The Film Music of Doreen Carwithen

Geschrieben von:
Michael Boldhaus
Veröffentlicht am:
23. Dezember 2011
Abgelegt unter:
CD

Score

(4.5/6)

Der Name Doreen (Mary) Carwithen (1922—2003) dürfte den meisten Lesern erst einmal gar nichts sagen. Es handelt sich um die Frau des britischen Komponisten William Alwyn (1905—1985), die sich nach ihrer Heirat im Jahr 1961, ihren zweiten Vornamen benutzend, Mary Alwyn nannte. Nach dem Tod ihres Mannes im Jahr 1985 begründete sie das William-Alwyn-Archiv für Musik, Poesie und bildende Kunst und ebenfalls die William-Alwyn-Stiftung und setzte sich nachhaltig für die Musik ihres Gatten ein.

Doreen Carwithen studierte ab 1941 an der Royal Academy of Music (RAM). Bei William Alwyn erhielt sie zuerst Unterricht in Harmonielehre und später auch in Komposition. 1947 wurde sie als einzige weibliche Kandidatin der RAM ausgewählt, einen von der J. Arthur Rank Organisation neueingerichteten Lehrgang zu absolvieren, der es interessierten Nachwuchskomponisten ermöglichte, das Vertonen von Filmen zu studieren. In den Jahren bis 1955 schuf die Komponistin insgesamt 35 Filmmusiken, die — bis auf sechs abendfüllende — für Dokumentar- und Kurzfilme entstanden.

In den Jahren 2002—2003 erstellte der versierte Orchestrator und Komponist Philip Lane Suiten aus sieben dieser Filmpartituren, die Gavin Sutherland mit dem BBC Concert Orchestra im November 2010 im Abbey Road Studio No.1 musikalisch und technisch vorzüglich aufgenommen hat. Ebenso lobenswert ist der den Einspielungen beigefügte kompetente Begleithefttext von Andrew Knowles.

Das entscheidende Problem, das dieses sehr ambitionierte Album vor allem auf dem Kontinent haben dürfte, ist, dass die vertretenen Filme praktisch sämtlich nahezu unbekannt sind. Der Hammer-Robin-Hood-Exkurs Men of Sherwood Forest • Robin Hood, der rote Rächer (1954) scheint überhaupt der einzige Film mit Musik Carwithens zu sein, der hierzulande im Kino gezeigt worden ist. Three Cases of Murder • Mord ohne Mörder (1955) erlebte seine deutsche Uraufführung erst 1963 in der ARD.

Die Komponistin empfand den von den Hammer-Studios produzierten Men of Sherwood Forest nur als gespenstisch und grässlich, obwohl sie diese Komposition als eine ihrer besten Arbeiten einschätzte. Was dies anbelangt, kann man ihr in jedem Fall soweit zustimmen, dass die vitale Musik zum Swashbuckler aus der Hammer-Küche in Form der das Album eröffnenden kleinen Ouvertüre einen beachtlichen Eindruck hinterlässt. Mit einer fanfarenartigen Eröffnung steigt sie direkt angemessen in die Mantel-und-Degen-Thematik ein. Neben typisch britisch anmutenden pastoralen Momenten enthält diese kleine Suite eine ansprechende marschartige Passage, die vermutlich für Robin Hoods Mannen gedacht ist und ein wenig Korngolds „March of the Merry Men“ in The Adventures Of Robin Hood (1938) in Erinnerung ruft. Das macht Mut, bei passender Gelegenheit sogar dem Film zumindest mal eine Chance zu geben.

Ausgiebig pastorale Stimmungen, die u. a. auf Entsprechendes von Holst, Vaughan Williams oder Bax verweisen, aber ebenso festliche und auch tänzerische Momente enthalten die unmittelbar besonders klangsüffigen Untermalungen zu den beiden Technicolor-Dokumentarfilmen der 50er, East Anglian Holiday (1954) und Travel Royal (1952). Wobei im Letztgenannten auch einige volkstümliche Melodien als geschickt eingebaute Zitate aufscheinen, z. B. das auch bei uns recht geläufige Greensleeves.

