2. Warum die Film-Trilogie kein Meisterwerk der Filmkunst ist
Beginnen wir mit einem handwerklichen Fehler, der in einem Meisterwerk der Filmkust nicht zu finden sein dürfte: die Überstrapazierung von Stilmitteln. Dieses Problem gibt es in Peter Jacksons Trilogie jedoch nicht nur einmal, sondern mir sind vier Stilmittel aufgefallen, die sehr häufig — meiner Meinung nach zu häufig — verwendet werden.
Am häufigsten wird die Zeitlupe eingesetzt. Diese nur dem Film eigene Technik kann z.B. dazu benutzt werden, bestimmte Sequenzen hervorzuheben. Der Hervorhebungs-Effekt schwindet jedoch, wenn so viele Szenen in Zeitlupe gezeigt werden wie besonders im ersten, aber auch im dritten Teil der Trilogie. Hier eine Übersicht über den Einsatz dieses Stilmittels (ohne Anspruch auf Vollständigkeit): I.15 (Flucht zur Fähre), I.19 (Erstürmung des Gasthauses durch die Ringgeister), I.28 (Wiedersehen mit Bilbo), I.39 (Frodos Pseudo-Tod), I.42 (Fall des Balrogs), I.42 (nach Gandalfs Absturz), I.43 (Trauer vor dem Tor), I.55 (Aragorn stellt sich auf dem Amon Hen zum Kampf), I.56 (Boromir rettet Merry und Pippin), I.58 (Boromirs Niederlage mit ständigem Wechsel zwischen Zeitlupe und Normalzeit), I.61 (Sams Pseudo-Tod), II.53 (Haldirs Tod), III.1 (Gollum beißt in einen Fisch), III.9 (Arwens Vision von Eldarion), III.11 (Wiederholung von Boromirs Tod), III.28 (Opferung Faramirs), III.56 (Éomers Trauer), III.63 (Ducken vor Saurons Auge), III.67 (Verzögerung des Angriffs am Morannon), III.70 (Ereignisse an der Schicksalsklüfte und vor dem Morannon im ständigen Wechsel zwischen Zeitlupe und Normalzeit), III.71 (Fall von Barad-dûr und Untergang von Saurons Armee teilweise in Zeitlupe), III.72 (Rettung von Frodo und Sam), III.73 (Wiedersehen der Gemeinschaft mit Frodo). Diese ganzen Zeitlupen-Sequenzen scheinen mir auch nicht durch andere Zwecke begründbar zu sein. Allenfalls der Sturz des Balrogs (I.42) benötigt eine Zeitverzögerung, damit der Zuschauer mitkriegt, wie Gandalf mit in die Tiefe gezogen wird.
Wie man sieht, wird sehr viel in Zeitlupe gestorben — wenn auch nicht immer richtig. Ich will das mal als Pseudo-Tode bezeichnen: Eine wichtige Figur der Geschichte scheint zu sterben, wodurch der Zuschauer (oder Leser) in Trauer und Verzweiflung gestürzt wird. Umso größer sind seine Freude und Erleichterung, wenn sich später herausstellt, dass die Figur gar nicht wirklich tot ist. Wegen der Stärke der erzeugten Emotionen nutzt sich dieses Stilmittel besonders schnell ab. Auch besteht die Gefahr, dass der Zuschauer gar nicht mehr recht an den Tod eines seiner Helden glauben will, wenn alle immer wieder „auferstehen“. Tolkien wendet dieses Mittel im gesamten „Herr der Ringe“ zweimal an: Gandalf stürzt in Moria mit dem Balrog in die Tiefe (seine Rückkehr ist allerdings eher eine Art Wiedergeburt; er stirbt also tatsächlich) (im Film Szene I.42), und Frodo wird von Kankra gelähmt und von Sam (und dem Leser) für tot gehalten (Filmszene III.43). Bei Peter Jackson muss Frodo allein gleich dreimal „sterben“, nämlich zusätzlich in Szene I.39 (im Buch wird er zwar auch „aufgespießt“, aber er bewegt sich sofort weiter) und in III.70, wo er mit Gollum über den Abgrund fällt. Außerdem erleiden die Hobbits (I.19 im „Tänzelnden Pony“), Sam (I.61), Aragorn (II.34, II.37, II.43) und sogar Gollum (III.38) Pseudo-Tode. So nützt sich dieses Stilmittel schnell ab, insbesondere auch, weil Sterbeszenen (ob nun real oder pseudo) meist noch (u. a. durch Zeitlupe; vgl. oben) endlos in die Länge gezogen werden. Das mag in einer Oper passend sein, in einem Film und vor allem in dieser Häufung halte ich das für schlechtes Handwerk.
