Die über insgesamt sieben Filme währende Zusammenarbeit mit dem Regisseur Franklin Schaffner zählte für Jerry Goldsmith sicher zu den fruchtbarsten und auch im Gesamtergebnis besonders befriedigenden seiner Karriere. Mit The Boys from Brazil (1978) vertonte er allerdings eine der schwächeren Produktionen Schaffners. Im mit Science-Fiction-Elementen versehenen, etwas bizarren Thriller nach dem Bestseller von Ira Levin (Autor von „Rosemaries Baby“) geht es um die Verschwörung einer Clique alter und neuer Nazis um den in Paraguay ansässigen KZ-Arzt Dr. Josef Mengele (Gregory Peck) und von selbigem geklonte Hitlerduplikate. Dass von den kleinen Adolfs Unheil, gar ein 4. Reich drohen könnte, erscheint logisch. Dass sich diese Befürchtung jedoch letztlich als unbegründet erweist, Mengeles unheilvolles Klonexperiment gescheitert ist, gehört zu den interessanten Aspekten des Films. Im dafür teilweise etwas abstrusen, allerdings durchaus unterhaltsam erzählten Plot ist es besonders die exzellente Schauspielerriege, die den Film ansehnlich macht: Als Gegenspieler Gregory Pecks agiert der den Nazi-Jäger Ezra Lieberman verkörpernde Laurence Olivier. Und auch der ehedem (1951) als Rommel, der Wüstenfuchs bekannte James Mason ist mit von der Partie: Dieses Mal allerdings als Wagnerliebender Ex-SS- und Verbindungsmann zu einer von Südamerika aus operierenden Nazi-Organisation.
Beachtlich ist auch die relative Häufigkeit deutschsprachiger Akteure, was dem Ganzen in Teilen zu einer recht überzeugenden Atmosphäre verhilft. Neben Bruno Ganz als Wissenschaftler Professor Bruckner sind Lilli Palmer, Uta Hagen, Joachim Hansen, Georg Marischka und Wolfgang Preiss zu sehen.
Den Hauptteil der Auseinandersetzung bestreiten ein, den Fotos von Mengele recht gut nachempfundener, mit Schnauzbart versehener Gregory Peck und sein Widerpart Laurence Olivier. Dabei zählt die Interpretation des Dr. Mengele sicher nicht zu den allzu starken Momenten in der Karriere Pecks, der hier (eher selten) einen Bösewicht verkörpert. Es liegt aber auch am Drehbuch, das anstelle einer modernen Psychologisierung des Mengele-Charakters eher einen reißerisch klischierten NS-Dämon bevorzugt. Und so wird der für seine Menschenversuche berüchtigte „Todesengel von Auschwitz“ am Schluss auch eher effektheischerisch und zugleich ironisch-sarkastisch von als (KZ-)Wachhunde tauglichen Dobermännern zur Strecke gebracht.
The Boys from Brazil entstand im zeitlichen Umfeld von Filmstoffen mit ähnlich gelagerter NS-Thematik: The Marathon Man (1976) — hier verkörpert Laurence Olivier übrigens den dem Mengele-Charakter nachempfundenen KZ-Arzt Christian Szell — und The Odessa File (1974). In allen drei Filmen bzw. Geschichten zieht hinter den Kulissen eine eher fiktive mächtige Nazi-Organisation die Fäden, die jedoch nur in The Odessa File direkt benannt wird: OdeSSA steht nämlich für „Organisation der ehemaligen SS-Angehörigen“. In The Boys from Brazil verkörpert James Mason (s. o.) diesbezüglich eine entscheidende Rolle.
Erst rund sieben Jahre nach dem US-Kinostart waren die Hitler-Boys auch bei uns kurzzeitig in den Kinos zu sehen. 1986 erschien der Film dann auf Videokassette und ist auch auf RTL gezeigt worden. Allerdings, wie auch die Kinofassung, um ca. 23 Minuten gekürzt und mit einer an „gefährlichen Stellen“ glättenden Synchronisation ausgestattet. Derartige Rücksichtnahme auf die offenbar empfindliche Gemütsverfassung spezieller Teile des Volkskörpers hatte allerdings in der Bundesrepublik bis etwa Ende der 80er Jahre immer noch Methode. So wurde z. B. das Film-Musical Cabaret (1971) in der deutschen Verleihfassung einschneidend verändert, um sämtliche NS-Szenen bereinigt und ebenso in einigen, den zeitgeschichtlichen Hintergrund berührenden, Dialogen entschärft. Eine nur geringfügig gekürzte Fassung von The Boys from Brazil scheint dafür Mitte der 80er im DDR-Fernsehen gezeigt worden zu sein: unter dem bezeichnenden Titel Die Welt des Bösen.
