Kleine Klassikwanderung 23: Neujahrskonzerte – unkonventionell und ebenso traditionell

Geschrieben von:
Michael Boldhaus
Veröffentlicht am:
30. September 2005
Abgelegt unter:
Special

Kleine Klassikwanderung 23: Neujahrskonzerte — unkonventionell und ebenso traditionell

„Who Is Afraid of 20th Century Music?“

Während seiner Zeit als Generalmusikdirektor in Hamburg begründete Ingo Metzmacher (geb. 1957) zum Jahreswechsel 1999/2000 die Tradition alternativer Silvester-/Neujahrskonzerte, die unter dem Motto „Who Is Afraid of 20th Century Music?“ große Erfolge wurden. Die als Live-Mitschnitte auch auf CD erschienenen insgesamt fünf Konzerte sind nun in einer Box vereint nochmals aufgelegt worden. Als Bonus enthält die Box noch eine sechste, ebenfalls randvoll bestückte CD: Auf dieser findet sich neben einem rund viertelstündigen Interview mit dem Dirigenten eine Auswahl der Einführungen, mit denen Metzmacher seine Zuhörer jeweils gekonnt und augenzwinkernd in die richtige Stimmung für das folgende Musikstück versetzte. Das aus Platzgründen auf der CD des Millenniumskonzerts bislang ausgesparte „Lullaby“ von George Gershwin bildet das perfekte Schlusslicht.

Erfreulicherweise muss der Käufer auf die ausführlichen Informationen zu den einzelnen Musikstücken und ihren Schöpfern in den Begleitheften der einzelnen CD-Ausgaben nicht verzichten: Ein mit knapp 80 Seiten umfangreiches Heft rundet die Box-Präsentation vorzüglich ab.

Ungewöhnlich, neuartig, frech und frisch zugleich: das sind die Eindrücke, die diese interessanten Pendants zu den traditionellen Vorbildern aus Wien beim Zuhörer hinterlassen. Die mit rund 450 Minuten vorzüglich klingendem Programm ausgestattete Box ist nicht nur vom Preis-Leistungs-Verhältnis her ein Schmankerl. Es gilt das auch den Konzerten vorangestellte Motto: Wer hier zugreift, wird kaum enttäuscht werden. Er bekommt keinesfalls eine humorlos-trockene, sondern vielmehr eine schmissig-unterhaltsame musikalische Revue (60 Programmstücke sowie 15 Zugaben) quer durch sämtliche Gattungen und Stilrichtungen des 20. Jahrhunderts. Dabei überfordert Metzmacher den Hörer nicht. Auch wenn das eine oder andere (besonders beim ersten Hören) als etwas zu sperrig empfundene Stück individuell vielleicht ausgesessen wird, ein wichtiges Ingredienz bei Musik, die herkömmliche Melodie, kommt insgesamt gewiss nicht zu kurz.

Ingo Metzmacher: „Keine Angst vor neuen Tönen — Eine Reise in die Welt der Musik“

Ingo Metzmacher, dessen Karriere vor rund 20 Jahren beim Ensemble Modern begann, ist inzwischen von Hamburg zu neuen Ufern aufgebrochen. Ab Sommer 2005 ist er als Chefdirigent der Nederlandse Opera in Amsterdam tätig. Wer mehr über die Sichtweise des Dirigenten auf seine große Leidenschaft erfahren möchte, der liegt hier genau richtig. Sein Buch ist, wie der Untertitel bereits andeutet, eine sehr persönliche Reise in die Welt der Musik. Im unterhaltsamen Plauderton führt der Autor den Leser durch den Kosmos der Klänge und damit schwerpunktmäßig in die Moderne und zur Neuen Musik, deren begeisterter Fürsprecher er bekanntermaßen ist. Dabei geht es zweifellos sehr informativ zu, ohne dass der Schreiber den Leser mit unnötigem Fachchinesisch verwirrt und abschreckt.

Die flüssig lesbare Darstellung ist geprägt von autobiografischen Erlebnissen, die für Metzmacher prägend gewesen sind. Dazu zählt die Musik von Gustav Mahler und Charles Ives (siehe auch Klassikwanderung 20). Komponisten, die man (zusammen mit der Wagner) als die Urväter der Neuen Musik ansehen kann. Aber ebenso fruchtbar war die Begegnung mit lebenden, zeitgenössischen Komponisten wie Anton Plate und Karlheinz Stockhausen.

Werke und ihre Schöpfer, die ihn besonders beeindrucken, werden eingehender porträtiert, z. B. Edgar Varèse oder auch Karl Amadeus Hartmann, dessen Sinfonien ihm ihre erste vollständige Einspielung auf Tonträger verdanken. Daneben erfährt man recht Tiefsinniges zu Begriffen wie Farbe, Natur, Geräusch und Stille in der Musik, aber auch das Spielerische in der Interpretation wird immer wieder betont. Dass sich zwischendrin auch einige (nicht abfällige Worte) zur Musik der tönenden Leinwand finden, mag vielleicht manchen Leser in ganz besonderem Maße neugierig auf diese Lektüre zu machen.