Eng mit den Pseudo-Toden, aber auch mit der Zeitlupe und dem nachfolgenden „Deus ex machina“, hängt die Zuspitzung von Situationen und das endlose Hinauszögern ihrer Auflösung als Stilmittel zur Spannungserzeugung zusammen. Ich nenne es der Einfachheit halber die Rettung in letzer Sekunde, obwohl es nicht unbedingt immer um Rettung geht. Auch dieses Stilmittel muss sparsam verwendet werden, damit der Zuschauer nicht von vornherein davon ausgeht, dass im letzten Moment doch noch die „Kavallerie“ kommt. Von Sparsamkeit kann jedoch auch hierbei in der Filmtrilogie nicht die Rede sein. Besonders im dritten Teil ist mir dies unangenehm aufgefallen (auch hier ohne Anspruch auf Vollständigkeit): Die Geisterarmee muss erst lange überlegen, bevor sie sich für die Erfüllung ihrer Eide entscheidet (III.35) – sie hatte ja auch nur gut 3000 Jahre Zeit, darüber nachzudenken; umgekehrt wiederholt sich das fast, als Aragorn die Geisterarmee entlässt und Gimli ihm davon abrät (III.55); Faramirs Rettung (III.47); Rettung Aragorns durch die Ringvernichtung aus der Ferne (III.70); Rettung von Frodo und Sam (III.72; wenn dies auch im Prinzip eine buchgetreue Verfilmung ist, so stößt einem die Zuspitzung der Darstellung nach diesen ganzen „Rettungen in letzter Minute“ doch unangenehm auf).
Auch der Deus ex machina wird von Tolkien in seinem Buch mit Recht sehr sparsam verwendet, und zwar in Form der Adler, die dreimal sehr dezent eingesetzt werden: Ein Adler rettet Gandalf vom Orthanc, ein Adler trägt den „wiedergeborenen“ Gandalf nach Lórien und am Morannon greifen die Adler in die Schlacht ein. Da die beiden ersten Fälle im Buch nur erzählt werden (und außerdem schlüssige Erklärungen für das Erscheinen des Adlers geliefert werden), ist eigentlich nur der dritte Fall ein echter „Deus ex machina“. Peter Jackson überstrapaziert auch dieses Stilmittel in seinen Filmen (zusätzlich zu den im Buch genannten): Boromir taucht aus dem Nichts auf, um Merry und Pippin zu retten (I.56) (Boromir verteidigt die Hobbits auch im Buch gegen die Orkübermacht, aber dort wird er von Aragorn hinter ihnen her geschickt); Aragorn hält den Ork-Anführer vom Todesschuss auf Boromir ab (I.59); Elben erscheinen in Helms Klamm (II.48); Elrond erscheint in Dunharg, um Andúril zu überbringen (III.30); Sam erscheint, um Frodo zu retten (III.43); die Geisterarmee auf dem Pelennor (III.53).
Schwächen des Drehbuchs führen zu Unlogik, Unglaubwürdigkeit und grobem Unfug:
- Die Unsinnigkeit der Worte Galadriels im Prolog (I.1) erschließt sich zugegebenermaßen nur, wenn man weiß, wer sie ist.
- Bilbo trifft nicht mit Gollum zusammen (I.2.e). Trotzdem weiß man später über Gollum Bescheid und Gollum weiß vom Beutlin im Auenland.
- Bilbos lang geplante Abschiedsrede wirkt nur peinlich (I.5).
- Erst sind die Schwarzen Reiter schon im Auenland (I.10), und dann wieder dringen sie anscheinend erst ins Auenland ein (I.11).
- Dass Bree als Ziel für den Ring natürlich nicht in Frage kommt (I.11), erschließt sich beim ersten Sehen auch nur dem Tolkien-Kenner, aber nach mehrmaligem Betrachten werden sich wohl auch andere fragen, wie Gandalf nur auf diese Schnapsidee kommen kann.
- Auch dass Gandalf die Hobbits überhaupt allein losziehen lässt, obwohl er doch zuvor vor Furcht ganz aufgelöst zu sein schien, ist für mich unglaubwürdig (I.12).