In den USA ist The Boys from Brazil bereits auf Blu-ray erhältlich. Hierzulande muss man derzeit noch mit der zwar nicht perfekten, aber recht ordentlichen DVD-Ausgabe des immerhin kompletten Films, erschienen auf Concorde Home Entertainment, vorlieb nehmen.
Jerry Goldsmith befand sich in jenen Jahren im Zenit seines Schaffens. Nahezu alles, was zwischen etwa 1975 und 1983 die Werkstatt des Komponisten verließ, ist bedeutend, und mehr als vielleicht nur ein oder zwei Filmkompositionen dieser Zeit verdienen es, als Meisterwerke bezeichnet zu werden. In die letztere Kategorie zählen in jedem Fall der fulminante Abenteuerscore zu The Wind and the Lion (1975), die übrigens einzige mit dem Oscar ausgezeichnete Goldsmith-Musik zu The Omen (1976), der ausgeprägt lyrische Score zu Islands in the Stream (1977), die meisterhaften, dabei völlig unterschiedlich angelegten Horrorfilmkompositionen zu Alien (1979) und Poltergeist (1982) sowie die überaus raffiniert lateinamerikanisch gefärbte Tonschöpfung zum Politthriller Under Fire (1983).
Den vorstehend Genannten steht die Musik zu The Boys from Brazil kaum nach. Wieder einmal folgte Goldsmith in der Anlage der Komposition seinem erklärten Prinzip, dass die einfache gradlinige Melodie das großartigste Bauelement sei. Der Komponist wartet dabei mit einer Überraschung auf. Anstelle einer zumindest partiell auf südamerikanische Folklore bezogenen Filmmusik steht im Zentrum der gesamten Komposition ein kunstvoll auskomponierter Walzer, versehen mit einer unmittelbar eingängigen Melodie — eine Idee, die Regisseur Franklin Schaffner einbrachte.
Mit Walzer wird natürlich Europa und speziell die Donaumetropole Wien verbunden. Dabei ist die hier vorliegende Version dieses Tanzes im Dreivierteltakt im Gestus nicht unmittelbar mit der Wiener Strauß-Dynastie verbunden, sondern verweist vielmehr ausgeprägt auf vergleichbare Kompositionen des Münchners Richard Strauss, z. B. die „Rosenkavalier“-Walzer oder den Gedächtniswalzer „München“. Damit wird das deutsche Element originell unterstrichen. Zudem war Richard Strauss nicht nur als Präsident der Reichsmusikkammer ein offizieller Repräsentant Nazi-Deutschlands. Entsprechend könnte man im charmant-üppigen Walzer ein musikalisches Sinnbild des „Glanzes auf dem Hakenkreuz“ sehen, wie ihn das NS-Regime beispielsweise mit der Hilfe von Künstlern wie Leni Riefenstahl erzeugte.
Ein raffinierter Kunstgriff des Komponisten, wie sich zeigt! Der Walzer entpuppt sich nämlich als Basis und Keimzelle für die gesamte Filmmusik. Das weiterhin zu Hörende besteht sämtlich aus variiertem musikalischem Material des teilweise bis zu elementaren motivischen Bruchstücken zerlegten (dekonstruierten) Walzers. Hier zeigt sich eine besonders am Vorbild Bernard Herrmanns orientierte Ökonomie und zugleich Raffinesse. Ein nostalgisches Feeling stellt sich beim Erscheinen des Walzers allerdings nur kurzzeitig ein. Bereits im Rollenvorspann (Main Title) wird nach etwa einer halben Minute das hinter dem schönen Schein des Wohlklanges Verborgene, latent Bedrohliche durch klangliche Verfremdungen spürbar. Und natürlich greift Goldsmith im Ausdruck auch auf die im Dritten Reich allgegenwärtige Tonsprache Richard Wagners zurück. Er geht aber auch darüber hinaus, wobei man sich in seiner ausgefuchsten Synthese mitunter (schon ironisch) an die Klangwelten der Sinfonik des Juden Gustav Mahler erinnert fühlt. Punktuell spürt man auch mal Nähe zu annähernd zeitgleich entstandenen Filmkompositionen. So durchweht besonders der Beginn von „December 11th“ (Track 14) ein Hauch von Alien (1979).
