Kleine Klassikwanderung 25: Von Bridge und Britten. Frank Bridge: Zyklus der Orchesterwerke auf Chandos

Geschrieben von:
Michael Boldhaus
Veröffentlicht am:
25. Dezember 2005
Abgelegt unter:
Special

Kleine Klassikwanderung 25: Von Bridge und Britten.
Frank Bridge: Zyklus der Orchesterwerke auf Chandos

Frank Bridge (1879-1941) war der Lehrer Benjamin Brittens. Seine Musik ist hierzulande allerdings bislang praktisch gänzlich unbekannt geblieben. Zu unrecht, wie der seit 2001 bislang auf sechs Alben angewachsene Chandos-Bridge-Zyklus belegt. Selbst in Großbritannien hat man erst in den 1970er Jahren begonnen, zu erkennen, dass Bridge zu den wohl innovativsten und auch originellsten Vertretern der Komponistengarde seiner Zeit zählte. Und im Rahmen der Chandos-Reihe sollen die Orchesterwerke des Briten sogar erstmalig vollständig auf Tonträger vorgelegt werden. Dafür sind das BBC-Orchester von Wales unter der Leitung von Richard Hickox kompetente Sachwalter.

Frank Bridge genoss im England des frühen 20. Jahrhunderts einiges Ansehen als Bratschist und hat sich außerdem um die britische Kammermusik verdient gemacht. Ebenso hatte er einen Namen als Komponist von Liedern und Klavierminiaturen (Salonmusik). Er profilierte sich aber ebenso als Orchestermusiker und Dirigent. Seine frühen Orchesterwerke zeigen besonders den lyrischen, vom Impressionismus geprägten Romantiker. Die Stücke wandeln neben den von der Ausbildung bei Charles Villiers Stanford (1852-1924) herrührenden Vorbildern Brahms und Dvořak auf den Spuren von Liszt, Tschaikowski und Wagner. So in den breit angelegten Tondichtungen „Isabella“ und „Mid of Night“, wobei diese seit ihrer Uraufführung im Jahr 1904 übrigens praktisch vergessen war. Die prächtige Orchestersuite „The Sea“ (1911) ist nicht nur das erfolgreichste Orchesterwerk von Bridge, es zog auch seinen späteren Schüler, den jungen Benjamin Britten ganz besonders in seinen Bann. In „The Sea“, „Summer“ (1914) und auch noch im aus dem Jahr 1927 stammenden „Enter Spring“ finden sich ausgeprägt tonmalerische, spätromantisch-impressionistische Naturstimmungen. Nicht nur in diesen Kompositionen zeigt ihr Schöpfer Talent als inspirierter Melodiker und beweist sich ebenso als geschickter Orchestrator, der dem Sinfonieorchester faszinierende Klangkombinationen zu entlocken versteht. Dies belegen ebenso die mitreißend glitzernd und funkelnd daherkommende „Dance Rhapsody“ sowie das Einflüsse von Ravels „La Valse“ zeigende „Dance Poem“.

Die als Bühnenmusik konzipierten „Five Entr’actes“ (1910) zeigen sich als geschickt auskomponierte und farbig orchestrierte Genrestücke, die zudem findig auf Volksweisen aufbauen. Hier zeigt sich der Bridge der melodischen Miniaturen, die um die Jahrhundertwende in den britischen Salons sehr beliebt waren, aber auch Einflüsse aus den „Irish Rhapsodies“ seines Lehrers Stanford. Britten bezeichnete die Musik seines Lehrers übrigens als angenehm für den Hörer und dankbar für den Musiker. Dass viele der Bridge-Kompositionen bei Promenadenkonzerten gespielt wurden, ist allein ein Hinweis auf ihre Verbindlichkeit im Ausdruck, die breiteren Hörerschichten leichten Zugang ermöglicht, keinesfalls steht dies für mindere Qualität. Man höre dazu auch die 1938er Orchesterfassung der charmanten Mini-Tondichtung „Norse Legend“, die auf einem Stück für Violine und Klavier aus dem Jahr 1905 beruht. Entsprechendes gilt für „Vignettes de danse“ (1938), den zum Teil verführerisch klingenden musikalischen Postkarten einer Autofahrt entlang der Mittelmeerküste, in denen einiges an lokalem Kolorit aufscheint. Eines der elegantesten Piècen sinfonischer Unterhaltungsmusik dürfte das noch aus der Studienzeit des jungen Komponisten stammende „Valse Intermezzo à cordes“ sein. Und last but not least seien an dieser Stelle noch die kunstvolle Verarbeitung englischer Volksmusik in den „Two Old English Songs“ und der altenglischen Tanzweise „Sir Roger de Coverley“ genannt. Letztere entstand ursprünglich für Streichquartett und ist auf Vol. 3 bzw. Vol. 5 in zwei markant unterschiedlichen Orchesterfassungen zu hören.

