Peter Jacksons Film-Trilogie „Der Herr der Ringe“ — eine Literaturverfilmung? Freie Filmkunst und Werktreue, Teil I

Geschrieben von:
Peter Kramer
Veröffentlicht am:
25. Dezember 2006
Abgelegt unter:
Special

Bewusst greife ich in dieser Zusammenschau den Titel meines ersten Beitrags zum Thema (Die Gefährten) wieder auf, mit dem ich vor nunmehr fast fünf Jahren eine umfangreiche szenenweise Besprechung von Peter Jacksons Film-Trilogie nach dem größten Werk der Fantasy-Literatur, J. R. R. Tolkiens „Der Herr der Ringe“, begonnen habe. Nachdem ich im Jahre 2002 den ersten Teil, Die Gefährten, in vier Teilartikeln behandelt habe, denen im April und Juni 2006 (in etwas strafferer Form) Artikel zu Die zwei Türme und Die Rückkehr des Königs folgten, möchte ich nun hiermit eine Synthese versuchen. Die Artikelserie, in der ausführlich vor allem die Abweichungen der Filme von ihrer literarischen Vorlage erläutert werden, bildet die Grundlage für diese Gesamtwürdigung und -wertung. Wie die bisherigen Artikel wird auch dieser — so fürchte ich — keine leichte Kost sein. Um den Verweisen folgen zu können, sollte man die alten Artikel danebenliegen haben — und am besten noch die Film-DVDs parat halten.

Diesem Ziel einer Gesamtwürdigung nähere ich mich in vier Schritten:

  1. Warum die Film-Trilogie keine gute Literaturverfilmung ist.
  2. Warum die Film-Trilogie kein Meisterwerk der Filmkunst ist.
  3. Warum es besser gewesen wäre, sich an die Vorlage zu halten.
  4. Warum die Film-Trilogie trotzdem sehenswert ist und für lange Zeit Maßstäbe gesetzt hat.

[Hinweis: Alle angegebenen Szenenverweise beziehen sich auf die in meinen genannten Artikeln verwendeten Szenennummern, d.h. für I (Die Gefährten) sind es von mir frei vergebene Nummern, während ich in II (Die zwei Türme) und III (Die Rückkehr des Königs) die Nummerierung der DVDs der Special Extended Editions verwendet habe. Die genannten Szenenhinweise erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit. In den meisten Fällen findet man nähere Erklärungen an den entsprechenden Stellen der zugehörigen Besprechungs-Artikel.]

1. Warum die Film-Trilogie keine gute Literaturverfilmung ist

„… ein Beispiel dessen, was ich zu oft hier finde, als daß ich ’Vergnügen oder Befriedigung’ dabei empfinden könnte: vorsätzliches Abweichen von der Geschichte, in den Fakten wie in der Bedeutung, ohne irgendeinen (für mich erkennbaren) praktischen oder künstlerischen Sinn“ (J. R. R. Tolkien, Briefe, Stuttgart 1991, Nr. 210, S. 359).

„Ich hoffe ernstlich, daß in der Verteilung der eigentlichen Reden die Charaktere so dargestellt werden, wie ich sie dargestellt habe: im Stil und in der Gesinnung. Ihre Pervertierung würde mich ärgern (…), sogar noch mehr als die Verzerrung von Handlung und Szenerie.“ (ebd., S. 361)

Gemäß den Worten des Meisters beginne ich also mit dem Schlimmsten: den Charakter-Verzerrungen und –Entstellungen. Davon jedoch zunächst die weniger schlimmen Fälle, die meistens auf maßloser Übertreibung und Überzeichnung bei gleichzeitiger Simplifizierung beruhen.

Aus den jungen und leichtfertigen (vielleicht sogar leichtsinnigen) Hobbits Merry und Pippin (immerhin 14 bzw. 22 Jahre jünger als Frodo) werden zwei unverbesserliche und törichte Tunichtgute, ja sogar Diebe (I.5, I.14, I.17, I.22). Dabei zeigt sich gleich ein weiteres Element der verfälschenden Behandlung des Buches: die Umverteilung von Handlungen und Meinungen, denn nicht Merry und Pippin sind die Gemüsediebe, sondern dabei handelt es sich um Reminiszenzen an Frodos Kindheit (I.14). Doch dazu später mehr.