Der Walzer wird aber erstaunlicherweise auch im Zusammenhang mit Wien und dem Nazi-Jäger Ezra Lieberman zitiert, etwas, das zuerst verwirrend erscheint. Der Schlüssel zum Verständnis liegt in den auch im Film häufiger anklingenden ironischen, mitunter bissig-sarkastischen Untertönen. Der musikalische Kommentar von Goldsmith zum Film um brasilianische Hitler-Klone ist ebenfalls von bissiger Ironie bestimmt. Anstelle eines eindeutig zuordnungsfähigen filmmusikalischen Leitmotivs im Wagner’schen Sinne ist der Walzer letztlich völlig ambivalent. Anfänglich muss Goldsmith über Schaffners Anregung eher verwundert gewesen sein. Anschließend hat er sie meisterlich in unkonventioneller Art und Weise zum Rückgrat seiner Filmvertonung gemacht.
Ironie spricht auch aus dem längsten zusammenhängenden Stück der Filmmusik, „The Killers Arrive“ (CD 1, Track 2). In einem südamerikanischen Straßencafé treffen sich verschiedene Nazis, wobei auf der Straße eine Kompanie Militär vorüber paradiert. Die Parade spiegelt sich in einem Overlay der Snare-Drums, das in augenzwinkernd stilisierter Form an den berüchtigten Marschtritt der Wehrmachtskolonnen in der Nazi-Wochenschau erinnert.
Was Goldsmith in „What Does He Want“ (CD-1, Track 3) in nur rund vier Minuten an musikalischem Kontrast präsentiert, ist bestechend. Ausgehend vom in einer Variante sehr dezent aufscheinenden Walzer steht eine knappe Portion Goldsmith-typischer stark lateinamerikanisch gefärbter Orchestermusik einem aus dem Walzer abgeleiteten Nazi-Motiv — wiederum im Dreivierteltakt — gegenüber. Und auf den mit einer absolut unheroischen, vielmehr dämonischen Fanfare untermalten nächtlichen Auftritt Dr. Mengeles folgt eine stark wagnerisch angehauchte Passage. Diese kann man als mit dem paraguayischen „Dschungel-Lebensborn“ des Dr. Mengele assoziiert ansehen.
Manch weiteres pfiffiges Detail dieser vorzüglichen Filmkomposition tritt bei der aktuell erschienenen Intrada-Edition besonders deutlich hervor. Diese ermöglicht nämlich unmittelbar den Vergleich zwischen der kompletten originalen Filmmusik auf CD 1 und dem seinerzeit vom Komponisten für die LP-Veröffentlichung des Labels A&M angefertigten, knapp 39 Minuten umfassenden Albumschnitt auf CD 2. (Der zweite Tonträger bietet darüber hinaus noch eine Sektion mit Bonustracks.) Bei der LP-Albumversion handelt es sich natürlich einmal um ein Stück Filmmusikrezeptionsgeschichte. Derartiges ist mitunter zwar schon ein eher entbehrlicher rein nostalgischer Blick zurück. Aber diese Feststellung gilt keineswegs generell! In einer ganzen Reihe von Fällen vermittelt die Gegenüberstellung nämlich zusätzliche, interessante Erkenntnisse. So auch beim sehr gut geschnittenen LP-Album zu The Boys from Brazil. Hier ist die ehedem die erste Plattenseite füllende (Konzert-)Suite besonders bemerkenswert. In der knapp 20-minütigen aus dem Material kompilierten Zusammenstellung vereinte Goldsmith das Essentielle seiner Filmmusik. Er demonstriert dabei eindrucksvoll sein Konstruktionsprinzip, wobei er den fortwährend immer wieder in Fragmenten von unterschiedlichster Stimmung aufscheinenden Walzer am Schluss wieder zusammenfügt und so der Zusammenstellung zusätzliche Geschlossenheit verleiht. Hier begegnet einem eine erstklassige, unretuschiert (!) aus der kompletten Originalfilmmusik gewonnene Quintessenz der Filmkomposition. Wohl nicht ohne Grund hat der Komponist auf diese Konzertfassung zurückgegriffen und diese — freilich auf knapp die Hälfte eingedampft — verschiedentlich in seinen Livekonzerten aufgeführt.
Vergleichende Hörstudien zwischen LP-Version und der im Film übrigens zum Teil der Schere zum Opfer gefallenen Original-Filmmusik präsentieren unter anderem noch einige willkommene Varianten des Walzers — was dessen Vielschichtigkeit nochmalig unterstreicht.