- Bei den Fluchten zur Bockenburger Fähre (I.15) und später zur Furt des Bruinen (I.25) könnten die Schwarzen Reiter den Ring erwischen, wenn sie einfach ihre Schwerter einsetzen würden.
- Der Ring wird durch die Luft gewirbelt und landet wie von Zauberhand genau auf Frodos Finger (I.17). Wie wahrscheinlich ist das wohl?
- Die Hobbits vertrauen dem wildfremden Streicher ohne Grund und ohne jede Frage (I.18).
- Streicher verteilt erst an der Wetterspitze Schwerter an die Hobbits, als ob erst dort die Gefahren beginnen würden (I.22).
- Streicher lässt die Hobbits in der Wildnis allein zurück, „um sich umzusehen“ (I.22).
- Streicher verbrennt auf der Wetterspitze drei Nazgûl (I.22), die jedoch bald darauf wieder da sind (I.24-I.26).
- „Ein Waldläufer, der nicht auf der Hut ist“, ist mehr als fragwürdig (I.24).
- Warum darf die große Elbenkriegerin Arwen (I.24-I.26) nicht an Elronds Rat teilnehmen (I.32)?
- Das Anschwellen des Bruinen ist auf die dargestellte Weise unmöglich, weil das Ufer viel zu flach ist (I.26).
- Arwen überlässt Frodo eine ihr zuteil gewordene Gnade (I.26). Die Gnade selbst muss hier nicht näher erläutert werden, aber man fragt sich wohl zu Recht, warum die Elbenprinzessin so etwas für einen wildfremden Hobbit tun sollte.
- Abschied vom Pony Lutz, obwohl dieses vorher überhaupt keine Rolle spielt (I.37)
- Gimli rennt heulend in die Kammer von Mazarbul, obwohl er doch gar nicht wissen kann, was er darin findet (I.39).
- In Moria sind die Gefährten bereits von den Orks umzingelt, werden aber dadurch gerettet, dass diese vor ihrem Anführer, dem Balrog, fliehen (I.40).
- Die zusammenbrechende Felsentreppe in Moria (I.41) ist zwar im ersten Moment ein spannender Einfall, beim mehrmaligen Ansehen überwiegt jedoch die Unglaubwürdigkeit dieser Szene.
- Gandalfs Absturz in Moria wird unglaubwürdig in die Länge gezogen (I.42).
- Bei der Gefangennahme der Gefährten in Lórien tauchen von allen Seiten Elben aus dem Nichts auf (I.44).
- Galadriel lässt Boromir weiter mitgehen, obwohl sie von seinem Verrat zu wissen scheint (I.47)
- Woher kennt Saruman den Weg der Gemeinschaft (I.48)?
- Aus dem Handgemenge mit Boromir entkommt Frodo durch Unsichtbarkeit, obwohl Boromir gerade auf ihm hockt (I.52).
- Die Gefährten lassen Frodo einfach so alleine losziehen: erst Aragorn (I.54), dann Merry und Pippin (I.56) und schließlich auch Legolas und Gimli (I.62). Wem das glaubwürdiger vorkommt als die heimliche Abreise im Buch, der möge mir das bitte erklären.
- Der Ober-Ork ist anscheinend der einzige, der richtig kämpfen kann (I.58-I.59).
- Aragorn taucht aus dem Nichts auf, um den großen Ork zu bekämpfen (I.59).
- Obwohl Aragorn den Abzug der Orks noch gesehen haben müsste (I.59, I.60), versucht er nicht, Merry und Pippin zu verfolgen.
- In der ganzen Zeit, die Aragorn, Legolas und Gimli für Boromirs Bestattung gebraucht haben, haben Frodo und Sam gerade mal den Fluss überquert (I.62).
- Gandalf fällt schneller als sein Schwert (II.1). [Wer jetzt meint: „Ja, er ist ja auch schwerer“, sollte lieber noch einmal in seinem Physik-Buch nachlesen!]
- Baumbart müsste die beiden Hobbits als vermeintliche Orks zerquetschen wie ihren großen „Artgenossen“ (II.13).
- Dass Sam und dann Frodo den Abhang runterrutschen ohne gesehen zu werden, ist so, wie es dargestellt wurde, völlig unglaubwürdig (II.18).