Gandalf verliert zeitweise einen Teil seiner Würde durch seine übertriebene Angst vor dem Ring in I.6, seine verstörte und gehetzte Art in I.7 und I.11 sowie durch seine Verzweiflung in III.5 und III.59. Bei der Gewaltanwendung gegen Denethor (III.36 und III.47) scheint er sich gar völlig zu vergessen (im wahrsten Sinne des Wortes).

Boromir wird von Anfang an als zwielichtiger, schmieriger Typ dargestellt (I.30, I.32, I.35, I.45). Sein freundliches Wesen und seine heldenhafte Rechtschaffenheit, die ja im Buch nur durch die Verführung des Ringes getrübt werden, scheinen nur selten durch. Sympathisch wird er mir eigentlich nur bei dem Übungskampf mit den Hobbits (I.35) und in seinem Gespräch mit Aragorn (I.46), wo er etwas Menschliches zeigt – allerdings in einer Form, die überhaupt nicht zu seiner Figur passt.

Galadriel wird (wie überhaupt grundsätzlich alles Elbische) unsachgemäß mystifiziert (I.44-45, I.47, I.49, II.39, III.38), was sich jedoch nicht ganz durchhalten lässt. Insgesamt wird sie nicht recht zu einer greifbaren Person, und ihr Charakter bleibt blass. Eine der wenigen weiblichen Hauptfiguren der Geschichte wird „verschenkt“.

Ab dem zweiten Film wird Gimli mehr und mehr zur komischen, ja lächerlichen Figur, während Legolas immer stärker zum „Übermenschen“ stilisiert wird (II.9, II.31, II.34, III.5, III.33, III.35, III.53, III.65). Erst am Ende vor dem Morannon werden sie Freunde.

Gríma Schlangenzunge ist als auch äußerlich ekelhafter Fiesling überzeichnet (II.20).

Éomer wird zwar nicht in seinem Charakter, aber in seiner ganzen Rolle und Geschichte geändert und gemindert, was zu weiteren „Reibungsverlusten“ (Fehlen der Grundlage der Freundschaft zu Aragorn) führt (II.8, II.20, II.58).

Nun, bei den bis jetzt genannten Charakteren hält sich die Verzerrung in Grenzen, bleibt temporär beschränkt oder bessert sich im Laufe der Filme. Die Figuren sind im Großen und Ganzen gut bis sehr gut getroffen. Es gibt jedoch sechs Fälle von ganz unerträglicher Charakter-Entstellung, die (fast) von Anfang bis Ende durchgehalten wird.

Aragorn ist ein von Selbstzweifeln zerfressener Mensch ohne königliche Würde und Ausstrahlung (I.18, I.22, I.24, I.29, I.30, I.44, II.33, III.8). Dem jungen Viggo Mortensen sieht man die Lebenserfahrung, die Mühen und Plagen eines fast 90-jährigen (auf normale Menschenjahre umgerechnet vielleicht 45-jährigen) Waldläufers nicht an. Aus „Streicher“ wird auch durch die Krönung nicht „König Elessar“ (III.74), obwohl sich immerhin einiges gebessert hat.

Arwens Rolle wird einerseits als toughe Kämpferin „modernisiert“, andererseits durch die angedichtete Unentschlossenheit herabgesetzt – eine doppelte Entstellung, die eben auch in sich nicht stimmig ist (I.24-26, II.33, II.38, III.9). So kann man ihre Rolle gewiss nicht „aufwerten“, wenn man denn meint, das Weibliche käme im Buch zu kurz. Wo ist denn der emanzipatorische Effekt, wenn eine 2777 Jahre alte Elbenfrau immer noch nicht weiß, was sie will?