Neujahrskonzerte in Venedig und Wien

Im Rahmen der Produktwerbung werden Pendants zu den seit 1939 zum Klassiker avancierten typischen Wiener-Neujahrskonzerten mitunter wie hochwillkommene Ablösungen angestaubter, überholter Tradition beworben. Eine m. E. eher unglückliche Positionierung, die zudem den Intentionen von „Konkurrenten“ wie Ingo Metzmacher (s. o.) wohl kaum wirklich gerecht werden dürfte. Ich halte es vielmehr für angebracht, sowohl die traditionell wienerischen Charme beinhaltenden Neujahrskonzerte als auch die stärker opernah und (verständlich) auf italienisches Repertoire abzielenden Konzerte in Venedig Seite an Seite zu stellen. Dies schließt aber ebenso die frech modernen, eher augenzwinkernd gegen das Traditionelle „aufbegehrenden“ Hamburger (Gegen-)Entwürfe mit ein. Denn sie alle bieten gute Musik, und das ist es doch, worauf es ankommt.

Das weltberühmte Teatro La Fenice trägt seinen auf den legendären Vogel Phönix anspielenden Namen aus gutem Grund. Ist es doch mittlerweile zweimal völlig abgebrannt und aus seiner Asche wiederauferstanden. Von den Qualitäten des zu Recht als eines der schönsten europäischen Opernhäuser geltenden Hauses kann sich der Interessierte jetzt auch anhand dreier DVD-Programme aus dem Hause TDK überzeugen. Beim recht international erscheinenden Programm der Wiedereröffnungsgala, vom 14. Dezember 2003, standen Beethovens Ouvertüre „Die Weihe des Hauses“, Strawinskys Psalmensinfonie, Das Te Deum von Antonio Caldara sowie zwei selten gespielte Gelegenheitswerke von Richard Wagner auf dem Programm, „Kaisermarsch“ und „Huldigungsmarsch“. Bis auf Beethoven sind allerdings die übrigen Komponisten mit Venedig eng verbunden. Am Dirigentenpult stand Riccardo Muti. Die beiden Neujahrskonzerte 2004 und 2005 wurden von Lorin Maazel bzw. Georges Prêtre geleitet und bieten musikalisch einen Mix aus bekannten Orchesterstücken, Ballettmusiken sowie einzelnen Arien aus italienischen Opern. Der unterhaltsame Reigen spannt sich von Rossini und Verdi bis zu Puccini und Respighi. Während die Kamera beim Eröffnungskonzert, abgesehen von einigen Totalen, eingehend das Orchester und die Solisten ins Bild setzt, ist die Bildregie der beiden Neujahrskonzerte abwechslungsreicher geraten. Zum einen gibt es hier verstärkt Gelegenheit, die mit viel Liebe zum Detail restaurierten Interiörs des Teatro La Fenice zu bewundern. Prächtig vergoldete Holzdekorationen, funkelnde Kristall-Lüster, exquisite Marmorfiguren und herrliche Malereien passieren Revue. Und ähnlich wie bei den Pendants aus Wien finden sich auch hier zur Musik dezent eingestreut weitere bildliche Impressionen, dieses Mal (natürlich) aus Venezia. Wie auch in Wien entbietet Maazel auch beim Neujahrskonzert in Venedig mehrsprachige Neujahrsgrüße an sein Publikum, getreu dem Motto „Die Musik ist die einzige Sprache der Welt, die alle Menschen verstehen können“. Und Georges Prêtre bringt sogar ein Stück aus dem Film Der Leopard zum Klingen: das von Nino Rota für die große Ballszene adaptierte Verdi-Original, den Grande Valzer Brillante.

Alle Beteiligten sind sehr gut bei der Sache und ihre sehr überzeugenden Leistungen sorgen beim anwesenden Publikum für spürbar gute Stimmung, partiell auch Begeisterung. Weder beim exquisiten Bild noch beim satten und vollen Ton gibt es etwas zu beanstanden. Letzterer kann sowohl in hochauflösender PCM-Stereo-Qualität (48 kHz, 18 Bit) als auch in den beiden Kino-Surround-Tonformaten Dolby-Digital-AC3 und dts angewählt werden. Die Freunde des Raumklanges bekommen eine gehörige Portion Saalatmosphäre mitgeliefert und Lorin Maazel hält speziell für diese im Neujahrskonzert 2004 auch noch einen kleinen Gag bereit: in Form eines am Saalende, hinter dem Publikum platzierten zweiten Trommlers bei der Ouvertüre zu „Die diebische Elster“.

In dieses harmonische Bild fügen sich die beiden traditionellen Wiener Neujahrskonzerte der Jahre 2002 (Leitung Seiji Ozawa) und 2003 (Leitung Nikolaus Harnoncourt) nahtlos ein. Auch sie bieten jeweils ein aus überwiegend bekannten und beliebten tänzerischen Musikstücken zusammengestelltes Programm, das naturgemäß auf die Mitglieder der Strauß-Familie fokussiert.

