Herbert Kegel – Legende ohne Tabu. Ein Dirigentenleben im 20. Jahrhundert

Geschrieben von:
Michael Boldhaus
Veröffentlicht am:
4. Oktober 2004
Abgelegt unter:
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Kleine Klassikwanderung 15: Avantgardist und Romantiker — der Dirigent Herbert Kegel

In „Herbert Kegel — Legende ohne Tabu“ setzt Helga Kuschmitz einer der großen Dirigentenpersönlichkeiten der DDR ein (sachliches) Denkmal. Die Autorin hat als Rundfunkjournalistin und Produzentin der Radio-Philharmonie Leipzig, des Rundfunkchores und des Rundfunk-Sinfonieorchesters Leipzig mit dem Dirigenten über viele Jahre zusammengearbeitet. Die Anlage des Buches ist originell: Die Kapitelüberschriften spiegeln die wichtigen Stationen dieses Musikerlebens in Form einer imaginären musikalischen „Suite“, sind dabei zum Teil an musikalischen (Satz-)Bezeichnungen orientiert wie Ouvertüre, Intermezzo I, Intermezzo II und Con Energico. Eine mit rund 80 Minuten prallgefüllte CD bietet dazu klingende Raritäten: Mahlers „Das klagende Lied“, vier von Kegel komponierte Klavierlieder und, besonders interessant und bemerkenswert, Auszüge der Proben zu Mahlers 8. Sinfonie. Der Hauptteil der Texte ist zweisprachig (Deutsch und Englisch), allein einige wenige der im Anhang untergebrachten Teile „Konzert- und CD-Kritiken“, „Diskografie“ , „Repertoire“ und der Begleittext zur CD sind ausschließlich in Deutsch.

Kegel wurde am 29. Juli 1920 in Dresden geboren. Seine Lehrer waren Boris Blacher (Komposition) und später auch Paul Dessau sowie Alfred Stier (Chorleitung). Über seine Jahre an der Ostfront im 2. Weltkrieg vermerkte Kegel: „Der Pianist ‚starb‘ vor Kiew durch Granatsplitter, der Cellist bald darauf in den Sümpfen von Witebsk. (Was hatten beide in der Sowjetunion zu suchen?) Der Dirigent lebt!“ Die Kriegserlebnisse mit ihren Gräueln machten ihn nach eigener Aussage hellwach, er versuchte anschließend sein Wissen darüber umzusetzen. So erklärt sich auch seine besondere Affinität zu Werken gegen den Krieg, wie zu Benjamin Brittens berühmtem „War Requiem“, das er durch häufige Aufführungen vergleichbar einem klassischen Standardwerk ins Repertoire der Rundfunk-Sinfoniekonzerte integriert hat. Höchstes Lob erhielt er übrigens durch einen Eintrag Brittens in seiner Partitur, der bei einer Aufführung 1968 in Berlin höchstpersönlich mitwirkte: „Dies ist die eigentliche Uraufführung meines Werkes gewesen.“

Herbert Kegel begann seine Laufbahn in Pirna und Rostock und wirkte anschließend vor allem in Leipzig und Dresden. Über rund drei Jahrzehnte prägte er als Leiter des Rundfunkchores Leipzig und als Chefdirigent des Rundfunk-Sinfonieorchesters Leipzig sowie 10 Jahre als Chefdirigent der Dresdner Philharmonie das Musikleben nachhaltig. Infolge der durch die politischen Umstände eher beschränkten Möglichkeiten, sich im Ausland zu profilieren, kann man (nicht nur) sein Wirken als im Sinne des Erbes der großen Kapellmeistertradition des 19. Jahrhunderts ansehen. Abseits der heutigen Vermarktungsstrategien wirkten die Künstler seinerzeit deutlich regionaler. Damit war langjährige fruchtbare und prägende Zusammenarbeit zwischen Klangkörper und Dirigent die Regel.

