite Strecken ist definitv keine Musik eingesetzt worden. Wobei das verwendete Material häufig auch nur sehr leise unterlegt und daher schwierig wahrzunehmen ist.

Richard Young verdeutlicht in seinem ebenfalls im Jahr 2004 im RVWS-Journal erschienenen, im Anhang aufgeführten Artikel „Vaughan Williams and his Music for 49th Parallel“, wie außergewöhnlich der Komponist an seine Filmvertonungsprojekte herangegangen ist, indem er seine Inspirationen zum jeweiligen Filmstoff zu mitunter geradezu verschwenderisch breit angelegten musikalischen Entwürfen ausgeformt hat. Die Länge einer zugehörigen Szene hat ihn dabei offenbar überhaupt nicht interessiert. So registriert der Hörer eher überrascht die geradezu ausladende Musikuntermalung zum „Prolog“, der bei Yates rund 16 Minuten umfasst, was schon einer sinfonischen Dichtung entspricht. Richard Young unterstreicht dies, indem er feststellt, dass der Komponist offenbar generell so weitschweifig gearbeitet hat und zieht daraus die bemerkenswerte Schlussfolgerung, dass die Filmpartituren von Vaughan Williams ungekürzt, also in ihrer Gesamtheit gehört werden müssen, um ihre vollen Qualitäten entfalten zu können.

Entsprechend hat Vaughan Williams natürlich auch mitunter drastische Kürzungen in Kauf nehmen müssen. So sind im Film von der Musik zum Prolog nur rund zwei Minuten übrig geblieben. So überließ es der Maestro dann auch regelmäßig Anderen, seine Filmkompositionen für die Filme einzurichten und einzuspielen, etwa seinem früheren Schüler Muir Mathieson, der die Einspielungen zu 49th Parallel mit dem London Symphony Orchestra vornahm. (Das alles erinnert übrigens an die überlieferte Arbeitsweise von Sergej Prokofjew zu Sergej Eisensteins Iwan der Schreckliche.) Wer die Musik der rekonstruierten originalen Partitur für den Film eingerichtet hat, ist im Begleitheft leider nicht vermerkt.

Den Bezugspunkt zur aktuell vorliegenden Kompletteinspielung von 49th Parallel liefert das 2. Vaughan-Williams-Album der vorzüglichen Reihe „Chandos-Movies“ (BBC Philharmonic unter Rumon Gamba), erschienen im Jahr 2004. Dieses wartet hierzu mit einer gemäß den Angaben im Begleitheft von Stephen Hogger zusammengestellten rund 38 Minuten Material umfassenden Suitenkompilation auf. Im Vergleich zu Rumon Gamba geht Martin Yates wie bei Scott of the Antarctic auch hier in aller Regel mit deutlich gedehnteren Zeitmaßen an die Dinge heran. Wobei Gambas Tempi dicht bei den Filmtempi angesiedelt sind. Der „Valse Winnipeg“, der bei Chandos „Winnipeg 2“ heißt, bildet eine Ausnahme. Hier sind beide in den Tempi praktisch identisch. Trotzdem enthält bei Yates erheblich länger dauerndes wie etwa der „Prolog“ oder auch „Journey through the Mountains“ („Nazis On The Run & The Lake In The Mountains“ bei Chandos) auch eindeutig mehr musikalisches Material.

Insgesamt kann, ja muss man m.E. sagen, dass die Yates-Komplettversion der zweifellos bereits beachtlichen Darstellung der Musik durch die Chandos-Suite in der Gesamtwirkung schon klar überlegen ist. Obwohl das eingängige Hauptthema des Main Titles nur noch im Prolog und dann erst wieder über den End Credits erscheint, kommt interessanterweise keinerlei Langweile auf, derart gut vermag der musikalische Fluss den Hörer über die gesamten knapp 82 Minuten bei der Stange zu halten. Auch die zwei direkt hintereinander, platzierten Versionen von „Hutterite settlement“ („original version“ sowie „revised Version“) stören den musikalischen Fluss keineswegs, da sie sich durch eine geschickt veränderte Instrumentierung ausreichend voneinander absetzen. Das einzelne Themen, etwa der markante Nazi-Marsch oder auch das Motiv für U-37, dabei auch in variierter Form erneut auftreten, führt nicht nur zu einer in sich geschlossener erscheinenden Gesamtwirkung, es legt zugleich nahe, dass hier eine Geschichte stimmungsmäßig gekonnt ausgelotet wird. Somit resultiert eine groß angelegte sinfonische Dichtung, welche in Form eines hochdramatischen musikalischen Freskos die Handlung des Filmdramas gekonnt Klang werden lässt. Auch die gedehnteren Tempi der Yates-Einspielung stellen in meinen Augen keine Beeinträchtigung dar. Wer mag vergleiche etwa das alarmistisch aufgeregte „The control room sends an alert“ mit der (gekürzten) Filmversion, wobei mir letztere zusammen mit den zugehörigen Filmbildern sogar als etwas zu schnell erscheint.