- Der „Alte Weidenmann“ gefährdet die Hobbits an Baumbarts Behausung (II.19).
- Dass die Übergriffe der Gefährten in Theodens Königshalle ungesühnt bleiben (II.20), widerspricht allen Vorstellungen von Sicherheitsstandards für einen Staats- und Regierungschef
- Das Heer der Eldar verschwindet nach Haldirs Tod sang- und klanglos aus der Hornburg und aus dem Film (II.48, II.53)
- Während der Schlacht um die Hornburg gibt es viele unmögliche „Kampftricks“, die vielleicht zunächst ganz nett anzusehen sind, aber auf Dauer einfach unglaubwürdig wirken (II.49, II.51, II.53 und II.58). Das gilt z.B. auch für die sämtlich so wundersam exakt passend auf die Brüstungen fallenden Sturmleitern
- Auch in Osgiliath kommt ein Nazgûl dem Ring wieder so nahe, dass es unmöglich erscheint, die Gelegenheit nicht zu ergreifen (II.60). Zumindest müsste der supergeheime Ringvernichtungsplan damit gescheitert sein.
- Weil Saruman auf der Turmspitze steht, wirkt seine Verhandlung mit Gandalf und dem König von Rohan wie ein Ding der Unmöglichkeit (III.4). Tatsächlich schreien sie nicht einmal, obwohl doch zumindest Theoden keine magischen Mittel zur Stimmverstärkung besitzt.
- Ein fliegender Heerführer wie der König der Nazgûl (III.15, III.24 und III.40) ist ohne Funkverbindung ziemlich handlungsunfähig.
- Bei der Einnahme von Osgiliath wird die Dummheit der Angreifer durch die Blödheit der Verteidiger wettgemacht (III.18).
- Die Opferung Faramirs (III.26, III.28) ist natürlich auch strategischer Unfug, aber da Denethor ja allgemein als unfähiger Herrscher dargestellt wird, fällt das im Film nicht weiter auf.
- Das Schlafen von Frodo und Sam so nah an einem tiefen Abgrund (III.27) treibt mir jedenfalls schon beim Zuschauen den Angstschweiß auf die Stirn.
- Fragt man sich nicht unwillkürlich, warum ein großer Elbenherr wie Elrond in diesen gefährlichen Zeiten allein den weiten Weg von Bruchtal nach Dunharg reitet (III.30)? Und wohin verschwindet er nach der Übergabe von Andúril genauso sang- und klanglos wie das oben genannte Elbenheer?
- Sollen die Pfade der Toten (III.35) eigentlich beängstigend oder komisch wirken? Auch Kankras Lauer wirkt nicht wirklich bedrohlich (III.38), weil man alles viel zu deutlich sehen kann.
- Wenn Stadtmauern wirklich so zerbröseln würden, wie bei der Belagerung von Minas Tirith gezeigt (III.36), wären sie kein großer Schutz, und es wäre einfacher, dort einzudringen, als das schwere Tor einzuschlagen. Ähnlich „mürbe“ Verteidigungsanlagen haben übrigens auch die Hornburg (II.51) und Osgiliath (II.57).
- Sowohl Frodo (III.38) als auch Sam (III.43) besiegen Kankra allein — okay: Frodo nur fast; aber immerhin ist er schon fast durch, bevor er doch noch erwischt wird.
- Eigentlich fehlt Pippin und Gandalf die Zeit, um Faramir vor dem Verbrennungs-Tod zu erretten (III.41, III.44 und III.47).
- So mächtig, wie die Trolle im Film dargestellt werden (III.42, aber auch schon in Moria [I.39] und später am Morannon [III.70]), scheint ein Kampf gegen sie von vornherein aussichtslos zu sein, und man fragt sich, warum der Dunkle Herrscher nicht längst die Menschen unterjocht hat.
- Warum tötet der Hexenkönig Gandalf nicht, wenn dieser doch schon wehrlos am Boden liegt (III.45)?
- Große Heerführer mit schlechter Taktik: Theoden vergibt den Überraschungseffekt beim Angriff der Rohirrim auf dem Pelennor (III.46) und Aragorn vergibt am Morannon den Vorteil der erhöhten Verteidigungsposition (III.65 und III.67).
- Die Kampffähigkeiten der Hobbits werden übertrieben und auch nicht schlüssig dargestellt (vgl. III.48 und III.58 mit III.36).