Elrond, der doch Aragorn wie seinen eigenen Sohn liebt und aufgezogen hat, wird nicht nur als rassistischer Menschenverächter dargestellt, der offenbar Isildur seine Schwäche nach 3000 Jahren immer noch nicht verziehen hat, sondern mittlerweile alle Menschen in einen Topf wirft (I.29). Als liebender Vater will er auch unbedingt einen Keil zwischen Aragorn und Arwen treiben (II.33, II.38, III.9-10). Dies ist wiederum eine maßlose Überzeichnung aus dem Buch, in der die ganz natürlichen Bedenken Elronds in den Worten münden: „Arwen Undómiel soll nicht um einer geringeren Sache willen das Vorrecht ihres Lebens mindern. Sie soll nicht Braut eines geringeren Menschen sein als des Königs von Gondor und Arnor.“

Théoden wird auch nach seiner Heilung nicht zum guten König, sondern wird von Aragorn in den Hintergrund gedrängt, was zu Minderwertigkeitskomplexen führt, die wiederum herrisches Verhalten und Vernachlässigung seiner Lehnsverpflichtungen bewirken (II.20, II.22, II.23, II.43, II.46, III.5).

Nach guten Ansätzen wird Faramir wegen seines Traumas als zurückgewiesener Sohn zu einem zweiten Boromir, bis er schließlich doch noch zu sich selbst findet (II.42, II.55, II.57, II.60, II.64).

Denethor, einer der größten Truchsesse von Gondor, wird als unfähiger, emotionaler Herrscher und schlechter Vater hingestellt (I.46, II.41, III.11, III.22, III.26, III.28).

Neben diesen sechs Einzelpersonen werden auch die Ents ihrer Würde, Weisheit und Intelligenz beraubt, um Merry und Pippin eine vermeintlich größere Bedeutung in der Geschichte zu verleihen (II.52, II.54, II.56).

Wenn nun also sechs Hauptfiguren (und eine ganze Art) bis zur Unkenntlichkeit entstellt oder gar ins Gegenteil verzerrt sind, wie kann Peter Jackson dann seinen Anspruch erfüllen und eine gute Literaturverfilmung abliefern?
Ergänzend zu diesen grundlegenden Überlegungen bringe ich noch eine stichwortartige Liste von Fällen, in denen Handlungen, Meinungen oder Motivationen zwischen den Personen „umverteilt“ werden:

  • Gandalf schlägt Bree als Ziel vor, obwohl er doch genau weiß, dass das nicht sicher ist und er von Anfang an ein Hauptverfechter der Ringvernichtung ist (I.11).
  • Merry und Pippin entzünden ein Feuer an der Wetterspitze und locken so die Ringgeister an (I.22). Nein, Aragorn lässt Feuer machen, um die Ringgeister abzuhalten.
  • Arwen holt Frodo ab (statt Glorfindel) und verzaubert den Fluss (statt Elrond und Gandalf) (I.24-26).
  • In der Diskussion über den Weg durch die Pforte von Rohan, über den Caradhras oder durch Moria werden die Meinungen durcheinandergewürfelt (I.34-36).
  • Saruman sollte nichts vom Weg durch Moria und schon gar nichts von dem Balrog wissen (I.35-36).
  • Statt Gandalf (als Zauberer doch wohl dafür „zuständig“) hat Frodo den richtigen Einfall zum Öffnen des Tores von Moria (I.37).
  • Merry wirft statt Boromir einen Stein ins Wasser und Aragorn statt Frodo warnt davor (I.37).
  • Sam fehlt bei Galadriels Spiegel, so dass Frodo seine Visionen sieht (I.47).
  • Gandalfs Vorschlag zur Verteidigung von Helms Klamm wird zu einer Evakuierung gegen Gandalfs Rat (II.23).
  • Merry diskutiert (besser: schimpft) mit den Ents, um sie zum Eingreifen zu bewegen. Später bringt Pippin die Ents durch einen geschickten Trick dazu (II.47, II.50, II.52, II.54, II.56). In Wirklichkeit kommt das Entthing nach langer gründlicher Beratung selbst zu dem Entschluss, Isengard anzugreifen.
  • Der Ausritt aus der Hornburg sollte Théodens Idee sein, nicht Aragorns (II.58).
  • Gandalf verzweifelt und Aragorn hat Gandalfs Einfälle (III.59).
  • Hauptsächlich Aragorn kämpft auf dem Amon Hen, obwohl er in Wahrheit der einzige ist, der keinen lebenden Ork zu Gesicht bekommt (I.55, I.57, I.59).
  • Éomer übernimmt Erkenbrands Rolle (II.58) und verliert dadurch seine eigene, die teilweise — z.B. als Berater Théodens und als (Unter-)Heerführer — von Aragorn übernommen wird (II.20, II.45, II.48, II.58, III.5, III.8, III.20, III.31).
  • Pippin erfährt durch den Palantír von Saurons Plänen, statt dass Aragorn seine eigene Größe beweisen kann (III.8).
  • Pippin zündet das Leuchtfeuer an, das schon während seines Rittes nach Minas Tirith brennen sollte (III.17, III.19).
  • Vermischung und falsche Auseinanderziehung von Ereignissen in Osgiliath (III.18, III.21, III.28)
  • Legolas statt Aragorn gibt Erklärungen über den Dimholt (III.29, III.33).
  • Elrond erzählt von den Corsaren (III.30). Auch das sollte Aragorn eigentlich im Palantír gesehen haben.
  • Geisterarmee befreit Minas Tirith, während es keine Hilfe aus Südgondor gibt (III.51, III.53)
  • Merry ist nach dem Sieg über den Hexenkönig bewusstlos, Éowyn jedoch nicht, was eigentlich umgekehrt sein müsste (III.53, III.54, III.56, III.57).
  • Merry kämpft am Morannon mit, statt sich in den Häusern der Heilung zu erholen (III.64).