Der fatale Eindruck des verlustreichen ersten Weltkriegs führte bei Bridge zu einer Wandlung des kompositorischen Naturells. Seine Musik wurde im Ausdruck kühler, grüblerischer sowie dissonanzreicher, sie zeigt verstärkt harmonische Schärfungen und ausgeprägte Chromatik. Entsprechend wetterleuchtet es besonders im ersten der beiden 1915 entstandenen „Poems“, und zeigt sich entsprechend in den gespenstisch anmutenden Klangwelten von „Phantasm“, einem sehr freien Klavierkonzert, entstanden 1931, zu dem Bridge durch Hindemiths „Konzertmusik op. 49“ inspiriert wurde.

Der Pazifismus des Komponisten Bridge prägte seinen berühmtesten Schüler Britten nachhaltig und kommt in Werken wie dem „Lament“ zum Ausdruck, gewidmet einer jungen Bekannten, die beim Untergang der Lusitania (1916) ums Leben kam, ebenso im melancholischen Friedensappell für Chor und Orchester „The Prayer“ oder den geistigen Bildern des ersten Weltkrieges im herben Cellokonzert „Oration (Concerto elegiaco)“. Demgegenüber schlägt die 1940 entstandene Ouvertüre „Rebus“ einen deutlich verbindlicheren Ton an. Besagte ist übrigens eines der Stücke, die im Rahmen des Chandos-Bridge-Zyklus ihre Premiere auf Tonträger erleben.

Besonders reichhaltig an CD-Premieren ist das derzeit aktuellste, sechste Chandos-Album. Auf diesem finden sich klingende Einblicke in das gegenüber den Klavierliedern kleine Œuvre der aus der Feder des Briten stammenden Orchesterlieder. Eines der eindringlichsten ist das im Mai 1918 vollendete „Blow out, you bugles“, das mehr einer kleinen Solokantate als einem üblichen Lied entspricht, wobei im Mittelteil die Trompete den britischen Zapfenstreich intoniert. Reizvolle Ergänzungen bilden die Suite aus der Theatermusik „The Pageant of London“, originellerweise gesetzt für ein reines Bläserensemble, und die für eine Rundfunksendung der BBC entstandene Miniatur „A Royal Night of Variety“.

Hierzulande ist Frank Bridge vielen Klassikfreunden in erster Linie über ein kleineres Werk seines berühmten Schülers Benjamin Britten geläufig: der reizenden Hommage an den Lehrer und Freund „Variations on a Theme of Frank Bridge“ (s. u.). Der aufgeschlossene Klassik- aber auch der Filmmusikfreund sind hier angesprochen, dieser vorzüglich ausgeführten, meist melodienreichen und klangsinnlich instrumentierten Musik eine Chance zu geben, einer Musik, der man häufig das Prädikat meisterlich nicht versagen kann. Die Freunde der orchestralen Filmmusik sollten mit den Vol. 1 & 2 den Einstieg wagen: sie dürften z. B. von den Meeresstimmungen in „The Sea“, den Vogelrufen in „The Spring“, aber auch von den beiden funkelnden tänzerischen Kompositionen „Dance Rhapsody“ und „Dance Poem“ unmittelbar angesprochen werden. Darum ist der neue, mit sehr gutem Klang und durchweg stilvollen bis sehr guten Interpretationen der Stücke aufwartende, Chandos-Bridge-Zyklus hochwillkommen. Vielleicht ist er in der Lage, dem Komponisten mittelfristig auch hierzulande mehr Beachtung zuteil werden zu lassen.