Maßgeblich prägte der Dirigent Karl Böhm die späteren Handlungen Herbert Kegels. Böhm schreibt in seiner Autobiografie, dass er (Böhm) bemüht war, in fast jedem Programm eine Novität zu bringen: „Dabei ließ ich mich nicht davon leiten, ob ich selbst hundertprozentig von dem Werk überzeugt war, sondern von dem Gefühl: Hier kündigt sich eine Entwicklung an, die man dem Publikum aufzeigen muss, denn sonst wird es, wenn eines Tages der neue Messias der Musik kommt, auf den wir immer warten, ihn, der es ohnehin schwer genug haben wird, überhaupt nicht verstehen.“ Dies prägte Kegel nachhaltig. Zeitlebens hat er sich intensiv mit den Werken zeitgenössischer Komponisten auseinandergesetzt und viele Ur- und Erstaufführungen geleitet. In seinen Konzerten war ein Verhältnis von etwa 60 % Neue Musik zu 40 % Klassik geradezu üblich: „Neue Hörgewohnheiten zu erziehen braucht’s Gelegenheiten, die man schaffen muss.“ Sein Standpunkt war, dass Musik auch den Verstand erreichen und anregen müsse. Insofern hat er es den Zuhörern nicht immer leicht gemacht und musste sich auch verschiedentlich gegen Widerstände im „Apparat“ durchsetzen. Dabei handelte er ganz im Sinne Hanns Eislers, der einmal sagte, das Publikum dürfe seinen Kopf nicht mit dem Hut an der Garderobe abgeben, wenn es ins Theater geht. Interessant ist, dass Kegel in seiner (politisch-)intellektuellen Überzeugung von Musik als Auseinandersetzung auch vor krass Ungewohntem nicht zurückschreckte: indem er beispielsweise Pendereckis „Threnos“ unmittelbar und ohne Pause — attacca subito — in Beethovens 9. Sinfonie übergehen ließ.

So entstand der besonders mit dem Namen Herbert Kegel verbundene Ruf eines Missionars der Neuen Musik und eines Avantgardisten unter den Dirigenten. Dies wird seiner Künstlerpersönlichkeit aber eben nur zum Teil gerecht: Kegel selbst bezeichnete sich nämlich als jemand, zu dessen Lieblingen Brahms, Bruckner etc. gehören: „ … eigentlich bin ich ein Romantiker.“ Diese Aussage belegen nicht allein die vier Lieder auf der dem Buch beiliegenden CD. Dass der Dirigent Kompositionen des klassischen Repertoires nicht einfach nur als Konzession ans Publikum aufführte, belegen folgende Aussagen: „Beethoven und Schubert wären sicher ohne Haydn und Mozart nicht das, was sie sind. Ebenso wären Schostakowitsch oder Schönberg ohne Mahler nicht denkbar. Das heißt aber doch in letzter Konsequenz, dass wir auch Dessau oder Eisler eben nicht ganz verstehen, wenn wir Mozart, wenn wir Bach nicht kennen. Außerdem ist, und das möchte ich besonders stark unterstreichen, die gedankliche Tiefe, die innere Größe der klassischen Meisterwerke an sich so evident, dass der Dirigent, der sie zu bloßen Mitteln herabwürdigt, auch in seinen Zwecken unglaubwürdig werden würde.“ Bedeutend ist in diesem Zusammenhang auch sein Engagement in den Schülerkonzerten im Rahmen des Jugendklubs des Rundfunk-Sinfonieorchesters Leipzig. Hier bemühte er sich einfallsreich darum, junge Leute für die Welt der klassischen Musik zu begeistern, ohne (!) sie zu überfordern.

Helga Kuschmitz entwirft das Bild eines übergenauen, ja fanatischen Künstlers, mit dem zweifellos nicht immer leicht auszukommen war. Für Kegel war Musik die Weltanschauung an sich, etwas, dem er sich akribisch genau bis ins kleinste Detail verpflichtet fühlte. Für affektierte Selbstdarstellung und Medienrummel war der Dirigent mit den sparsamen Gesten nicht zu haben. In eingehenden Studien ging er jedem noch so geringen Partiturhinweis aus innerer Überzeugung und mit Nachdruck auf den Grund, um dem Werk und den Intentionen des Komponisten gerecht zu werden. Dabei entwickelte er sich zum nachschaffenden Künstler par excellence. Ein Höchstmaß an Klangkultur, Präzision der Wiedergabe und Perfektion im musikalischen Ausdruck waren sein Markenzeichen. Kegels systematische Chor-Erziehung verlangte rhythmische Präzision und vorbildliche Diktion als Voraussetzungen für ausdrucksstarke Gestaltung. Bei den Proben war er ein entsprechend hartnäckiger und unerbittlicher Sachwalter der zu interpretierenden Werke — dabei mitunter auch ungerecht, was die Zusammenarbeit für manchen auch mal zur Qual werden ließ. (Einen Eindruck davon vermitteln die Auszüge aus den Proben zu Mahlers 8. Sinfonie auf der o. g. CD.) Aber viele Beteiligte wären für ihn trotzdem durchs Feuer gegangen, denn der sich nach den vielen Mühen einstellende verdiente Erfolg entschädigte für Vieles, und mitunter gab es vom Taktstockmaestro auch offenes Lob.

