Virtuelle Reise in die Vergangenheit, einmal anders
Der vorliegende, ungewöhnliche Foto-Bildband bietet einen interessanten Blick zurück, in eine Zeit als der Grundstein für den Massentourismus unserer Tage gelegt wurde. Der Leser wird mit Hilfe der im Schlusskapitel des Buches eingehender beschriebenen Technik zur Herstellung so genannter Photochrome auf ganz besondere Art und Weise zurück in die Vergangenheit, in die so genannte „Gute alte Zeit“, in die „Belle Epoque“ entführt. Hier gibt’s farbige Bilder aus einer anderen Epoche in erstaunlicher Qualität zu sehen.
Photochrom steht hierbei nicht für ein frühes Farbfilmverfahren, sondern für eine komplizierte Kombination aus Schwarz-Weiß-Fotografie und einem lithografischen Einfärbeprozess. Mit bis zu 20 Farben konnte dabei schon eine überraschende Vielfalt und Detailfreudigkeit erreicht werden. Das Resultat ist sämtlichen damals bekannten Verfahren des Ausmalens (Kolorierens) schwarzweißer fotografischer Vorlagen und ebenso den gemalten Postkartenmotiven überlegen. (Die Bedeutung des Begriffs „Photochrom“ hat sich allerdings seit damals verändert.)
Der vorliegende Band präsentiert 300 von ehedem insgesamt rund 30.000 erhältlichen Photochromen. Von diesen geht eine eigenartige, ganz spezifische Faszination aus. In der erhabenen Künstlichkeit mit Gemälde-Touch ist die von ihnen ausgehende Magie mit der von exzellenten 3-Farb-Technicolor-Farbfotos durchaus vergleichbar — siehe dazu auch The Adventures of Robin Hood (1938). Hinzu kommt, dass die hier zu sehenden Plätze ihr Aussehen markant verändert haben und natürlich noch nicht vom Tourismus erobert und überschwemmt waren. Entsprechend verfügen die hier präsentierten Farbbilder über eine Aura des quasi Unberührten, was natürlich das Nostalgiepotenzial verstärkt. Das einleitende Kapitel „Unterwegs zur Farbe“ gibt hierzu einen aufschlussreichen Abriss des im Verhältnis rasanten technischen Fortschritts in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Und neben der ausgeprägten visuellen Vielfalt findet sich zu jedem abgebildeten Photochrom eine ausführliche Legende, die mit lesenswerten Infos aufwartet.
Ausgangspunkt für die in die Wohnzimmer des gehobenen Bürgertums und anderer finanzkräftiger Eliten hineingetragener, fast schon weltweit fotografierter Motive, war übrigens eine bahnbrechende Erfindung von Kodak. 1888 warf das amerikanische Unternehmen die erste Kamera für jedermann auf den Markt, mit dem berühmten Slogan: „Sie drücken auf den Knopf, wir erledigen den Rest“.
Ein abschließendes Kapitel gewährt Einblicke in das vom Schweizer Verlag Orell Füssli auf der Weltausstellung 1900 in Paris vorgestellte und patentierte Verfahren.
Die aufgrund ihrer in der zeitlichen Distanz begründeten Andersartigkeit so märchenhaft entrückt wirkenden Motive lassen die Photochrome heutzutage so exotisch erscheinen. Trotzdem bleiben im üppigen Prachtband die Schattenseiten des Fortschritts nicht völlig ausgespart. Obwohl besagte Photochrome als Reisesouvenir dienten und dem damaligen (Welt-)Reisenden daher in erster Linie das Schöne als Erinnerung lieferten, findet sich auch ein in der Verwahrlosung bestimmter Orte, wie dem neapolitanischen Viertel Santa Lucia, liegender „dekadenter“ Reiz.
Darüber hinaus belegt der Band aber auch zweierlei: Nämlich die Sehnsucht nach der Farbe bereits in der noch frühen Fotografie und ebenso die Sehnsucht nach fernen Plätzen auf unserem Planeten, die damals eben noch nicht wie heutzutage per Billig-Flugticket zu erschwinglichen Preisen erreichbar waren.
Dieser Artikel ist Teil unseres Spezialprogramms zum Jahresausklang 2007.
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