Deutlich dramatischer ausgeformte Musikpassagen finden sich in Mantrap (1953, US-Titel Man in Hiding), To the Public Danger (1948), Boys in Brown (1949) sowie Three Cases of Murder (1953). Aber keine Angst. Es handelt sich hierbei keineswegs um eher dissonante, sprödere Tongemälde. Vielmehr finden sich immer wieder ausgiebigere, unmittelbar sehr ansprechende Teile, etwa in Mantrap die schon karikierend anmutende „Mr. X’s Gavotte“ mit ihrem delikaten Celesta-Solo oder der elegante englische Walzer in „Reception at the Connemaras“.

Doreen Carwithen (Mary Alwyn) erweist sich in den sieben hier vertretenen Auszügen aus ihren Filmkompositionen Vergleichbarem ihres späteren Gatten William Alwyn nahestehend. Entsprechend handwerklich souverän und ebenso versiert instrumentiert ausgeführt ist das hier Gebotene. Zwar sind die auf dem Album vertretenen Musiken nicht außergewöhnlich im Sinne von modernistisch, aber dafür im besten Sinne traditionell. Und wer der Musik etwas Zeit lässt sich zu entfalten, der dürfte bald so manches entdecken, das nach einigen Durchgängen beträchtlichen Reiz entwickelt, vielleicht sogar das Zeug zum persönlichen Favoriten hat.

William Alwyns Orchesterwerke auf Naxos

Die klingende Begegnung mit seiner zweiten Frau ist zugleich eine willkommene Gelegenheit, sich nochmals der vorzüglichen Musik William Alwyns (1905—1985) auf Tonträger zu widmen. Anlass dafür ist die kürzlich abgeschlossene Naxos-Alwyn-Reihe mit dem Royal Liverpool Philharmonic Orchestra unter der Leitung von David Lloyd-Jones.

Im Rahmen unseres Alwyn-Specials aus dem Jahre 2002 wurden von Marko Ikonic fünf Alben der exzellenten Chandos-Alwyn-Reihe vorgestellt, einer editorischen Top-Leistung des renommierten britischen Labels aus den frühen 90er Jahren. Zu Beginn des neuen Jahrtausends hat nun Naxos, mit finanzieller Unterstützung der Alwyn-Foundation, nachgezogen und ebenfalls einen CD-Zyklus ins Leben gerufen, der sich den Orchesterwerken des Komponisten widmet. Das Ergebnis ist sowohl interpretatorisch als auch aufnahmetechnisch sehr überzeugend geraten. Punktuell kann man beiden Zyklen kleinere Plus- oder Minuspunkte attestieren, aber dabei geht es letztlich mehr um den Ausdruck des individuellen Geschmacks denn um unzweifelhafte Vor- oder Nachteile.

Was die Naxos-Einspielungen zweifelsfrei für sich verbuchen können, ist natürlich das exzellente Preis-Leistungs-Verhältnis. Und an diesem Punkt schlägt vielleicht auch die Stunde für so manchen grundsätzlich aufgeschlossenen Leser, der beim im Hochpreissegment angesiedelten Chandos-Zyklus bislang gepasst hat. Aber auch alle, die den Chandos-Zyklus bereits besitzen, sollten weiterlesen. Sind doch beide Albenreihen nicht einfach deckungsgleich. Die vier hier kurz vorgestellten Naxos-CDs bereichern die heimische (Chandos-)Alwyn-Diskografie zum kleinen Preis mit einigen selten zu hörenden Raritäten sowie aus dem Archiv zutage geförderten Premieren, nämlich erstmalig eingespielten kleineren Werken.

Naxos 8.570144 „The Innumerable Dance — An English Overture“ (1933) ist eine lebhafte Tondichtung, aus der Feder des 28-jährigen Komponisten stammend. Die dem Einzug des Frühlings gewidmete Komposition besitzt noch nicht so sehr eigene Stimme. Sie zeigt noch Einflüsse diverser Vorbilder, u.a. von Ralph Vaughan Williams, Frederick Delius und Gustav Holst. Die Bezeichnung dieses frühen Orchesterstücks wurde originellerweise zum Titel der 2008er Alwyn-Biografie von Adrian Wright: „The Innumerable Dance: The life and work of William Alwyn“. „Aphrodite in Aulis — An Eclogue for Small Orchestra“ entstand bereits ein Jahr zuvor. Die delikate, intim gehaltene Miniatur ist vergleichbar an bestehenden Vorbildern orientiert.