Herbert Kegels Interpretationen vermitteln auch von der CD die suggestive Kraft der jeweiligen Komposition. Durch Klarheit in der Stimmführung und dank perfekt ausgeformter Details, die sonst im üppigen klanglichen Dickicht unterzugehen drohen, lässt er ihre Ausdrucksvielfalt spürbar werden. Immer werden eindeutige Akzente gesetzt, wird die Architektur eines Werkes betont. Daraus resultiert eine bemerkenswerte Klarheit, zugleich eine Vitalität und Frische im Ausdruck der Musiken, die sich von so mancher Konkurrenzeinspielung mit auf reinen Schönklang gebürstetem Sound markant abhebt. Aus Mithören wird ein echtes Miterleben von Musik.

Kegel war aber zugleich ein ruhelos unablässig Suchender, einer, der den Erfolg kaum genießen und weder von ihm zehren und/oder wirklich ausruhen und abschalten konnte; er war letztlich ein zu Schwermut und Depressionen neigender Einsamer, der mit sich selbst nicht ins Reine kam. Stilvoll stimmt die Publikation auf den „Epilog“ ein: Zusammen mit einem stimmungsvollen Landschaftsfoto findet sich Hermann Hesses Gedicht „Im Nebel“, welches bei der Gedenkfeier für den 1990 freiwillig aus dem Leben Geschiedenen vorgetragen worden ist.

Ein klares Indiz für Kegels sicheres Gespür für das Angemessene, das Richtige bei der Interpretation einer Musik, sind die unzähligen sehr positiven, mitunter sogar enthusiastischen Konzert- und CD-Kritiken, von denen eine Auswahl im Anhang der Publikation präsentiert wird. Die Autorin stellt auch heraus, dass Herbert Kegel infolge mehrerer Tourneen in den 1980er Jahren in Japan großes Ansehen genießt. Das hier Angerissene und noch so manche weiteren wertvollen Details sind in der sehr zu empfehlenden Veröffentlichung zu finden. Helga Kuschmitz zeichnet den Lebensweg Herbert Kegels kompetent und facettenreich, trotzdem nicht weitschweifig nach. Sie behält das Wesentliche im Blick, entwirft ein sowohl aufschlussreiches als auch — nicht zuletzt dank eingestreuter humoriger Untertöne — flüssig lesbares Portrait eines großen Dirigenten. Ein Lebensbild, das neben dem unleugbar Positiven auch die Eigenheiten des Künstlers nicht ignoriert, ihn also nicht überzogen idealisiert.

Im Band sind eine Reihe dokumentierende Fotos eingestreut. Daneben verleihen ausgewählte Gemälde-Reproduktionen von Künstlern der so genannten „Leipziger Schule“, die in engem Zusammenhang mit der Zeit des Lebens und Wirkens von Herbert Kegel stehen, zusätzlich Atmosphäre. Die im Anhang untergebrachten Programm- und Repertoirelisten und natürlich die sehr ausführliche Diskografie sind wichtige und wertvolle Informationsquellen. Für Kenner und Aufgeschlossene ist der auf der Innenseite des oberen Buchdeckels in einer Kunststofftasche in Form einer randvollen CD platzierte „Untermieter“ ein zweifellos exquisites Bonbon; eines, das auch den Preis der Publikation nochmals in besonders günstigem Licht erscheinen lässt. Das Buch ist im Verlag Klaus-Jürgen Kamprad (www.vkjk.de) erschienen und kann auch direkt bestellt werden (Tel.: 03447-375610, Fax: 03447-375611).

Erschienen
2004
Seiten:
160
Verlag:
Klaus-Jürgen Kamprad
Zusatzinfomationen:
+ Bonus-CD mit Konzertmitschnitten, € 29,80 (D)

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