Der belgische Komponist Guy Cuyvers (geb. 1960) hat ein gutes musikalisches Verhältnis zum Meer. In den letzten sieben Jahren wirkte er an insgesamt 4 Filmproduktionen mit maritimen Sujets mit: Auf der einen Seite die zwei eher philosophisch-metaphorisch angelegten Meeres-Kurzfilme Sea Fever (1995) und Sea Power (1999), auf der anderen die beiden als internationale Koproduktionen entstandenen, jeweils 4-teiligen Seefahrts-Dokumentationen Into the Rising Sun (1998) und Setting Sail (2002).
Into the Rising Sun beleuchtet in 4 Folgen den Aufstieg Portugals zur großen Seemacht im 16. Jahrhundert. Im Mittelpunkt stehen die Entdeckung des Seeweges nach Indien und Ostasien und das damit verbundene, für beide Seiten folgenreiche Aufeinandertreffen verschiedener Kulturkreise, wobei sich eine Episode speziell mit der Indienfahrt (1497-1499) des berühmten Vasco da Gama beschäftigt.
Guy Cuyvers’ wundervolle Filmmusik zur Doku-Reihe ist auf einem 60-minütigen Album der belgischen Division von PolyGram Records erhältlich und kann allen Freunden großsymphonischer, üppig orchestrierter und melodisch inspirierter Musik bedenkenlos empfohlen werden. Etwa die Hälfte der auf der CD enthaltenen Musik basiert in der einen oder anderen Form auf dem sehr eingängigen Hauptthema (mehr dazu im nächsten Absatz). In der anderen Hälfte setzt Cuyvers den Schwerpunkt auf nachdenkliche, auf die Vergänglichkeit von Macht und Ruhm verweisende Stimmungen (z. B. in „Desolation“, „Faded Glory“). Warme, in mancher Beziehung „klassisch“ anmutende Streicher-Elegien laden zum Schwelgen ein. Hie und da treten zu den klar im Vordergrund stehenden Streichern die Holzbläser hinzu, und im Sinne des angestrebten weichen, ruhigen Klangbildes bleibt grelles Blech weitgehend ausgespart (lediglich mild tönende Hörner und Posaunen spielen eine gewisse Rolle). Der kurze fünfte Track, „Islands“, fällt mit gekonnt angewandten tonmalerischen Meeresstandards wie Harfenglissandi, mystisch-ominösen Bläserakkorden und gischtartig aufbrausenden Glissandi der Piccolo-Flöten etwas aus dem allgemein ruhigeren Rahmen.
Cuyvers, der sein Kompositions- und Dirigierstudium in Antwerpen und Washington absolviert hat, versteht also sein symphonisches Handwerk. Die wahre Stärke von Into the Rising Sun liegt jedoch im vielseitigen Einsatz von lokalem Klangkolorit. Es ist schon erstaunlich, was der Komponist – parallel zu den Stationen der in der Doku nachvollzogenen Reiseroute – alles an pfiffigen Varianten ein- und desselben schönen Hauptthemas hervorzaubern kann. Ob als auf die bevorstehenden großen Seeabenteuer einstimmende frohgemute Hymne mit gemischtem Chor, als wehmütiges portugiesisches Lied mit Gitarrenbegleitung, ob in den beschwingten lokalen Variationen für Guinea (mit Marimba-Rhythmen und westafrikanischen Gesängen), Mosambik (mit afrikanischem A-Capella-Männerchor und Perkussion), Kenia und Indien (besonders witzig: typisch indische Klänge von Sitar, Flöte und Tabla-Trommeln bilden den Hintergrund, vor dem ein indisch näselnder Sänger über das Hauptthema improvisiert) oder der melancholisch gefärbten China-Variante (mit der chinesischen Fidel, der Er-Hu, im Vordergrund) – das flexible Hauptthema macht dank geschickter Modifikation und einfallsreicher Arrangements stets eine gute Figur, ohne durch das ja quasi „übergestülpte“ Ethnische albern zu wirken.
Ein besonders reizvolles instrumentales Detail des Scores hat mit einem bisher noch nicht angesprochenen wesentlichen Aspekt im Musikerdasein des Belgiers zu tun. Guy Cuyvers ist auch ein vorzüglicher klassisch ausgebildeter Gitarrist. Kostproben seiner Arrangierfähigkeiten für Gitarre und gleichzeitig seines Spiels (er interpretiert die Gitarren-Parts hier nämlich selbst) sind z. B. in den Tracks „Lisbon Sunrise (Portugal Theme)“, „Vasco da Gama Theme“ und „Malindi Bus (Kenya Theme)“ zu hören. Zwei Stücke kommen sogar nur mit der Gitarre allein aus: „First Steps (Spain Theme)“, eine zuerst traurige, dann rassige spanische Variation des Hauptthemas, und „Full Sail Reprise“.
Fazit: Nicht erst die bekannten Beispiele der letzten Jahre (z. B. Benjamin Bartletts Score für Walking with Dinosaurs oder George Fentons Beitrag zu The Blue Planet) haben gezeigt, dass man auf TV-Dokumentationen nicht nur mit offenen Augen, sondern auch mit offenen Ohren zugehen sollte. Guy Cuyvers’ Musik zu Into the Rising Sun ist ein weiteres Beispiel für eine hervorragende orchestrale Musikuntermalung für einen Dokumentarfilm. Das enorm abwechslungsreiche, einfach rundum großen Spaß machende CD-Album ist auch tontechnisch einwandfrei geraten. Im beiliegenden Booklet findet sich neben Fotos und einer Inhaltsangabe ein kurzes Statement vom Komponisten.
Sich jemanden vorzustellen, der an dieser Musik nicht zumindest teilweise Gefallen findet, fällt wahrlich schwer. Viel wahrscheinlicher ist, dass diese im Grunde wohl so ziemlich universell ansprechende CD bei vielen den Player für längere Zeit nicht mehr verlassen wird.