Im Gegensatz zu den mit jeweils rund 60 Minuten recht kurzen Konzert-Events in Venedig bieten die beiden Wiener Konzerte je ein rund zweistündiges Programm und führen außerdem noch eine knappe halbe Stunde musikunterlegte Bonusmaterialien im Gepäck, wie „Impressionen von der schönen blauen Donau und Wien“, „St. Petersburger Kirov Ballett im Schloss Eggenberg bei Graz“ oder „Wien 2002 — Kunst & Genuss“.

Auch bei den beiden traditionellen Wiener Neujahrskonzerten dürfen Bild und Ton als vorzüglich bezeichnet werden. Neben PCM-Stereo-Sound sind auch hierbei Surroundsounds in AC3 und dts im Angebot. Beim Bonusmaterial hingegen gibt’s in der Regel „nur“ (tadelloses) PCM-Stereo, wobei das eine oder andere Segment in Sachen Bildqualität nicht ganz mit dem der Konzertprogramme mithalten kann.

Tchaikovsky: 1812

Dieser, das Schlusslicht bildende Titel fällt zwar im strengen Sinne nicht in die Kategorie Neujahrskonzerte. Bei eingehender Betrachtung fällt er aber auch nicht wirklich aus dem Rahmen, bietet wie die anderen hier vorgestellten Alben eher kürzere, eingängige Musikstücke: hier eben von Peter Tschaikowsky und Franz Liszt. Und krachender Effekt ist ja (wenn auch nicht derart brachial) auch in den traditionellen Wiener und den unkonventionellen Hamburger Neujahrskonzerten gelegentlich angesagt.

So mancher HiFi-Freund dürfte die Kombination Telarc-Kunzel-Ouvertüre-1812 nicht unbekannt sein, handelt es sich beim vorliegenden (auch als CD erhältlichen) Album um ein Remake der überaus erfolgreichen 1978er Einspielung(en) — siehe auch Telarc 80041. Seinerzeit diente besonders die Aufnahme der Ouvertüre 1812 als Demonstrations- und Effektstück für hochwertige HiFi-Anlagen. Um der weiterhin voranschreitenden Entwicklung in Sachen digitaler Aufnahme- und Surround-Techniken Rechnung zu tragen, hat sich das Telarc-Team Ende der 90er Jahre daran gemacht, besagte Tschaikowsky-Ouvertüre sowie eine Kollektion eingängiger Füller mit modernster DSD-Klangtechnik neu aufzunehmen.

Im Begleitheft gibt’s eingehendere Informationen (in Teilen auch in Deutsch) zu den gewaltigen Problemen, die abmischungstechnisch gelöst werden mussten, und auch Anleitung zur perfekten Justage der heimischen Anlage. So kommen nun die Fans des heimischen Surround-Klanges vielleicht gerade bei diesem Titel ganz besonders auf ihre Kosten; mögen eventuell diese DVD anschließend als Referenz gar nicht mehr missen. Immerhin erlaubt die Vielseitigkeit dieses doppelseitig bestückten Datenträgers umfangreiche Möglichkeiten, sowohl die eigene Anlage auf Herz und Nieren zu testen als auch die verschiedenen Tonformate eingehend miteinander zu vergleichen. Von hochauflösendem 88,2 kHz, 20-Bit-Surround oder 88,2 kHz, 24-Bit-Stereo, über das Kinoklangsystem dts, bis hin zum datenreduzierten mp-3-Sound ist hier alles zu haben.

Besonders die Ouvertüre 1812 gerät zum eindrucksvoll realisierten Effektstück, das, wie auch die übrigen Kompositionen, tadellos interpretiert wird. Da scheinen die separat aufgenommenen Chöre — der Kinderchor aus Greater Cincinnati und die Sänger aus dem ukrainischen Kiew — in den verschiedenen Surround-Versionen auf der DVD elegant (scheinbar) vor dem etwa im Halbrund vor dem Zuhörer aufgestellten Orchester aufgestellt zu sein und die finalen Kanonenschüsse sowie die Glocken erscheinen sogar im 360 Grad Winkel um den Zuhörer platziert. Alles in allem handelt es sich dabei zweifellos um ein beeindruckendes Hörerlebnis, auch wenn dem Ganzen eine gehörige Portion Spielerei nicht abgesprochen werden kann. Nicht nur die effektheischerische Ouvertüre 1812, ebenso das sehr hübsche und postkartenhafte Capriccio Italien gehören für manche Anhänger der E-Musik eh zum eher Vernachlässigbaren im ŒŒuvre des großen russischen Komponisten. Egal! Abseits unnötig elitärer Debatten dürfte sich auch so mancher ernsthafter Kino- und/oder Freund klassischer Musik doch ein Herz für gelegentlich gut platzierte Effekte und damit auch ein gerütteltes Maß an Spieltrieb bewahrt haben. Dieser Klientel sei das Album nachdrücklich empfohlen.

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