Manche dieser Änderungen sind natürlich belanglos (wenn auch unnötig) und zeugen vielleicht lediglich von mangelnder Einsicht in die Zusammenhänge in Tolkiens Werk und Welt. Viele der „Umverteilungen“ führen jedoch zu einer (weiteren) Verzerrung der Charaktere und stören den logischen Ablauf der Geschichte durch die aus ihnen resultierenden Absurditäten. Ich sehe keine zwingenden Gründe für oder gar Verbesserungen durch sie.

Auch die Verschiebung von Buchszenen an andere Orte zu anderen Zeiten wirkt bestenfalls unpassend (z. B. der Alte Weidenmann in Fangorn: II.19), oft jedoch entstellend (z. B. schaut Aragorn viel zu spät und in Minas Tirith in den Palantír: III.60).

Das gleiche trifft auch auf die grundlegenderen Änderungen der Story und der Dramaturgie zu, von denen ich hier nur die wichtigsten aufzählen kann.

Durch die Überfülle der Informationen im Prolog (I.2) beraubt sich der Film eines Spannungsbogens, der sich im Buch langsam nach und nach aufbaut. Dort wird erst im zweiten Kapitel (und nach 17 Jahren!) enthüllt, dass Frodos Ring der Eine ist. Und es vergehen weitere fünf Monate, bis Frodo das Auenland verlässt. Erst dann entsteht eine immer bedrohlicher wirkende Spannung durch das Auftauchen der Schwarzen Reiter. Alle Handlungen und Ereignisse sind in einen genauen chronologischen und geographischen Rahmen eingebettet und präzise motiviert.

Die ausführliche Darstellung der bösen Seite (I.8, I.21, I.23, I.35, I.48, I.50, II.6, II.25, II.27, II.36) (während das Buch durchweg aus Hobbit-Sicht geschrieben ist) verändert ebenfalls den ganzen dramaturgischen Ablauf. Das muss natürlich nicht schlecht sein. Es unterbricht jedoch immer wieder den Handlungsfaden, und auf jeden Fall kostet es Zeit und Geld — Ressourcen, die vielleicht an anderer Stelle fehlen. Zumindest kann man so nicht mehr behaupten, bestimmte Dinge seien aus Zeitmangel weggefallen.

Die verstärkte Einbeziehung der Liebesgeschichte zwischen Aragorn und Arwen (I.24-26, I.31, II.33, II.38, III.9) kostet ebenfalls Zeit. Ich halte das trotzdem für eine legitime Entscheidung, wenn man etwas Liebe in den Film einbringen will. Aber warum hat man dann die (im Buch breiter dargestellte) Liebe zwischen Éowyn und Faramir so stiefmütterlich behandelt? Und wenn man die Bedeutung der Beziehung von Aragorn zu Arwen hervorheben wollte, warum hat man sie gleichzeitig in ihrer Größe gemindert, indem sie durch Arwens Wankelmut (s. o. bei ihrer Charakterisierung) als nicht sonderlich stabil erscheint. Auch als ein Beweggrund für Aragorns Griff nach der Krone entfällt sie, da Elrond ihn nicht zur Erlangung der Königswürde verpflichtet (s. o. bei Elronds Charakterisierung), sondern prinzipiell gegen diese Verbindung agitiert.