- Der „Bewusstseins-Tausch“ zwischen Merry und Éowyn führt zu Unlogik (III.53, III.54, III.56 und III.57).
Diese Mängel-Liste ist bereits sehr lang (und trotzdem natürlich unvollständig). Sie zeigt die für ein „Meisterwerk“ unentschuldbare Fülle an Drehbuchschwächen. Im dritten Kapitel werde ich darlegen, dass diese bei größerer Nähe zur Buchvorlage vermeidbar gewesen wären. Sie beruhen nämlich ausnahmslos auf unnötigen Abweichungen von Tolkiens Roman.
Die Schwäche der Drehbücher zeigt sich auch und besonders in dem offenbar völlig fehlenden Verständnis für politische Situationen, Zusammenhänge und Entwicklungen. Die meisten Patzer dieser Kategorie sind nicht etwa Einzelfälle, sondern treten sogar wiederholt auf:
- Die Schwarzen Reiter fallen sowohl im Auenland (I.11) als auch in Bree (I.19) mit Gewalt ein, ohne dass sich irgendwelcher Widerstand regt.
- Der allgemeine Zustand sowohl von Rohan (II.6-8, II.20, II.23, II.27, II.35, II.43, II.45, II.46, II.48) wie auch von Gondor (I.46, III.11, III.12, III.14) wird als so desolat dargestellt, dass ihre Lage aussichtslos scheint und der Sieg kaum erklärlich wird
- Mehrfach kommt es zu Gewaltexzessen auf diplomatischem Parkett, ohne dass die Wache oder sonst jemand einschreitet (II.20, III.36, III.47 und III.64).
- Zwei Herrscher — nämlich Theoden (II.8 und II.20) und Denethor (I.46, II.41, III.11, III.22, III.26, III.28) — werden so dargestellt, dass ihre Regierungsunfähigkeit für alle offensichtlich ist. Dennoch gibt es keine Absetzungsversuche.
- Dauernd führen die Helden sinnlose Streitgespräche und giften sich an, anstatt gemeinsam zu beraten und in einer konstruktiven Diskussion nach Lösungen der gemeinsamen Probleme zu suchen (I.29, I.30, I.32, II.23, II.43, II.45, II.58, III.11).
Am gravierendsten ist hier jedoch die systematische Demontierung der Grundlagen für Aragorns Königtum (Einzelanmerkungen dazu bei folgenden Szenen: I.22, I.30, II.32, III.8, III.10, III.11, III.30, III.35, III.51, III.53, III.56, III.59, III.60, III.64, III.74), wodurch die ganze Geschichte völlig ausgehöhlt wird. Nicht umsonst heißt ja der abschließende Teil „Die Rückkehr des Königs“. Tolkien zeigt in seinem Buch ein ganz enormes politisches Verständnis für die Frage „Wie wird jemand zum König?“ Aragorns Königtum beruht deshalb auf einer ganzen Reihe von Faktoren [in eckigen Klammern ihre Behandlung im Film]:
- Abstammung von Elendil und Isildur: Nach Isildurs Tod trennten sich das nördliche Königreich Arnor und das südliche Königreich Gondor. Während die südliche Linie nach etwa 2000 Jahren ausstarb, wodurch Denethors Vorfahren zu herrschenden Truchsessen wurden, stammt Aragorn in ungebrochener Linie von den Königen von Arnor ab.
[Die Abstammung braucht man natürlich, auch wenn die Zusammenhänge wie auch die ganze Geschichte von Gondor nur sehr oberflächlich behandelt wird und die nördliche Linie von Arnor ganz unter den Tisch fällt. Aragorn wird immer nur als Isildurs Erbe bezeichnet.]
- Deshalb ist Aragorn der Anführer der Dúnedain des Nordens. Diese halten als Waldläufer an Schutz und Sicherheit aufrecht, was vom nördlichen Königreich übrig geblieben ist (u.a. beschützen sie das Auenland).
[Mit dem nördlichen Königreich fallen natürlich auch die Dúnedain weg, und Aragorn kann nicht ihr Anführer sein – er ist eigentlich erstmal gar nichts.]
- Als Zeichen seiner Würde besitzt und trägt Aragorn die Erbstücke seines Hauses, vor allem Narsil, das zerbrochene Schwert Elendils, das gemäß einer alten Prophezeihung für den Kampf gegen Sauron als Andúril neu geschmiedet wird. Boromir kommt nach Bruchtal, weil er einen Traum über dieses Schwert hat.