Benjamin Britten auf Naxos

Benjamin Britten (1913-1976) zählt zu den bedeutendsten Komponisten des 20. Jahrhunderts und ist international erheblich bekannter geworden als sein Lehrer, Mentor und Freund Frank Bridge. Verschiedentlich hat man bedauert, dass Britten ursprünglich bei Alban Berg in Wien studieren sollte, dann allerdings „nur“ bei Bridge unterkam.

Brittens kompositorisches Œuvre umfasst praktisch sämtliche Gattungen, von Kammer- und Orchestermusik bis zum groß angelegten „War Requiem“. Seine Tonsprache ist zweifellos modern, sie verschmilzt von der Folklore bis zur behutsam integrierten Reihentechnik sämtliche Stilmittel auf sehr individuelle Art und Weise. Dabei wirkt sie aber selbst in den unmittelbar weniger leicht zugänglichen Werken nie abstrakt avantgardistisch. Vielmehr fühlte sich Britten immer als Sachwalter der großen musikalischen Tradition, war ein starker Verehrer der Musik Henry Purcells.

In allen Werken zeigt sich eine für Britten typische kammermusikalisch aufgelichtete Behandlung auch des großen Orchesterapparates, dessen klangliche Konturen selbst im Tutti nie verschwimmen. Britten wollte sich hier, beeinflusst durch seinen Lehrer Frank Bridge, stets von der in seinen Augen „deutschen Dekadenz in der Spätromantik“ absetzen.

Auf Naxos erscheinen derzeit als preiswerte Wiederveröffentlichungen diverse Einspielungen des Labels Collins-Classics, entstanden in den 1990ern. Die unter der versiert-einfühlsamen Leitung von Steuart Bedford (ehedem künstlerischer Leiter des von Britten gegründeten Aldeburgh Festivals) realisierten Aufnahmen dürfen durch die Bank interpretatorisch wie klangtechnisch als sehr gut bis kongenial bezeichnet werden. Die Naxos-Alben sind daher etwas, wo der Interessierte bei Britten wahrlich konkurrenzlos günstig einsteigen und ohne großes finanzielles Risiko auch ruhig mal etwas waghalsiger sein sollte.

Der ursprünglich sogar für einen Lehrfilm entstandene „Young Persons Guide to the Orchestra“ ist zweifellos (nicht nur) für den Filmmusikfreund das geradezu ideale Werk zum Einstieg in die Klangwelten Brittens. Ein eingängiges Thema aus einer Schauspielmusik des verehrten Henry Purcell wird kunstvoll variiert, wobei zugleich sämtliche Sektionen des Orchesters geschickt und farbenprächtig vorgeführt werden. Den Abschluss bildet eine krönende Schlussfuge. Ebenfalls Charme besitzen die (s. o.) als Sympathieerklärung an den Lehrer Frank Bridge komponierten „Variations on a Theme of Frank Bridge“ für Streichorchester. Zwei zwar zur Gattung Gelegenheitskompositionen zählende, aber auch abseits des ursprünglichen Anlasses hörenswerte Stücke kleineren Ausmaßes runden die CD ab: die klangvolle 1946 für die Eröffnung des dritten Programms der BBC entstandene „Occasional Overture“ sowie das bemerkenswerte „Prelude and Fugue for 18-part String Orchestra“.