Ein zentrales Kapitel des Buches (und eine für mich besonders anstößige Veränderung des Films) ist der Rat von Elrond (I.32). Die Ratsversammlung verkommt schlicht vom Mittelpunkt des Informationsaustausches, der Beratung und der gemeinsamen Entscheidungsfindung zur tumultuarischen Farce. Trotz des Prologs (s. o.) werden dem Zuschauer wichtige Informationen vorenthalten, um die Zusammenhänge und den größeren Rahmen der ganzen Geschichte zu erfassen. Es handelt sich um ein Paradebeispiel für die Vereinfachung und Verflachung, die sich (meist unnötigerweise) durch die Filme hindurchzieht. Die Tiefe der Vorlage geht dabei verloren.

Unerträglich und völlig gegen Wort und Geist des Buches ist die Trennung von Frodo und Sam. Durch die zunehmend grobe, ja grausame Behandlung von Gollum durch Sam wird die Entfremdung zwischen Sam und Frodo im Film zwar gut vorbereitet (II.28, III.6, III.16, III.23, III.27), aber die ganze Idee führt nur dazu, dass die Charaktere unglaubwürdiger werden und Sam schließlich als „deus ex machina“ wieder auftaucht (III.43). Beide Hobbits begegnen Kankra allein — mit den daraus resultierenden Unglaubwürdigkeiten (III.38 und III.43).

Die Geheimhaltung des Ringes und der Reise des Ringträgers lässt stark zu wünschen übrig, obwohl sie doch ein wichtiges Element der Geschichte ist, da sie erklärt, warum eine kleine Gruppe ausgeschickt wird, anstatt Sauron offen zu bekriegen. Bei Elronds Rat ist freilich nicht davon die Rede (I.32). Bereits bei Bilbos Verschwinden fehlt Gandalfs Ablenkungsmanöver, mit dem er vom Ring ablenken will (I.5). In Bree wird der Ring für alle sichtbar durch die Luft geschleudert (I.17), Denethor, Boromir und Faramir wissen aus unbekannter Quelle von dem Ring (II.41-42), Frodo zeigt den Ring in Osgiliath dem Nazgûl (II.60), und auch Saruman weiß von Frodos Reise (III.3).

Ein grundlegendes Unverständnis für Aspekte der Vorlage lässt sich an folgenden Punkten zeigen (es ist dabei irrelevant, ob die Änderungen bewusst gegen das Buch eingeführt wurden):

  • Es gibt keine „Gnade“, die Arwen auf Frodo übertragen könnte (und sie hat an dieser Stelle der Geschichte auch gar keinen Grund dazu) (I.26)
  • Wirkungsweise eines Palantírs (III.8, III.60). Palantíri sind keine Werke Saurons; Aragorn ist ihr rechtmäßiger Besitzer; die erfolgreiche Benutzung eines Palantírs hängt von der Willenskraft des Benutzers ab.
  • Es gibt keinen Grund für Arwens Schwächeanfall (III.10, III.30). Ihre Sterblichkeit wird sich erst im Jahre 120 des Vierten Zeitalters bemerkbar machen.
  • Das Verhältnis Denethors zu Faramir ist völlig überzogen dargestellt (II.41, III.28). Zwar stand Denethor seinem Erstgeborenen näher, der seinem Wesen eher entsprach, aber das muss doch nicht zur Ablehnung des jüngeren Sohnes führen.
  • Besonders markant sind die Fehlinterpretationen über den Ring: der Ring macht nicht unbesiegbar (I.2.b), er gibt keine Geräusche von sich (I.11, I.32), seine optische Wirkung auf den Träger wird stark übertrieben (so könnte man sich ja überhaupt nicht richtig orientieren) und seine akustische Wirkung völlig falsch dargestellt (I.17, I.53), die Ringgeister merken natürlich nicht sofort, wenn jemand den Ring aufsetzt (I.17) (dann wäre der Ring längst wieder in Saurons Hand), ein Ringträger sieht nicht Saurons Auge und wird auch von diesem nicht gesehen (I.17), auch kann Sauron nicht zu einem Ringträger sprechen (I.17), der Ring macht zwar unsichtbar, befreit aber nicht aus einer Umklammerung (I.52), es gibt keinen Zusammenhang zwischen dem Ring und dem Sitz des Sehens auf dem Amon Hen (I.53).