[Die Geschichte von Narsil/Andúril wird entstellt (I.18, I.22, I.30, III.10, III.30); eine Beziehung zu Aragorn wird eigentlich erst mit der Übergabe des Schwertes durch Elrond (III.30) hergestellt; dafür wird so getan als sei nicht die Person sondern das Schwert entscheidend für das Anwerben der Geisterarmee (III.35).]
- Aragorns Abstammung zeigt sich auch in seiner königlichen Erscheinung, seinem Auftreten und seinem Charisma sowie seinem Selbst- und Sendungsbewusstsein.
[Tja, zur Entstellung von Aragorns Charakter ist wohl in Kapitel 1 genug gesagt worden.]
- Auch seine lange Lebensspanne (er wird insgesamt 210 Jahre alt!) beweist seine hohe Herkunft.
[Aragorns erstaunliches Alter wird nur in der Special Extended Edition (III.32) am Rande mal erwähnt, ohne dem weitere Bedeutung beizumessen.]
- Seine innere Macht und Willensstärke wird zum Beispiel bei der Bezwingung des Palantírs als rechtmäßiger Besitzer sichtbar.
[Im Film schaut Aragorn viel zu spät in den Palantír und bezwingt ihn auch nicht wirklich (III.8 und III.60).]
- Ein besonders wichtiger Faktor ist natürlich, dass das Königs-Bewusstsein in Gondor trotz der 1000 Jahre Truchsessen-Herrschaft ungebrochen ist. Beispielhaft sei eine Passage zitiert, in der Faramir Frodo über seinen Bruder Boromir erzählt (Tolkien, Herr der Ringe II, S. 319 [der alten gebundenen Ausgabe]): „’Wie viele hundert Jahre braucht es, bis ein Truchsess König wird, wenn der König nicht zurückkehrt?’ fragte er [Boromir]. ’Wenige Jahre vielleicht an anderen Orten mit einer geringeren Königswürde’, antwortete mein Vater [Denethor]. ’In Gondor würden zehntausend Jahre nicht reichen.’“
[Im Film wird das Gegenteil behauptet (I.32 und III.11).]
- Bewährung als großer Heerführer im Kampf gegen Sauron: Erst wenn Sauron niedergeworfen ist, kann das vereinigte Königreich wiedererrichtet werden.
[Diese Bewährung zeigt der Film-Aragorn vor allem in Rohan, wodurch sich eine gewisse Konkurrenz zu König Theoden ergibt (II.20, II.45, II.48, II.58, III.5, III.8, III.20, III.31).]
- Ein weiteres Zeichen, an dem man einen König erkennen kann, sind seine heilenden Hände (Athelas = Königskraut!). Die Rede davon verbreitet sich in Minas Tirith, als Aragorn nach der Belagerung der Stadt inkognito in den Häusern der Heilung tätig ist.
[In der SEE gibt es eine Szene (III.56), in der Aragorn Éowyn heilt. Weitere Folgen hat das jedoch nicht.]
- Den Anspruch auf die Königswürde erhebt Aragorn erstmals gegenüber der Geisterarmee der Toten von Dunharg. Auch das Gerücht von einem Heerführer, der eine Armee von Gespenstern anführt, verbreitet sich schließlich unter dem Volk von Gondor (auch wenn die Geisterarmee nicht bis zum Pelennor mitgenommen wird).
[Wie gesagt, scheint die Gefolgschaft der Geisterarmee eher dem Schwert Elendils als der Person Aragorns zu gelten (III.30 und III.35). Im Übrigen wird die Bedeutung der Geisterarmee so übertrieben, dass sie praktisch im Alleingang den Sieg in Minas Tirith erringt (III.51 und III.53).]
- Das Führen des königlichen Banners während der Schlacht auf dem Pelennor ist dann ein für alle sichtbares Zeichen für den Anspruch auf die Königswürde.
[Es gibt kein Banner. Eigentlich erhebt Aragorn selbst auch nie Anspruch auf die Königswürde.]
- Obwohl dieser Anspruch bereits die Anerkennung durch die Großen (den Adel) des Reiches findet, schlägt Aragorn sein Lager zunächst außerhalb der Stadtmauern auf, um die Dinge nicht zu überstürzen.
[Da es im desolaten Gondor keine Großen zu geben scheint, können sie auch nichts anerkennen.]
