„Friedrich Wilhelm Murnau — Ein Melancholiker des Films“
Fragt man einen Filmfreund nach Murnau, dürfte dieser kaum mit dem Eintrag in Meyers Konversationslexikon von 1890 antworten: „Flecken und klimatisierter Kurort im bayr. Regierungsbezirk Oberbayern “. Vielmehr dürfte er damit eher den Namen des Regisseurs Friedrich Wilhelm Murnau und unmittelbar dessen wohl berühmtestes Leinwandopus Nosferatu. Eine Symphonie des Grauens (1921) assoziieren — dem Werner Herzog in Nosferatu, Phantom der Nacht (1979) visuell eindeutige Referenz erwies. Aber welche Murnau-Filme sind außerhalb von Cineastenzirkeln außerdem noch geläufig? Der für die Entwicklung der Filmkunst so bedeutende Filmemacher Murnau ist heutzutage weniger bekannt als seine Zeitgenossen Fritz Lang und Ernst Lubitsch. Von den insgesamt 21 Filmen, die dieser deutsche Meisterregisseur in nur rund einer Dekade schuf, sind zurzeit nur 12 verfügbar, die übrigen müssen als verloren gelten.
Anlässlich der Berliner Retrospektive und Ausstellung zur 53. Berlinale erschien im Bertz Verlag „Friedrich Wilhelm Murnau — Ein Melancholiker des Films“. Der Herausgeber, Helmut Prinzler, erläutert in der Einführung die Intention des Buches, das kein Ausstellungskatalog, sondern vielmehr eine Collage zur Frage sein will: „Wie nah kann man Murnau (heute) noch kommen?“
Ausgehend von Thomas Koebners ausführlicher Werkbetrachtung in „Der romantische Preusse“, finden sich Bausteine zu einer Biografie in den Essays von Daniela Sannwald und Janet Bergstroms: „Murnau in Deutschland“ bzw. „Murnau in Amerika“. Anschließend wird zu sämtlichen Filmen des Regisseurs Material vorgestellt, in Form von Dokumenten, zeitgenössischen Kritiken aber auch Betrachtungen aus der Jetztzeit. In Teilen dieser Texte gibt es betont subjektive Momente, die helfen sollen, Brücken zu bilden, um über individuelle Interpretation den Weg zu Murnau auch heutzutage (wieder) zu finden.
Interessanterweise entstanden die in großer Zahl präsentierten Standfotos während der Dreharbeiten (!), anstatt, wie üblich, nachgestellt zu werden. Der Filmfotograf Hans Natge, zeitweise Leiter der „Photographischen Abteilung“ der Ufa, hat diese mit Hilfe der von ihm selbst entwickelten „Reflexkamera“ aufgenommen. Natge stand dafür direkt neben der laufenden Kamera, seine Bilder entstanden also parallel zum Dreh und dokumentieren diesen aus einer gegenüber der Kamera leicht versetzten Perspektive.
Die Publikation beleuchtet auch eine wichtige, aber wenig geläufige Tatsache bei überlieferten Stummfilmen: Es gab (fast) nie wirklich (nur) „ein“ Original! Vielmehr wurden in der Regel aus der Fülle der beim Dreh realisierten Einstellungen zwei Negative montiert. Daraus resultieren nicht ausschließlich in vernachlässigbaren Details unterschiedliche Fassungen.
Diese zunächst überraschend erscheinende Tatsache erklärt sich aus den seinerzeit eklatanten Problemen bei der für das Anfertigen hochwertiger Kopien benötigten Duplikat-Negative (Dup-Negative). Es war daher praktisch unerlässlich, mit doppelten Negativen zu arbeiten, wenn ein Film überregional zum Einsatz kommen sollte: eines davon war für den deutschen Markt und das andere für den Export bestimmt. Bei Der letzte Mann wurde sogar mit drei Negativen gearbeitet, um speziell für den zunehmend lukrativen US-Markt allein ein hochwertiges Negativ zur Verfügung zu haben.
Ein ausführliches Kapitel widmet sich den jeweils erhalten gebliebenen, im Laufe der Jahre durch Umschnitte meist „gemischten“ Fassungen der verfügbaren Filme, und ein Rundgang durch die 2003er Ausstellung sowie ein umfangreicher Datenteil (Filmografie, Bibliografie) nebst Index schließen sich an.
Frieda Grafe schrieb 1974 in ihrem Artikel in der Süddeutsche(n) Zeitung, dass Murnaus Filme eine optimale Reproduktion bräuchten, da sie nicht von Geschichten getragen werden. „Das Luminose der Bilder, die Lichtbestimmung, die Schärfe des geringsten Details sind wichtig, denn das sind seine Ausdrucksmittel. Bei Murnau ist jeder Zentimeter Leinwand aktiv.“ Und der Herausgeber des Murnau-Buches, Helmut Prinzler, ergänzt: „So wehren sich seine Bilder, in denen das Licht von der sonnighellsten Tageshelle bis zur kerzenerleuchteten Nacht alle Abstufungen durchläuft, auch gegen reduzierte Übermittlungen. Sie sind für die Leinwand bestimmt. Nur dort werden sie groß und stark.“
Helmut Prinzlers Publikation ist in der Tat kein „simpler“ Ausstellungskatalog, sondern dürfte vielmehr das derzeit wohl umfassendste Kompendium zu diesem außergewöhnlich bedeutenden Regisseur auf dem Markt sein. Dem aus Bielefeld stammenden, als Friedrich Wilhelm Plumpe geborenen Murnau und seinem Kameramann Karl Freund verdankt das Filmemachen zahllose kreative Neuerungen, wie die damals geradezu revolutionären Bilder der „entfesselten“ Kamera. Derartiges hat dem Film überhaupt erst zur typischen Sprache seiner Bilder verholfen und ist heutzutage ein unverzichtbares alltägliches Rüstzeug, ohne das Kino völlig undenkbar wäre. Um Person und Leben des früh durch einen Autounfall Verstorbenen ranken sich viele Mythen und Legenden und die Rezeption seiner Filme war in den Jahrzehnten nach seinem Tod nicht eindeutig, sondern unterschiedlich. „Friedrich Wilhelm Murnau — Ein Melancholiker des Films“ ist nicht allein etwas für den Murnau-Enthusiasten, sondern auch dem sehr zu empfehlen, der bei diesem wichtigen Regisseur auf (lohnende) Entdeckungsreise gehen möchte.