Kompositorisch ist das zu Hörende insgesamt einfach erstklassig. Einmal mehr erweist sich Jerry Goldsmith als herausragender Könner in der Gestaltung einer großen sinfonischen Filmmusik. Dabei geht manches in der mitreißenden Wirkung auch auf die exzellente Instrumentierung zurück. Beim eingehenderen Hören tritt außerdem faszinierend hervor, wie dominierend das Walzermetrum auch in den düsteren Passagen dieser Filmmusik ist. Allein in der im Gesamtergebnis erreichten größeren Vielseitigkeit liegt der relativ kleine Unterschied zu den absoluten Meisterwerken wie The Wind and the Lion, The Omen oder Alien begründet. Freilich, der praktisch als Source-Cue fungierende Song „We’re Home Again“ ist unbedeutend und daher eher entbehrlich. Er bildet im Score einen immerhin anhörbaren poppigen Fremdkörper, ist ein typisches Kind seiner Zeit. Dass Goldsmith für seine Musik zu The Boys from Brazil zwar für den Oscar nominiert war, die Trophäe aber schließlich Giorgio Moroder für seinen eher schlichten synthetischen Ausflug für Midnight Express erhielt, ist bezeichnend.
Weitere interessante Einblicke finden sich in den Bonustracks der zweiten CD. Dort ist in erster Linie die von Arthur Morton arrangierte und von Goldsmith dirigierte Source-Music vertreten. Hier verhält es sich ähnlich wie mit den deutschen Märschen in The Blue Max (1965). Die Arrangements und Dirigate verleihen bekannten Piècen wie dem „Siegfried-Idyll“ oder dem berühmten „Donauwalzer“ schon noch ein eigenes recht markantes Flair. Hier findet sich übrigens auch der vom Orchestrator Arthur Morton stammende, im Film nur kurz aus dem Radio ertönende „Ismael’s Samba“ in kompletter Fassung. Nochmals zu hören gibt’s hier auch „The Killers Arrive“. Dieses Mal allerdings ohne darüber gelegten Marschrhythmus der Snare-Drums, was der Musik einen merklich anderen Ausdruck verleiht.
Ein klares Lob verdient an dieser Stelle erneut das vorbildliche Engagement des Intrada-Teams um Douglass Fake. Die auch preislich faire Doppel-CD-Edition zu The Boys from Brazil vereint in bester Intrada-Tradition die Originalfilmmusik und den seinerzeit veröffentlichten LP-Albumschnitt. Dies freilich in bestmöglicher Tonqualität. Wie bei den vergleichbar angelegten, entsprechend vorzüglichen Vorgängeralben zu The Wind and the Lion, Inchon und Alien hat man nicht einfach die alten LP-Tonmaster auf CD überspielt. Vielmehr ist auch dieses Mal der LP-Schnitt anhand der zur Verfügung stehenden Aufzeichnungen der Aufnahmesitzungen komplett neu erstellt und damit in bestmöglicher Qualität rekonstruiert worden.
Der Aufwand hat sich auch dieses Mal gelohnt, der Unterschied ist deutlich zu hören. Das Klangbild der mittlerweile dreißig Lenze zählenden LP ist recht eng und wird außerdem durch die recht bescheidene Pressqualität beeinträchtigt. Demgegenüber bildete die 1988 erschienene CD-Ausgabe von Varèse auf „Masters Film Music“ (SRS 2001) schon eine klare, auch heutzutage noch respektable Aufwertung. Das Optimum bildet wiederum die aktuelle Intrada-Edition. Gegenüber der CD-Ausgabe des LP-Albumschnitts ist der Klang jetzt nochmals um ein merkliches Quäntchen entschleiert. Neben der größeren Klarheit sind außerdem sowohl die räumliche Abbildung der Instrumente als auch die Dynamik spürbar verbessert. Der Effekt wird direkt hörbar in den sehr knackig aus den Boxen erschallenden schroff-agressiven Bläsereinsätzen in „The Killers Arrive“ (Track 2, CD 1).
Fazit: Jerry Goldsmiths’ The Boys from Brazil zählt zu den überaus feinen, nur knapp unterhalb der Top-Liga anzusiedelnden Kompositionen des Maestros. 30 Jahre nach dem Erscheinen der LP und 20 Jahre nach deren Wiederveröffentlichung auf CD liegt nun erstmalig die komplette Filmmusik in einer wiederum sehr liebevoll editierten, im Ergebnis definitiven Ausgabe als Intrada-Doppel-CD vor. Jon Burlingames minutiös Aufschluss gebender Text im feinen Begleitheft setzt dazu das Tüpfelchen auf das i, stellt diese Intrada-Edition auf einen Level mit den besten Ausgaben von Film Score Monthly. Entsprechend wird die editorische Leistung noch mit einem Zuschlag von einem halben Stern versehen und dem Album damit die Spitzenwertung verliehen.
Dieser Artikel ist Teil unseres Spezialprogramms zum Jahresausklang 2008.
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