- Die Anerkennung durch das Volk wird vor allem durch die Gerüchte um den großen Heerführer mit den heilenden Händen vorbereitet.
[Das wird im Film nicht thematisiert. Das Volk ist hier nur Statist und Kanonenfutter.]
- Nach der Niederwerfung Saurons schließlich verkündet ein Adler in Minas Tirith die nahende Ankunft des neuen Königs.
[Entfällt.]
- Bei der Rückkehr Aragorns vom Morannon gibt es eine formale Machtübergabe durch den Truchsessen (günstigerweise ist der widerspenstige Denethor ja mittlerweile durch den königstreuen Faramir ersetzt).
[Entfällt.]
- Es folgt die Akklamation durch Volk und Heer.
[Entfällt.]
- Und schließlich die Krönung mit der alten Königskrone.
[Das ist im Film recht schön gemacht (III.74).]
- Einige Zeit später findet der neu gekrönte König auch noch einen Sämling des Weißen Baumes — ein Zeichen dafür, dass seine Dynastie blühen wird.
[Auch dies entfällt. Aber in einer Szene (III.41) zeigt sich eine neue Blüte am bisher verdorrten Baum.]
Wie man sieht, hat Tolkien ein dichtes Netz aus Legitimation, Persönlichkeit, Anspruch und Akzeptanz, aus Weissagungen, Zeichen und formellen Akten geknüpft, wodurch die ‚Rückkehr des Königs‘ ganz natürlich und glaubwürdig vonstatten geht. Untermauert mit alten Prophezeiungen greifen die einzelnen Bausteine quasi wie bei einem Puzzle passend ineinander.
Doch was bleibt davon im Film? Die Abstammung, Elendils Schwert (das mit Aragorn nicht viel zu tun zu haben scheint), die Bewährung als Heerführer und vor allem die Geisterarmee. Man fragt sich, wie das schließlich doch noch zur Krönung führen kann.
Tricktechnik statt Schauspielkunst: Zu einem filmischen Meisterwerk gehört große Schauspielkunst. Diese kommt hier jedoch kaum zu ihrem Recht, da Peter Jackson in seinen Filmen mehr auf Tricktechnik vertraut. Beispielhaft seien folgende Szenen genannt:
- I.33 (Bilbo wird angesichts des Ringes zum „Monster“.)
- I.47 (Bei ihrer Versuchung verändert sich Galadriels Aussehen.)
- II.20 (Die „Besessenheit“ Théodens wird völlig übertrieben.)
- III.8 (Während Pippin in den Palantír schaut, sehen wir statt eines inneren Kampfes auf seinem Gesicht nur wildes Herumgezappel und irgendwie gefährlich wirkende Lichteffekte.)
- III.35 (Das Grauen auf den Pfaden der Toten wird zum Splatter-Gag.)
- III.64 (Saurons Mund)
Ganz bezeichnend ist doch, dass die beste schauspielerische Leistung von der künstlichen Figur Gollum dargeboten wird.
Die Filme leiden generell an einem Übergewicht von Kampf- und Gewaltdarstellungen. Die im Buch bereits vorhandenen Kämpfe werden in die Länge gezogen, neue werden hinzugedichtet, um den Action-Anteil zu erhöhen. Im Einzelnen fiel mir auf:
- I.11 (Folterung Gollums): Im Buch wird zwar darüber berichtet, aber ansonsten bleiben die Methoden des Dunklen Herrschers der Phantasie des Lesers überlassen.
- I.13 (Zaubererduell in Isengart): Gandalf berichtet im Buch nur über seine Gefangennahme, nicht über einen Kampf.
- I.22 (Kampf auf der Wetterspitze): Auf der Wetterspitze gibt es im Roman keinen Kampf. Bei der Begegnung mit den Ringgeistern am Fuß des Berges wird auch nicht gekämpft; lediglich Frodo wird mit einem Morgulmesser verletzt.
- I.37 (Kampf gegen den Wächter im Wasser): Laut Original sticht lediglich Sam mit seinem Dolch auf den Fangarm ein, um Frodo zu befreien. Der Rest ist Flucht.
- I.39 (Kampf in der Halle von Mazarbul): Durch die Einführung des Höhlentrolls und dessen überdimensionierte Widerstandskraft wird der Kampf endlos in die Länge gezogen.
