Oliver Twist (2005)
Insgesamt mehr als zwanzig Mal hat Charles Dickens Roman „Oliver Twist“ die Filmemacher bis heute zur Umsetzung gereizt. Davon haben bislang zwei Versionen besonderen Bekanntheitsgrad erreicht: David Leans Oliver Twist (1948) sowie die 1968er Musical-Version Oliver! von Carol Reed.
Roman Polanski drehte in Tschechien, in den Prager Barrandov-Studios — siehe auch Die Fledermaus. Dort gab er beim Produktionsdesigner Allan Starski eines der größten bislang in Europa gebauten Sets in Auftrag: ein nach historischen Bleistiftzeichnungen faszinierend nachgestaltetes detailliert-realistisches Abbild Londons um 1850. Die ausgeprägte Liebe zum Detail in den faszinierenden Setdesigns ist von Kameramann Pawel Edelmann in sorgfältig ausgeleuchteten, vielfältig durchzeichneten Bildern eingefangen worden, etwas, das übrigens auch von DVD beeindruckt.
Polanskis Filme zeigen vielfach in der Spiegelung des Alltäglichen einen eindrucksvollen Naturalismus in unterschiedlichster Ausprägung. Ihre Figuren sind oftmals traumatisiert und neurotisch, sie werden von Obsessionen, Schizophrenien und Albträumen gequält, deren Auslöser in ihrem alltäglichen Umfeld, in den jeweiligen Lebensumständen zu suchen sind. Die Sujets sind dabei sowohl in der Welt unserer Tage (Der Mieter, Rosemaries Baby, Ekel) als auch in der jüngeren (Chinatown, Der Pianist) und weiter zurückliegenden Vergangenheit (Macbeth, Tess) zu finden. Der Überlebenskampf des Oliver Twist spielt im viktorianischen England in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Er zeigt sowohl autobiografische Züge als auch deutliche Parallelen zur Situation in Der Pianist, dessen Titelfigur (wie auch Regisseur Polanski) dem Holocaust unter mitunter bizarren Umständen, wie durch ein Wunder, entgeht.
Das viktorianische London war ein Ort der frühen industriellen Revolution. Die negativen Auswirkungen eines rücksichtslosen (Früh-)Kapitalismus traten in der Themse-Metropole der 1830er krass hervor und sind bereits von Dickens angeprangert worden: zum Teil exorbitanter Reichtum für wenige, dafür Elend für viele. Ob man angesichts der sich in den reichen Nationen Westeuropas in den letzten Jahren wieder deutlich verschärften sozialen Unterschiede im Verbund mit einer immer sichtbarer werdenden (Kinder-)Armut nun einen persönlichen Appell des Regisseurs empfinden mag, bleibt der individuellen Lesart überlassen.
Roman Polanskis Oliver Twist erinnert partiell immer wieder an die beiden oben genannten früheren Verfilmungen, besonders aber an den David-Lean-Klassiker von 1948. Das gilt sowohl für die Bildsprache als auch für den mitunter aufscheinenden schwarzen Humor, das Groteske und den Sarkasmus, der der Dickens’schen Vorlage entstammt. Besonders im letzten Drittel ist Polanskis Version allerdings noch deutlich düsterer und auch brutaler gehalten als die schon harsche 1948er Fassung. Der erst 12-jährige Barney Clarke mimt die titelgebende Figur sehr überzeugend mit großer Natürlichkeit, und Ben Kingsley ist als listenreich-verschlagener Fagin ebenso sehenswert und muss sich hinter dem großen Vorbild Alec Guiness nicht verstecken.
Alles in allem ist der neue Oliver Twist von Roman Polanski visuell prachtvoll und auch schauspielerisch gelungen. In seiner Wirkung ist er David Leans Verfilmung vergleichbar, ohne diese zu übertrumpfen. In Teilen erweist Polanski Lean eindeutig Reverenz und damit Respekt. Durch weitgehenden Verzicht auf die Unterstützung vom Kollegen Computer, durch seine überwiegend „handgemachte“ Machart, besitzt diese neue Filmversion geradezu einen klassischen Touch. Polanskis Oliver-Twist-Version ist allerdings keine Kinderunterhaltung geworden, wie es dem Regisseur anscheinend vorschwebte, sondern sollte jungen Zuschauern unter mindestens (!) 12 Jahren besser nicht präsentiert werden.
Nur blass hingegen bleibt die musikalische Untermalung von Rachel Portman — siehe Kritik von Mike Rumpf auf „Filmmusik 2000“. Was sich noch einigermaßen hinter den Bildern verstecken kann, ohne dabei besonders störend aufzufallen, ist abseits davon fast durchweg monoton.
Die DVD-Präsentation des Films ist praktisch makellos. Die von eher zurückhaltenden, vielfach gedämpften farblichen Stimmungen bestimmten Bilder sind auch via Mattscheibe in all ihrer Detailfreudigkeit und zusätzlich gestochen scharf zu sehen. Ebenso wenig steht der Ton dem nach. Dem Hörer entbietet sich ein geradezu perfekt auf natürliche (!) Räumlichkeit abgestimmter Surround-Tonmix, der sowohl vielfältige feine klangliche Details als auch einzelne sattere Effekte optimal platziert. Dies gilt sowohl für die englische Original- als auch für die deutsche Synchronfassung. Markante Unterschiede sind dabei nicht auszumachen.
Die vorliegende Special-Edition zu Oliver Twist enthält auf einer zweiten DVD reichhaltiges Zusatzmaterial. Insgesamt rund 90 Minuten sind der Entstehung des Films gewidmet.„Making Of“, „Twist by Polanski“ und „The Best of Twist“ halten dazu interessante und umfassende Informationen bereit; wobei der Part „The Childrens Making Of“ sehenswerte Einblicke zur Arbeit mit den jungen Darstellern von Fagins Kinder-Diebesbande vermittelt. Eine Kollektion von Interviewausschnitten sowie Infos zu Cast & Crew auf Texttafeln sind ebenfalls vorhanden. Unterm Strich erhält der Interessierte eine sehr solide Mischung aus Produktwerbung und Informationen rund um den Film, die trotz einer Reihe von (üblichen) Dopplungen sehr sehenswert ist.
Dieser Artikel ist Teil unseres umfangreichen Programms zum Jahresausklang 2006.
© aller Logos und Abbildungen bei den Rechteinhabern (All pictures, trademarks and logos are protected).