The Adventures of Tintin

Geschrieben von:
Michael Boldhaus
Veröffentlicht am:
26. November 2011
Abgelegt unter:
CD

Score

(4.5/6)

Nach Indiana Jones und das Königreich des Kristallschädels (2008) hatten sich Regisseur Steven Spielberg und ebenso sein Hauskomponist, Altmeister John Williams, rund dreieinhalb Jahre zurückgezogen. Jetzt melden sie sich wieder zurück: mit der Comic-Verfilmung The Adventures of Tintin • Die Abenteuer von Tim und Struppi — Das Geheimnis der Einhorn.

Steven Spielberg (Regie) hat sich mit Peter Jackson (Produzent) zusammengetan, um die Abenteuer der beiden legendären Zeichentrickfiguren des belgischen Comiczeichners Georges Prosper Rémi alias „Hergé“ als Animationsabenteuer auf die große Leinwand zu bringen: Gemeint sind der pfiffige Jungreporter Tim, ein stupsnasiger Rotschopf mit der berühmten Haartolle, und sein treuer und ebenso schlauer Begleiter, der Foxterrier Struppi.

Nun, über die Tauglichkeit des Films mögen letztlich die Tim-und-Struppi-Fans befinden, zu denen ich mich nicht zähle. Bei mir hat aber wohl weniger die nicht vorhandene Tim-und-Struppi-Begeisterung dafür gesorgt, dass der Film nur bedingt zu beeindrucken vermochte. Dieses Manko geht vielmehr zu Lasten des dank manch argen Logiklochs in Teilen hanebüchen und vor allem zu klamaukig geratenen Drehbuches. Die Filmstory wurde aus drei Comics der 1940er zusammengebastelt und ist dabei kräftig mit Action aufgepeppt, oder treffender formuliert: überfrachtet worden.

Spielberg hat aus den Vorlagen einen Young-Indiana-Jones-Light-Verschnitt gemacht, der nicht zuletzt in seinen nicht originellen, sondern vielmehr arg überdreht wirkenden Actionmomenten enttäuscht. So wird z. B. vom tapferen Tim ein Flugzeug der Bösewichte mit einem einzelnen Pistolenschuss vom Himmel geholt und zur Notlandung gezwungen. Er überwältigt die Besatzung und vermag anschließend mit seinen Getreuen ohne Weiteres davonzufliegen. Das ist selbst im Comic denn doch etwas arg zu viel des Guten, oder?

Technisch und damit visuell besitzt der Streifen allerdings zweifellos seine Meriten. Das betrifft die mit Hilfe des Motion-Capture-Verfahrens sehr liebevoll und überzeugend animierten Figuren. Jamie Bell wurde zu Tim und Andy Serkis lieferte die Vorlage für den trunksüchtigen und stets fluchenden Käpt’n Haddock. Darüber hinaus zählen zu den eindeutigen Pluspunkten die so raffiniert gestalteten, mitunter schon wie kleine Kunstwerke wirkenden, Überblendungen zwischen den einzelnen Schauplätzen und ebenso der sehr überzeugend eingesetzte 3D-Effekt.

John Williams ist sich in seiner Vertonung des aktuellen Spielberg-Films, Adventures The Adventures of Tintin, wiederum hörbar treu geblieben. Allein schon die unmittelbar ohrenfällig werdende, virtuose wie pfiffige Instrumentierung ist etwas, was der Kinobesucher heutzutage eher in Ausnahmefällen geboten bekommt. Und derartige orchestrale Eleganz macht denn auch prompt Eindruck und lässt etwas wehmütige Erinnerungen an andere, gar nicht so ferne Kinotage wach werden.

Die knapp 66 Albumminuten offerieren, abgesehen von einigen dezent düsteren und geheimnisvollen Einschüben, ein in weiten Teilen lebhaft und verspielt anmutendes Cartoonscoring. Aus der sehr farbigen Klangschöpfung stechen häufig Soli von Klavier, Akkordeon, Cembalo, Saxophon und neben diversen Klarinetten auch weitere Blasinstrumente hervor.

Insbesondere die turbulenten Scherzi, aber auch „Secret of the Scrolls“ mit seinem Kristallschädel-Touch, verweisen auf Indiana Jones I. Die temperamentvolle, durch die Einwürfe des Saxophons leicht jazzig anmutende Musik für Tim erinnert zwar an Catch Me If You Can (2002), erhält allerdings durch das eingebundene Cembalo ungewöhnliche Akzente verliehen. Dazu kommt ein wenig Harry Potter III in Erinnerung. Struppi, der Foxterrier, erhält mit „Snowy’s Theme“ einen spaßigen musikalischen Auftritt in Form eines virtuosen Mini-Klavierkonzerts, das sowohl an Prokofjew als auch an Schostakowitsch erinnert. Dazu kann man sich den agilen Struppi förmlich bildhaft vorstellen, wie er die Geheimnisse des Plots ausschnüffelnd flink hin und her wieselt. Die sehr lebendige Musik wirkt aber auch an vielen anderen Stellen gemäß einem modernen Mickey-Mousing auf das Bild komponiert — z. B. in den von Bassklarinette und Basstuba intonierten Klängen für das Thom(p)son-Detektiv-Duo — und erscheint in Teilen zugleich balletthaft.