Naxos NX 8570704 macht mit den „Five Preludes“ aus dem Jahr 1927 eine der frühesten Orchesterkompositionen Alwyns als Weltersteinspielung zugänglich. Es handelt sich um eine Sammlung handwerklich solide ausgeführter, zum Teil überraschend exotisch angehauchter Miniaturen. Ebenso nett ist die kleine „Suite of Scottish Dances“ (1946), die sieben fein orchestrierte Tanzeinlagen schottischen Ursprungs enthält, wobei es in Teilen durchaus peppig zugeht.

Naxos NX 8570705 wartet mit einer weiteren Rarität auf: mit der rund 18-minütigen Orchestersuite (arrangiert von Philip Lane) aus Alwyns letzter vollständig auskomponierter Oper, „Miss Julie“ (nach Strindberg), komponiert in den Jahren 1976—79. Auch hier ist der Komponist ein der Tradition verbundener Romantiker, indem er z. B. eine elegante Walzermelodie einbindet oder eine Liebesbeziehung klangsinnlich in Töne fasst.

Das völlig unverständlicherweise bis heute noch im Dornröschenschlaf befindliche, d. h. im Konzertsaal bislang immer noch nicht aufgeführte Violinkonzert (1939) bildet dazu eine exquisite Ergänzung. So besticht das erstmalig im Rahmen des Chandos-Alwyn-Zyklus eingespielte Werk sowohl durch seinen melodisch-warmen als auch durch den unverblümt romantischen Ausdruck (Lorraine McAslan, Violine). Zusammen mit der effektvollen, raffiniert instrumentierten „Fanfare for a Joyful Occasion“ (ebenfalls im Chandos-Zyklus vertreten) wird dieses Naxos-Alwyn-Album zur perfekten Einsteiger-Empfehlung — auch für hartnäckig Zögerliche.

Naxos NX 8570145 wartet mit den lyrischen „Seven Irish Tunes„ (1936) auf, deren warme volkstümliche Melodien geschickt für kleines Ensemble gesetzt sind. Die nur vom Umfang (11 Minuten Spieldauer) her kleine, aber pfiffige, nämlich effektvoll auskomponierte „Serenade“ war ein Geburtstagsgeschenk des Komponisten für seine erste Frau. Es entstand im Sommer des Jahres 1932 während eines mehrmonatigen Aufenthalts im australischen Brisbane. Als Weltersteinspielung präsentiert das Album die in Teilen filmmusikalisch angehauchte, wuchtige „Dramatic Overture: The Moor of Venice“ (1956).

Sämtliche Naxos-Alben sind mit solide abgefassten Begleithefttexten zum Komponisten und den vertretenen Werken versehen. Diese gibt es überwiegend in Englisch, im Einzelfalle aber auch zusätzlich in Deutsch.

Fazit: Ein klingendes Denkmal für eine bislang nahezu unbekannt gebliebene britische Komponistin, Doreen Carwithen, die zweite Frau William Alwyns, setzt das feine Kompilationsalbum des britischen Labels Dutton Epoch. Wer z. B. den Filmkompositionen Alwyns auf Chandos etwas abgewinnen kann, der liegt auch bei der Musik Carwithens keinesfalls verkehrt. Dabei erinnert die sorgfältige Machart des Produkts, das BBC Concert Orchestra wie auch der hinzugezogene Orchestrator Philip Lane, an die vergleichbaren Veröffentlichungen der Reihe Chandos-Movies. In jedem Fall erhält der Interessent auch hier ein entsprechend hochwertiges Produkt, das er guten Gewissens in die Sektion Britische Filmmusik integrieren kann.

Selbst im Vereinigten Königreich ist die Musik William Alwyns eher selten zu hören und kontinental sieht es noch erheblich bescheidener aus. Der kürzlich abgeschlossene Naxos-Alwyn-Zyklus schafft hier hochwertige Abhilfe und das, wie gewohnt, zum erfreulich kleinen Preis. Darüber hinaus ist er nicht ausschließlich in den hier vorgestellten vier Alben auch eine interessante Ergänzung für die, welche die Chandos-Alwyn-Reihe bereits besitzen.

Dieser Artikel ist Teil unseres Spezialprogramms zum Jahresausklang 2011.

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Komponist:
Carwithen, Doreen

Erschienen:
2011
Gesamtspielzeit:
61:31 Minuten
Sampler:
Dutton Epoch
Kennung:
CDLX 7266
Zusatzinformationen:
BBC Concert Orchestra, G. Sutherland

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