Die im hochauflösenden und zudem mehrkanalfähigen Hybrid-SACD-Format erstellte Digitalaufnahme klingt bereits im CD-Modus vorzüglich. Sie verwöhnt mit einem dynamisch kraftvollen und sehr gut aufgefächerten Klangbild.

Das Begleitheft wartet mit informativen Essays von Martin Yates und Lewis Foreman auf. Hier fehlt mir allerdings schon eine mehr in die Tiefe gehende analytische Betrachtung, insbesondere zu den essentiellen Stücken der vorliegenden Gesamteinspielung. So etwas ist immer sehr hilfreich dabei, sich zu orientieren und um eine Musik besonders gut studieren zu können, etwa instrumentatorische Veränderungen gegenüber der Filmeinspielung, wie die von Yates erwähnten Saxophone  – abseits des Source-Cues „Dance music in the restaurant“ –, leichter zu lokalisieren. Trotz dieses kleinen Einwandes gebe ich natürlich eine vorbehaltlose Empfehlung für diese absolut fein geratene, erstmalig komplette Neueinspielung der „Film-Musik“ zu 49th Parallel, die von vergleichbar faszinierender Wirkung ist, wie die von Dutton im Jahr 2017 vorgelegte Kompletteinspielung der Musik zu Scott of the Antarctic.

 

Anhang:

„Vaughan Williams and his Music for 49th Parallel“, by Richard Young in RVWS-Journal, Heft 31/2004, S. 14-22. (Zum kostenlosen Download bei der Ralph Vaughan Williams Society.)

Die Filmmusiken von Ralph Vaughan Williams: 49th Parallel (123 min, 1940), Coastal Command (Doku 72 min, 1942), The People’s Land (Doku 10 min, 1943), The Story of a Flemish Farm (82 min, 1943), Stricken Peninsula (Doku 15 min, 1944), The Loves of Joanna Godden (89 min, 1946), Scott of the Antarctic  Scotts letzte Fahrt (110 min, 1948), The Dim little Island (10 min, Doku 1949), Bitter Springs wurde von Ernest Irving auf ein von Vaughan Williams entworfenes Marschthema komponiert (89 min, 1950), The England of Elizabeth (Doku 26 min, 1957) und The Vision of William Blake (Doku 29 min, 1957).

Mit Duttons aktueller Veröffentlichung ist zumindest das zentrale Filmschaffen dieses großen britischen Komponisten für den Tonträgermarkt erschlossen. Die vorstehende Listung der insgesamt 11 vertonten Filme verdeutlicht dies. Darunter befinden sich nämlich nur noch zwei weitere überhaupt in Frage kommende Spielfilme, The Story of a Flemish Farm und The Loves of Joanna Godden (beide ebenfalls wie auch die Dokumentarfilmmusiken zu Coastal Command, The People’s Land, The Dim little Island, sind bereits in Suitenform auf Chandos vertreten) sowie zwei kürzere Dokumentarfilme zu denen bisher noch überhaupt nichts erhältlich ist: Stricken Peninsula und The Vision of William Blake.

Zusammen mit den drei ebenfalls sehr feinen Alben der Reihe Chandos-Movies ist der Filmkomponist Vaughan Williams also in jedem Falle bereits jetzt vorbildlich aufgestellt. Inwieweit uns Richard Youngs Feststellung, die Filmpartituren von Vaughan Williams müssten ungekürzt gehört werden, hier vielleicht doch noch ein paar wohl eher kleinere Überraschungen bescheren könnte und auch ob sich jemand überhaupt die Mühe machen wird dies abzuchecken, das bleibt natürlich abzuwarten.

Zu Neuerscheinung Nr. 1 von Dutton Epoch, British-Light-Music von Albert Ketèlby (1875-1959), geht’s hier.

© aller Logos und Abbildungen bei Dutton Epoch. (All pictures, trademarks and logos are protected by Dutton Epoch.)

Originaltitel:
The 49th Parallel (Ralph Vaughan Williams): the complete music written for the film (1940–41), Performing edition and transcription from the original manuscripts by Martin Yates (2022)

Erschienen:
2023/04
Land:
Großbritannien
Gesamtspielzeit:
81:01 Minuten
Sampler:
Dutton-Epoch (Dutton Vocalion website)
Kennung:
Dutton-Epoch SACD CDLX7405
Zusatzinformationen:
SACD-Album, BBC Concert Orchestra, Martin Yates conductor

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