Zweifellos ist damit das, was man hier zu Hören hören bekommt, handwerklich auf einem unbestreitbar vorzüglichen Level befindlich. Alles in allem ist Adventures The Adventures of Tintin ein Score, der über so manch kunstvoll auskomponierte Passage verfügt, die aufhorchen lässt. Auf der anderen Seite birgt er in der Wahl der Mittel keine besonderen Überraschungen, wandelt auf eher vertrauten Pfaden. Wobei mit fehlenden Überraschungen hier gar nicht so sehr auf fortwährende stilistische Wandlung/Erneuerung beim Filmvertonen angespielt ist, vielmehr auf die unmittelbar etwas zu wenig griffige musikalische Charakterisierung der Figuren und Orte der Handlung. Unmittelbar sehr charmant ist dafür in jedem Fall der Musette-Walzer in „The Milanese Nightingale“.

Markante, sangbare Themen mit Ohrwurmqualitäten zählen einfach zu den charakteristischen Qualitätsmerkmalen Williams’scher Kinosinfonik, und exakt das fehlt hier schon ein wenig. Entsprechend bleibt beim ersten Hören einfach zu wenig haften. Man erkennt die betreffenden Figuren schneller an der gewählten Instrumentierung als an den ihnen zugeordneten etwas unscheinbaren Themen. Es braucht daher etwas (zu viel) Zeit, die verschiedenen Themen, ihre sorgfältige Verarbeitung und auch die häufig sehr ausgeprägten Bildbezüge besser ein- und zuordnen zu können.

Ebenso fehlt der Komposition das eine oder andere in Erinnerung bleibende prächtige Setpiece, was aber auch ein Problem des Films ist. Dafür wartet das Album in „Presenting Bianca Castafiore“ nach einer orchestralen Einleitung, in der die berühmte Cavatina („Una voce poco fà = Frag ich mein beklommnes Herz“) aus Gioachino Rossinis Oper „Der Barbier von Sevilla“ erklingt, mit der adaptierten Arie „Je veux vivre = Ich will leben“ aus Charles Gounods „Romeo und Julia“ auf, wobei am Schluss (sehr viel) Glas hörbar klirrend zersungen wird. Derartige Geräuscheinblendungen in Musikstücken sind ein unschöner Gag, der in den USA immer noch hoffähig zu sein scheint. Nun, Überdramatisieren ist an dieser Stelle trotzdem nicht angesagt. Ist doch die akustische Störung und damit die Beeinträchtigung recht kurz. Besagtes Stück kann man entweder weitgehend verlustfrei weglassen oder aber auch den Schlussgag dezent überhören. Weitere entbehrliche Effekte dieser Art finden sich erfreulicherweise nicht. Ansprechender ist hingegen das die Rossini-Arie nochmals aufgreifende Zitat in der Eröffnung des anschließenden „The Pursuit oft the Falcon“, übrigens eines der besten Actionstücke der Komposition. Unterm Strich ist der Albumschnitt repräsentativ, und ebenso untadelig ist auch der transparente wie üppige Klang.

Auch wenn ich für Adventures of Tintin nun nicht überenthusiastisch nach den (Cinemusic.de-)Sternen greifen mag. Insgesamt handelt es sich um eine sehr beachtliche, keineswegs um eine eher „altersschwache“ Komposition. Das wird insbesondere dann deutlich, wenn man der Musik etwas Zeit gibt, ihre anfänglich etwas verdeckten, aber durchaus vorhandenen Reize zu entfalten. Man kann hier zwar von einer eher routinierten Williams-Komposition sprechen, allerdings von Routine auf einem außerordentlich hohen Qualitätsniveau.

Wertungstechnisch möchte ich daher vier Sterne keinesfalls unterschreiten. Auch wenn der Score nicht wirklich Neuartiges und ebensowenig mitreißende Themen im Gepäck hat, so macht die unüberhörbare Eleganz des brillanten Orchestersatzes dies in manchem eben doch wieder wett. (Die ursprüngliche Wertung ist nachträglich noch um ein halbes Sternlein erhöht worden. Zur Begründung siehe den Artikel zum Filmmusikalbum zu War Horse.)

Fazit: John Williams (•1932), der im kommenden Jahre seinen 80. Geburtstag begehen wird, gehört noch nicht zum „alten Eisen“. Zwar erscheint mir seine Musik zu Adventures The Adventures of Tintin aufgrund des Fehlens unmittelbar einprägsamer Themen insgesamt ein wenig zu flachbrüstig. Dabei sind kraftvolle Themen mit Ohrwurmqualität das bei breiten Hörerschichten wohl ganz besonders verankerte Qualitätsmerkmal Williams’scher Filmmusik und etwas, das gerade bei einem derartigen Unterhaltungsstoff angebracht gewesen wäre, leider nicht wirklich vorhanden. Aber das bleibt letztlich ein kleinerer Einwand bei einer derart charmant ausgeführten und delikat instrumentierten Komposition, welche unüberhörbar von einem souveränen Könner des sinfonischen Metiers stammt. Und das ist etwas, was im Kino derzeit Seltenheitswert besitzt. Und somit bleibt bis auf Weiteres ein „neuer Williams“ praktisch automatisch etwas ganz Besonderes.

Dieser Artikel ist Teil unseres Spezialprogramms zum Jahresausklang 2011.

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Komponist:
Williams, John

Erschienen:
2011
Gesamtspielzeit:
65:49 Minuten
Sampler:
Sony Classical
Kennung:
88697975882

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