Keinesfalls fehlen in der Kollektion sollten die ausdruckstarken „Four Sea-Interludes“ aus der Oper „Peter Grimes“, deren gemäßigt moderner tonmalerischer Gestus sich auch in Filmmusiken von Richard Rodney Bennett bis James Horner spiegelt. „Peter Grimes“ zählt übrigens zu den wenigen Opern des 20. Jahrhunderts, die ihren Weg ins Repertoire gefunden haben. Entsprechend unverzichtbar für die Britten-Basiskollektion ist auch die dramatische „Sinfonia da Requiem“, die man als eine Art packendes sinfonisches Vorspiel zum berühmten „War Requiem“ betrachten kann. Und als herrliche, schon an Musik zu einem Historienfilm erinnernde Zugabe gibt es noch die sinfonische Suite aus der Oper „Gloriana“. Das Werk entstand für die Krönungsfeierlichkeiten von 1953 und ist eine Art The Private Lives of Elizabeth and Essex (1939, Musik: Erich Wolfgang Korngold) in Opernform. Musikalisch standen hier zwar weder Korngold oder Rózsa noch Delerue Pate, aber Brittens Spiegelungen und zugleich Verschmelzungen alter höfischer Musik mit einem gemäßigt modernen Klangidiom ist erfrischend eigenwillig und historisierend zugleich.

Nicht ausgespart bleiben sollten auch die reizende, auf Jugendwerken beruhende „Simple Symphony for Strings“ wie die späte, die Verbundenheit des Komponisten mit der Volksmusik dokumentierende „Suite on English Folk Tunes: A Time there was …“. Auf dieser Britten-Kompilation findet sich auch der charmante Liederzyklus „A Charm of Lullabies“, der zugleich eine Brücke zu den hier aus Platzgründen nicht mehr abgebildeten beiden Alben mit Folksong Arrangements (NX 8.55720-21 und NX 8.557222) bildet.

Für weitere musikalische Entdeckungsreisen sollte man sowohl dem markanten Klavierkonzert Opus 13 als auch dem lyrisch-ernsten Violinkonzert Opus 15 eine Chance geben. Beide Konzerte enthalten vorzügliche Musik. Im Konzertbetrieb hierzulande sind sie, wie übrigens (abseits des War Requiems) das gesamte übrige Werk Brittens, praktisch nicht vertreten — etwas, das auch für andere hochkarätige (nicht nur) britische Komponisten gilt, wie Ralph Vaughan Williams. Beim Klavierkonzert ist interessanterweise der dritte Satz alternativ zur geläufigen 1945er-Version auch in der ursprünglichen Fassung zu hören. Ebenso bemerkenswert ist die auf demselben Album vertretene vielseitige Suite aus der Bühnenmusik zu „Johnson over Jordan“, in der auch der populäre Blues berührt wird.

Das Album mit dem Violinkonzert wartet ebenfalls mit wertvollen Zugaben auf: die auf kanadischen Volksweisen beruhenden Konzertouvertüre „Canadian Carnival“, bei der sich auch ein unüberhörbarer Hauch von Aaron Copland (siehe auch Klassikwanderung Nr. 1) findet, und eine weitere reizende und sehr ohrgängige Remineszens an die Volksmusik (natürlich abseits von Musikantenstadl): die zusammen mit Lennox Berkeley komponierte Suite katalanischer Tänze „Mont Juic“.

Abschließend sei noch auf zwei Operngesamtaufnahmen verwiesen: auf die heitere, von Parodien und Zitaten durchzogene, sehr unterhaltsame Kammeroper „Albert Herring“ und, obwohl der äußere Aufwand eher bescheiden ist, auf eines der stärksten Werke des Musikdramatikers Britten „The Turn of the Screw (Die sündigen Engel)“.

Weitere Britten-Alben (mit Cover und Tracklisting) unter Steuart Bedford auf Naxos finden sich unter www.hnh.com. Dass sämtliche Naxos-Alben auch in Deutsch (!) über eine knappe aber solide Werkeinführung verfügen, es zu „The Turn of the Screw“ sogar das komplette Libretto inklusive gibt, sei noch angemerkt.

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