Kommen wir schließlich zu einem weiteren Hauptkritikpunkt an der Buchtreue von Peter Jacksons Verfilmung: der Verkürzung von Raum und Zeit. Ich habe Tolkiens Meinung zu diesem Thema bereits bei Szene I.11 zitiert, wiederhole aber in aller Deutlichkeit nochmals die Kernaussage, die möglichen Einwänden vorbeugen sollte: „Eine Zusammenziehung dieser Art ist nicht dasselbe wie die notwendige Verkürzung oder Auswahl der Szenen und Ereignisse, die visuell dargestellt werden sollen.“ (Tolkien, Briefe, Nr. 210, S. 357)

Da auf Geographie und Chronologie in allen drei Filmen praktisch durchgehend nicht besonders geachtet wird, seien hier nur einige beispielhafte Szenen als Stichpunkte genannt: I.7 (Gandalfs überstürzter Aufbruch), I.8 (Losschicken der Ringgeister), I.11 (Gandalfs „Abstecher“ nach Isengard, während Frodo nach Bree geht), I.12 (überstürzter Aufbruch in Stunden statt Monaten!), I.13 (Gandalf bei Saruman und Weg der Nazgûl), I.20 (Strapazen des langen Weges werden nur in der SEE deutlich), I.21 (Gandalf immer noch bei Saruman), I.24-25 (Weg von der Wetterspitze wird stark verkürzt, Flucht zur Furt dagegen gedehnt!), I.49 (kein Aufenthalt in Lórien), II.55, II.57, II.60 (der Ring in Osgiliath), III.4 (Sarumans Tod in Isengard), III.11-37 (zeitliche Zusammenhänge werden gründlich durcheinandergebracht), III.11 (Audienz bei Denethor), III.17, III.19 (Anzünden der Leuchtfeuer), III.33, III.35 (Verlust der Pferde zwingt zu weiterer „Raumkrümmung“), III.74 (Krönung und Hochzeit gleichzeitig).

Wie achtlos oft mit Tolkiens Werk umgegangen wird, zeigen auch kleinere „Schnitzer“, die im Einzelfall nicht schlimm sind, aber in ihrer Häufung und vor allem im Zusammenhang mit den genannten groben Entstellungen nicht gerade für eine Liebe zur Vorlage sprechen. Hier nur eine kleine Auswahl: das Alter von Merry und Pippin (I.5), das Datum von Isildurs Schriftrolle (I.9), das Datum der Überschreitung des Isen durch die Nazgûl (I.13), die falschen Informationen über Gondor (III.12) oder Isildur als letzter König von Gondor (von Anfang an suggeriert, aber in III.33 auch ausgesprochen). Das sind wohlgemerkt alles Informationen, die ohne große Mühe dem Buch (oder einschlägigen Lexika) entnommen werden können. Und der Kenner fragt sich, warum überhaupt ohne zwingenden Grund exakte Daten angegeben werden, wenn man sich nicht die Mühe machen will, sie zu eruieren.

Große Teile der gesamten Film-Trilogie stehen im Gegensatz zu Tolkiens eigener Filmkonzept-Besprechung aus dem Jahre 1958 (Tolkien, Briefe, Nr. 210, S. 355-363), wie ich es bei den Szenen I.7 (Gandalf brabbelt), I.11 (Vernachlässigung von Raum und Zeit) und I.22 (Kampf auf der Wetterspitze) durch Zitate belegt habe und wie ich es in dieser Zusammenschau bisher gezeigt habe und noch weiter zeigen werde. Deshalb bin ich der Meinung, dass es sich bei Peter Jacksons Werk nicht um eine gute Literaturverfilmung handelt.

Dieser Artikel ist Teil zweier umfangreicher Spezialprogramme: Er gehört sowohl zu unserem Programm zum Jahresausklang 2006 als auch zum Herr-der-Ringe-Special.

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