- I.55-60 (Kämpfe beim Zerfall der Gemeinschaft): In Tolkiens Werk bekommt Aragorn keinen lebenden Feind zu Gesicht. Der Film bläht die Kämpfe stark auf.
- II.13 (Baumbart zerquetscht einen Ork): Im Buch werden die Hobbits nicht verfolgt. Ihr Treffen mit Baumbart verläuft gewaltfrei.
- II.20 (Gewaltexzesse der Gefährten in Théodens Königshalle): Natürlich gibt es das im Buch nicht. Auch Schlangenzunge wird nicht geschlagen, sondern mit Magie zum Schweigen gebracht.
- II.20 (Gewaltausbruch Théodens gegen Schlangenzunge): Auch dieses unkönigliche Verhalten gibt es bei Tolkien nicht. Vielmehr wird Schlangenzunge vor die Wahl gestellt, dem König die Treue zu halten oder in die Verbannung zu gehen.
- II.23 (Angriff der Wargreiter): Frei hinzuerfunden.
- II.42 (Grausamkeit der Waldläufer gegen Gollum): Das Verhör von Gollum verläuft im Original ohne Gewaltanwendung. Die im Film gezeigten unentschuldbaren Grausamkeiten sind bei Tolkien eine Eigenart der Orks.
- II.49, II.51, II.53, II.58 (Schlacht um die Hornburg): Die Schlacht um die Hornburg dauert im Film sehr, sehr lange. Das Buchkapitel umfasst lediglich 20 Seiten inclusive „Anreise“ aus Edoras.
- II.57 (Attacke der Nazgûl auf Osgiliath): Da der Ringträger laut Original nicht nach Osgiliath geht, wird auch keine Attacke der Nazgûl erwähnt.
- II.64 (Brutalität Faramirs gegen Gollum): Gibt’s im Buch natürlich nicht (vgl. II.42).
- III.18, III.21, III.28 (Kampf um Osgiliath): Im Buch wird die Eroberung des Westufers von Osgiliath nur in einem Gespräch erwähnt, nicht dargestellt.
- III.36, III.37, III.40, III.42, III.45, III.46, III.48-53 (Schlacht auf den Pelennor-Feldern): Die Belagerung von Gondor und die Schlacht auf dem Pelennor wird auch im Buch ausführlich dargestellt.
- III.36 (Gandalf schlägt den Truchsess): So etwas würde sich der Buch-Gandalf nie herausnehmen. Allerdings ist der Buch-Denethor auch nicht völlig verblödet.
- III.45 (Gandalf und der Hexenkönig): Im Buch stehen sich die beiden Kontrahenten nur gegenüber. Bevor die Feindseligkeiten über ein Wortgefecht hinausgehen, hört man die Hörner der Reiter von Rohan, und der Hexenkönig kehrt zum Schlachtfeld zurück.
- III.47 (Gandalf wendet erneut Gewalt gegen Denethor an): In der Vorlage legt sich Denethor ganz allein auf seinen Scheiterhaufen.
- III.58 (Sam kämpft mit mehreren Orks): Sam tötet im Buch nur einen Ork. Ein weiterer flieht vor ihm, während alle anderen sich gegenseitig umgebracht haben.
- III.64 (Aragorn ermordet den Parlamentär): Auch dieser Verstoß gegen jedes Völkerrecht wäre in Tolkiens Buch undenkbar — jedenfalls für die Guten.
- III.70 (Kampf an der Schicksalsklüfte): Der Kampf zwischen Frodo und Gollum ist unnötig in die Länge gezogen.
Da die meisten dieser Kämpfe und Gewalttätigkeiten nicht durch die Geschichte motiviert sind und auch das Thema „Gewalt“ hier keineswegs zur Kunstform erhoben wird (wie man es vielleicht in Clockwork Orange oder Pulp Fiction annehmen kann), sondern eine stringente Verfolgung der Storyline und die logischen Zusammenhänge der Geschichte unter der Fixierung auf Action-, Kampf- und Gewaltszenen leiden, halte ich dies für einen weiteren Beleg meiner Ansicht, dass es sich bei der Filmtrilogie „Der Herr der Ringe“ von Peter Jackson nicht um ein Meisterwerk der Filmkunst handelt.
Dieser Artikel ist Teil zweier größerer Spezialprogramme: Er gehört sowohl zu unserem Programm zu Ostern 2007 als auch zum Herr-der-Ringe-Special.
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